anzeige
anzeige

»Dauerhaft etwas umwälzen«

Dichterin Magdaléna Šipka über ihre Schreiberfahrung in Leipzig

  »Dauerhaft etwas umwälzen« | Dichterin Magdaléna Šipka über ihre Schreiberfahrung in Leipzig

Im Oktober ist die tschechische Autorin Magdaléna Šipka zu Gast in Leipzig. Die Dichterin debütierte 2019 mit dem Gedichtband »Město hráze«, der Erfahrungen des gesellschaftlich-politischen Engagements thematisiert. Als Stipendiatin des deutsch-tschechischen Residenzprogramms arbeitet sie an ihrem aktuellen Romanprojekt. Darin erforscht sie die Position von Frauen in Institutionen wie dem Schulwesen oder der Kirche.

kreuzer: Sie sind nun seit drei Wochen in Leipzig. Welche Rolle spielt es für Ihr Schreiben? Schreibt es sich hier anders?
Magdaléna Šipka: Es hatte für mich eine sofortige Wirkung – schon im Zug aus Prag habe ich angefangen zu schreiben und konnte hier einige Figuren weiter entwickeln. Zu Hause wäre ich vermutlich wegen der vielen anderen Aufgaben gar nicht erst dazu gekommen. Dann spielt auch die Sprache eine Rolle. Meine erste Gedichtsammlung habe ich auch in Deutschland fertig geschrieben, und ich glaube, dass eine andere sprachliche Umgebung meine eigene Sprache stark beeinflusst, bereichert und auf eine Art auch präzisiert. Ich schreibe hier anders. Und es ist auch, zumindest im Hinblick auf die tschechische Literaturszene, eine der wenigen Möglichkeiten, während des Schaffensprozesses eine Unterstützung zu bekommen. Außerdem, wenn ich länger von Zuhause weg bin, merken meine Partner, was ich ansonsten alles erledige und müssen es selbst übernehmen, es ist also auch eine Verschnaufpause für mich.

Magdaléna Šipka, Foto: privatkreuzer: Das heißt, die meiste Zeit verbringen Sie hier am Schreibtisch mit ihrem Roman?
Šipka: Im Prinzip schon, ich genieße die große Wohnung und den Raum, den ich habe und könnte fast die ganze Zeit nur schreiben. Ganz am Anfang habe ich den Roman »Die juristische Unschärfe einer Ehe« von Olga Grjasnowa gelesen, in dem sie vielleicht nicht explizit die Polyamorie thematisiert, aber auf jeden Fall ein Beziehungsgeflecht. Dann ist mir noch »Radikale Zärtlichkeit« (von Şeyda Kurt, Anm. d. Red.) in die Hände gekommen. Dadurch ist wieder mein großes Thema in den Vorgrund gerückt – die Beziehungen. Diese Linie war von Anfang an angedacht, bekommt jetzt aber mehr Raum, auch weil ich denke, dass zum Beispiel queere Figuren im kirchlichen Kontext noch ein sehr unerforschtes Thema sind.

kreuzer: Sie sind nicht nur Autorin, sondern auch promovierte Theologin, Pädagogin und politische Aktivistin. Wie beeinflussen sich diese einzelnen Bereiche Ihres Lebens und welche Rolle spielt das für Ihr Schreiben?
Šipka: Ich beschäftige mich derzeit vor allem mit der kritischen Pädagogik, beteilige mich am Projekt »Futuropolis«, in dem es um eine Reform des tschechischen Schulwesens geht. Auch zwei visuelle Künstlerinnen sind dabei, weil die Kunst hier eine wichtige Rolle spielt. Ich kann mich also auch künstlerisch aktiv beteiligen und begreife diese Art Öffnung für ästhetisches Wahrnehmen als einen wichtigen Bestandteil dieser im gewissen Sinne aktivistischen Arbeit. Andererseits empfinde ich die künstlerische Tätigkeit als meinen exklusiven Bereich, individuell und mit sehr introspektivem Zugang. Den versuche ich in anderen Bereichen zu dämpfen, auch in der Wissenschaft. In der Kunst aber kann ich mir alle möglichen Experimente erlauben. Was beides verbindet, ist das Sammeln von Geschichten. Denn auch politisch möchte ich vor allem mehr Empathie in der Gesellschaft erreichen und das geht in meinen Augen meist über Geschichten von konkreten Menschen. Meine andere Arbeit ist oft auch eine Inspirationsquelle für mein Schreiben – und es ist manchmal leichter, darin einen Sinn zu sehen. Das Schreiben führt oft in diverse Sackgassen.

