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Kultur

Unverstellte Sicht

Zum Tod der Fotografin Evelyn Richter

  Unverstellte Sicht | Zum Tod der Fotografin Evelyn Richter

Tief sind Evelyn Richters Fotos im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Sicht auf das unverstellte Leben prägte ihre Lehre. Nun ist die Fotografin im Alter von 91 Jahren in Dresden verstorben.

In der Ausstellung »Kennzeichen L – eine Stadt stellt sich aus«, die vor Kurzem im Stadtgeschichtlichen Museum zu Ende ging, war die Fotografin Evelyn Richter sehr groß vertreten. Eine Ausstellungswand zeigte ihre Aufnahme von zwei Kindern aus dem Jahr 1976, die durch das Musikviertel laufen, jedes schultert eine Fahne. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme entstand nach einem Fußballderby zwischen der BSG Chemie Leipzig und dem 1. FC Lokomotive Leipzig. Statt einer gerahmten Fotografie war in der Ausstellung ein Ausdruck auf der Wand zu sehen, der die Kinder lebensgroß erscheinen ließ. Eine Arbeit wie so viele von Evelyn Richter.

Ihre Fotografien sind heute – zumindest auf dem Gebiet der ehemaligen DDR – noch tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Dazu gehören etwa die Frau auf der DDR-Kunstausstellung mit dem Rücken zum Gemälde »Die Ausgezeichnete« von Wolfgang Mattheuer, die Frauen in der Moskauer Tretjakow-Galerie, die Frau in der Druckerei des Neuen Deutschlands, die Frauen in der Leipziger Kammgarnspinnerei oder die Pförtnerin im Leipziger Neuen Rathaus, hinter der ein Erich-Honecker-Foto hängt und beide schauen aus dem vergitterten Pförtnerfenster heraus. Außerdem der Junge in Pioniereisenbahnuniform in der Dresdner Straßenbahn, der Spreekahn mit dem Namenszug »Traumland«, viele von ihr porträtierten bildenden Künstler, Musiker und Dirigenten und das unfassbar traurige Porträt des Komponisten Fred Malige in einem Leipziger Pflegeheim, das auf der X. DDR-Kunstausstellung zu sehen war.

Evelyn Richter, geboren 1930 in Bautzen, absolvierte eine Ausbildung als Fotografin im Atelier Pan und Christine Walther in Dresden und arbeitete im Anschluss an der Technischen Universität Dresden. Aus der Zeit stammt ein Foto von ihr mit allerlei Gerätschaften am Körper, das sie in der Tradition der Bauhaus-Bühne zeigt. 1953 beginnt sie mit dem Studium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) am Institut für Fotografik bei Johannes Widmann. Zwei Jahre später folgt die Exmatrikulation nach zu spät eingereichten Formalitäten. Richter arbeitete freiberuflich für die Leipziger Messe und verschiedene Theaterhäuser. Sie wird Mitglied der Gruppe »action fotografie«, die zwischen 1956 und 1958 in Leipzig aktiv war. Es entsteht das Buch »Entwicklungswunder Mensch« gemeinsam mit dem Berliner Entwicklungspsychologen Hans-Dieter Schmidt, für das sie fotografiert und die Bildredaktion übernimmt. Ab 1981 lehrt sie als Oberassistentin für Fotografie an der HGB und übernimmt die Fachklasse von Harald Kirschner. Zwei Jahre später erhält sie rückwirkend das Diplom und arbeitet ab 1985 als Dozentin an der HGB. 1992 folgt die Ehrenprofessur, 2001 beendet sie ihre Lehrtätigkeit.

Als sie 1992 den Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie in Köln erhält, fasst Ute Eskildsen, die langjährige Fotokuratorin des Museums Folkwang in Essen, Richters Werk mit den Worten zusammen: »Als einfühlsame Beobachterin gelingen ihr außergewöhnlich eindrucksvolle Menschenbilder. Der durchgängig ernste und konzentrierte Ausdruck ihrer Porträtierten in Verbindung mit sehr klaren Bildkompositionen und dem bewussten Einsatz einer kontrastreichen Schwarz-Weiß-Photographie gibt ihren Bildern eine unverwechselbare Melancholie.«

Über 700 Werke und Unterlagen aus ihrem Leben finden sich in dem 2009 gegründeten Evelyn-Richter-Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der bildenden Künste. Zahlreiche Ausstellungen zeigten ihre Arbeiten nicht nur dort. 2016 folgt eine Ausstellung, die Richters Arbeiten mit den Fotografien von Ursula Arnold und Arno Fischer unter dem Titel »Gehaltene Zeit« verbindet. In der Schau ist der Film »Audienzen – Strategien der Selbstbehauptung« über Richter und Arnold aus dem Jahr 2007 von Tina Bara und Barbara Metselaar zu sehen. In einer Szene betreten die beiden Frauen die Leipziger Hochschule und betrachten dort im Lichthof ausgestellte Fotografien. Ursula Arnold wendet sich zu Evelyn Richter und bemerkt trocken »Gestelltes ist nicht unsere Sache.«

Was Richters Sache war und wie sie die vermittelte – diese Sicht auf das unverstellte Leben, prägten ihre Lehre. Ebenfalls 2016 zeigt die Kunsthalle der Sparkasse »Die Lehre. Arno Fischer, Evelyn Richter«. Zu sehen waren die Arbeiten von Christiane Eisler, die ihr Studium mit einer Fotoserie zu Punks in der DDR abschloss, oder von Markus Hawlik mit seiner Diplomarbeit über Roma und Sinti in der DDR aus dem Jahr 1983. Darüber hinaus wurden Abschlussarbeiten von Bertram Kober, Werner Lieberknecht, Peter Oehlmann, Uwe Walter und Marion Wenzel ausgestellt.

Im vergangenen Jahr erhielt Richter als erste Preisträgerin den Bernd-und-Hilla-Becher-Preis für ihr Lebenswerk, den die Stadt Düsseldorf auslobte. Am vergangenen Sonntag, dem 10. Oktober ist Richter in einem Dresdner Pflegeheim verstorben.


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