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»Die Realität der Oper holte uns ein«

Anna-Sophie Mahler über Leipziger Boheme, Musiktheater und Gentrifizierung

  »Die Realität der Oper holte uns ein« | Anna-Sophie Mahler über Leipziger Boheme, Musiktheater und Gentrifizierung

Anne-Sophie Mahler ist neue Hausregisseurin am Schauspiel Leipzig. Im kreuzer-Interview spricht sie über die Kraft, die Musik jenseits des Sprechtheaters entfalten kann, ihre Recherche zu »La Bohème« in Leipzig und Tod durch Entwurzelung.

kreuzer: Wie sind Sie zum Musiktheater gekommen? Hat Musik stets eine Rolle in Ihrem Leben gespielt?
Anna-Sophie Mahler: Ich habe sehr früh angefangen, Geige zu spielen und meine Eltern sind viel mit mir in die Oper gegangen. Operngesang hat mich schon immer sehr fasziniert. Ich habe immer Musik gemacht:  Kammermusik, Orchester, Wettbewerbe. Ich habe die ganze klassische Musikausbildung hinter mir. Später habe ich mit meiner Geige auch andere Erfahrungen gemacht. Die US-Desert-Rockband Calexico brauchte eine Geige für ihre Europatournee und da haben sie mich angefragt. Dort gab es keine Noten, es war sehr viel freier und offener. Es ging viel übers Hören und selbst Entwickeln. Das war noch mal eine ganz andere Welt.

kreuzer: Musik haben Sie aber dann nicht studiert?
Mahler: Ich wollte weder Geige noch Gesang studieren und bin dann auf den Studiengang Opernregie gestoßen. Das Studium verband für mich alles, was mich damals interessierte: bildende Kunst, Musik, Konzepte kreieren. So bin ich in den Opernbereich gerutscht. Über den Regisseur Christoph Marthaler kam ich dazu, mich im Zwischenbereich von Theater und Musik zu bewegen, und ich fing an, eigene musikalische Abende am Theater zu entwickeln.

kreuzer: Sie denken Ihre Arbeiten von der Musik her?
Mahler: Musik spielt für mich immer eine große Rolle, weil das die Sprache ist, die ich verstehe. Von ihr kommen meistens meine ersten Inspirationen, sie ist der Strukturgeber für die Stückentwicklung.

kreuzer: Musizieren Sie selbst noch?
Mahler: Ich habe so gut wie keine Zeit mehr, die Geige herauszuholen. Aber das hat sich auch abgelöst. Heute mache ich Musik mit meinen Inszenierungen.

kreuzer: Wie gehen Sie musikalisch an Sprechtheater heran?
Mahler: Klassisches Sprechtheater mache ich eher selten. Ich kreiere lieber selber Abende, entweder aus selbst recherchiertem dokumentarischem Material oder Romanen, in denen wenig Szenen, aber viel Musik vorkommt. Damit traten schon Intendanten an mich heran: »Wir wollen diesen Roman gerne machen – fällt dir vielleicht was dazu ein?« Und dann habe ich bei der Musik, die tatsächlich im Roman vorkam, angefangen. Bei »Mittelreich« zum Beispiel, ein Roman von Josef Bierbichler, wurde ganz am Ende das Brahms-Requiem bei einer Beerdigung nur im Nebensatz erwähnt. Aber das war dann die Idee. Das Requiem gab mir am Ende die Struktur des Abends.

Anna Sophie Mahler

Anna Sophie Mahler

kreuzer: So haben Sie auch für Leipzig gearbeitet?
Mahler: Für »La Bohème« wollte ich mit der Autorin Anne Jelena Schulte zusammen in Leipzig recherchieren, was es hier für Künstler oder Kollektive gibt, auf die der Begriff Boheme zutrifft. Je öfter wir die Oper hörten, merkten wir, dass es dabei um Radikalität geht: wirklich bereit zu sein, ohne finanzielle Absicherung für das Gefühl der Freiheit an die Grenze zu gehen, auch wenn das Risiko des eigenen Lebens beinhaltet. Das passiert in der »Bohème«, Mimì wird krank und keiner kann genügend Geld aufbringen, ihr zu helfen, und sie stirbt.