kreuzer: In Bezug auf Ihre erste Gedichtsammlung fielen oft Begriffe wie »engagiert«. Wie stehen Sie persönlich zu dem Begriff des engagierten Schreibens?
Magdaléna Šipka: Es weckt natürlich immer noch die Konnotationen mit dem Regime vor 1989, aber ich muss sagen, dass ich es in diesem Fall sehr positiv wahrgenommen habe. Ich hatte bei dem Band eher Angst, dass mir vorgeworfen wird, ich sei zu wenig feministisch oder mache mich über bestimmte Kontexte lustig, dass die Texte manchmal zu explizit sexuell sind, aber das kam nicht. So habe ich »engagiert« vor allem als Lob empfunden. Natürlich gibt es auch viele negative Konnotationen und jede Kategorisierung, wie zum Beispiel auch die Liebeslyrik, ist immer einschränkend. Aber im tschechischen Kontext, wo gesellschaftliches Engagement oder politischer Aktivismus meist sehr negativ wahrgenommen werden, auch in vielen intellektuellen Kreisen, wird man dadurch gleich zu einer Art Underground. Außerdem: ich möchte auch so schreiben.

kreuzer: Sie haben auch die Gedichte der feministischen Theologin, Dichterin und Sprachwissenschaftlerin Dorothee Sölle ins Tschechische übersetzt. Haben ihre Texte Sie auch als Autorin beeinflusst, kam durch sie auch die Inspiration zu Ihrem aktuellen Romanprojekt?
Šipka: Ich habe gleich am Anfang meines Theologiestudiums zum ersten Mal ein Buch von ihr gelesen – »Phantasie und Gehorsam«, und überspitzt würde ich sagen, dass ich vor allem dank ihr das Studium ausgehalten habe. Sie war für mich sehr inspirierend, ich konnte mich mit vielem identifizieren. Sie prägte zum Beispiel den Begriff der Theopoesie, einer poetischen Sprache in der Theologie, was mir sehr nah ist. So kam ich auch zu ihren Gedichten, deren Sprache mir sehr zugänglich ist, obwohl sie ganz anders schreibt als ich, sehr klar, fast zivil. Bevor ich mit dem Roman angefangen habe, hatte ich mich mit Sölle mehrere Jahre gar nicht mehr beschäftigt, aber indirekt war sie vermutlich da.


kreuzer: Im Exposé zu Ihrem Roman stellen Sie sich auch die Frage, ob unser Trotz immer nur eine Welle im stehenden Wasser der patriarchalen Ordnung bleibt …
Šipka: Der Satz entstand durch meine aktuellen Erfahrungen, vor allem im theologischen Kontext, eine Art Befürchtung, dass alles nur ein Aufbäumen ist, das wieder abflacht, aber gleichzeitig habe ich die Hoffnung, sehe, dass so eine Welle auch dauerhaft etwas umwälzen kann. Und ein Residenzaufenthalt kann dazu beitragen: Man schöpft Energie, bekommt Anregungen, um dann gestärkt zurückzukommen und alles mit viel weniger Skepsis zu sehen.

Normale Tage / Träume. Anna Kow und Magdaléna Šipka lesen Prosa und Lyrik. 27.10., 19 Uhr, Moritzbastei
Mehr Informationen unter http://www.moritzbastei.de

INTERVIEW: MARTINA LISA


Kommentieren


0 Kommentar(e)