kreuzer: Wo haben Sie gesucht?
Mahler: Ausgangspunkt war die Eisenbahnstraße, wo wir schauten, welche Künstler dort wie leben. Wir haben auch mit Leuten in einem Zentrum für Drogenhilfe gesprochen, die uns auf einen »Micha mit den lila Haaren« hinwiesen, der allerdings auf der Straße lebt. Wir fragten uns zu ihm durch, alle kannten ihn. Hinterm Hauptbahnhof, dort, wo mittlerweile gebaut wird, fanden wir ein Zeltlager, das war wie in einer Zwischenwelt. Micha war nicht dort, aber das Grüppchen von Leuten, die um eine Feuerschale saßen, meinte, wir sollten uns unbedingt zu ihnen setzen; sie seien alle Künstler. Dort wirkte Franz, der sich selbst als Lebenskünstler bezeichnete, als eine Art Hüter des Feuers, der den Menschen dort eine Heimat gab. Für alle bedeutete dieser Ort Freiheit. Aus ihren Utopien und Lebensträumen haben wir im Wesentlichen den Text entwickelt und assoziativ mit Figuren aus der Oper verbunden.

kreuzer: Haben sie noch Kontakt zu den Menschen?
Mahler: Als wir anfingen zu proben, wollten wir Franz die Fassung zeigen. Doch dann gab es den Ort nicht mehr. Das Zeltlager wurde abgerissen. Die Bauarbeiten hatten begonnen. Das war hart, was da passiert ist. Für Franz war dieser Ort sein Leben und er ist vor Ort gestorben. Die Realität der Oper hatte uns eingeholt. So ist es auch ein Abend für ihn geworden. Und eine Erinnerung an die Träume, an den Ort und die Leute, von denen viele Leipziger gar nicht wussten, dass sie dort gelebt haben.

kreuzer: Also haben Sie kein Feedback bekommen aus der Gruppe?
Mahler: Doch. Es ist eine heikle Sache, wenn man mit Texten der Realität spielt. Wir stellten uns immer wieder die Frage: Ist es richtig, dass wir das Material so für uns nutzen oder ist das nicht auch etwas Missbräuchliches? Mit einem der Menschen hatten wir noch Kontakt. Er kam zu unserer Generalprobe und wir haben diese Diskussion mit ihm geführt. Er meinte: »Ihr müsst das komplett andersherum denken. Ich nutze euch dafür, dass ihr meine Geschichte erzählt.« Er sieht uns als Sprachrohr und freut sich, dass wir mit all unseren theatralen Mitteln diese Geschichten so aufführen.

kreuzer: Was reizt Sie am Rechercheformat?
Mahler: Das Forschende ist mir wichtig. Als Künstler neigt man dazu, zu denken, man wüsste schon, wie die Welt ist. Das ändert sich, wenn man herausgeht, Menschen begegnet – ohne die Antwort schon zu wissen. Damit sich auch die eigene Perspektive ändern kann. Damit kann man dann auch die Oper wieder aktualisieren jenseits von modernisierten Bühnenbildern. Denn rein textlich sind die klassischen Opern oft überlebt, aber die Musik und die Grundkonflikte in ihnen sind zeitlos. Und Musik ist in der Oper selbstverständlich, im Theater nicht. Hier kann sie eine ganz andere Kraft entwickeln.

kreuzer: Was bedeutet es, dass Sie jetzt als Hausregisseurin am Schauspiel arbeiten?
Mahler: Ich lebe in Zürich, kann aufgrund familiärer Strukturen leider nicht nach Leipzig ziehen, auch wenn ich die Stadt toll finde. Ich werde mindestens eine Produktion pro Jahr machen, damit eine Regelmäßigkeit entsteht, ich mich vertrauter machen kann mit dem Haus und mit der Stadt vernetzen. In der nächsten Produktion geht es ums Leipziger Wasser und das Projekt »Lebendige Luppe« in Verbindung mit dem mystischen Wasserwesen Undine, welche sich von den Menschen enttäuscht zurückzieht. Zu ihr wurde auch viel Musik geschrieben, unter anderem von Ravel, Debussy und Dvorák. Da sind wir gerade noch am Recherchieren und Entwickeln.

kreuzer: Was antworten Sie auf Kritik, dass Leipzig ein eigenes Opernhaus besitzt und es da nicht noch Musiktheater am Schauspiel braucht?
Mahler: Dass die Musik im Schauspiel ein ganz anderes Ereignis ist als an der Oper. Sie ist nicht selbstverständlich. Und man kann Musik anders hörbar und die Thematik dringlicher machen.

> »La Bohème« 29.10., 19.30 Uhr (Premiere), 22.11., 19.30 Uhr, Schauspiel

INTERVIEW: TOBIAS PRÜWER


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