i i . e d g z p e l - r e z u e r k kreuzer-Sonderheft zum Bücherherbst 2022 Irene Solà im Interview Literarische Stimmen aus der Ukraine 100 Rezensionen u.v.m.

die Zukunft steigt aus einem ukrainischen Keller und blinzelt gegen das Licht Dmitri Strozew (Deutsch von Andreas Weihe) EDITORIAL | LOGBUCH Ab 2. November lieferbar: I E G E Z N A Das neue Buch von BOB DYLAN Liebe Leserinnen und Leser, der Oktober ist da und mit ihm die Frankfurter Buchmesse, und so dürfen wir uns fast sorglos auf den Bücherherbst freuen. Mit »sprühen- der Kreativität« lädt Spanien als Ehrengast nach über dreißig Jahren zu Erkundungen der spanisch(sprachig)en Literatur und Kultur ein, viele Bücher wurden dafür ins Deutsche übersetzt. Eine feine Auswahl bringen wir Ihnen auch in diesem Heft – mitsamt einem Essay sowie dem Interview mit der katalanischen Bestsellerautorin Irene Solà. Zum dritten Mal in Folge erscheint unser logbuch nun auch anlässlich der Herbstmesse (zur Frühjahrsmesse bereits seit 1991), und das gleich an drei Orten: Leipzig, Frankfurt und Dresden. Es scheint also fast, als wäre alles wie immer. Doch während sich hierzu- lande überlegt wird, wie die Neuerscheinungen am besten zu präsentie- ren sind, wird ein paar hundert Kilometer östlich mit aller Kraft ver- sucht, Bücher in Kisten zu packen und an sichere Orte zu bringen. In der Ukraine herrscht nach wie vor ein brutaler Krieg. Ein Krieg, in dem es dem russischen Aggressor explizit auch darum geht, die ukrainische Kultur zu vernichten, darunter auch Bücher, denn sie tragen die Ge- schichte und Geschichten, sind das Gedächtnis der Gesellschaft. Und wie es in dem Liedtext »Діти« (Die Kinder) des diesjährigen, noch künf- tigen Friedenspreisträgers Serhij Zhadan heißt (Herzlichen Glück- wunsch auch an dieser Stelle!), geschrieben im März dieses Jahres für seine Band Жадан і Собаки (Zhadan und Hunde): »З ночі лишається небо темне, іде війна, виростають діти. І любиш їх, тому що крім тебе, їх тут ніхто не буде любити.« »Von der Nacht bleibt ein dunkler Himmel, der Krieg geht weiter, die Kinder wachsen. Und du liebst sie, denn außer dir wird sie hier keiner lieben.« So widmen wir die ersten Seiten und die letzte Seite im logbuch aktu- ellen Stimmen aus der Ukraine – in der Hoffnung, dass dies nicht nur als bloßer symbolischer Akt gelesen wird, sondern als eine klare Botschaft: Wir hören euch zu. Was bleibt zu sagen? Lesen Sie! Lesen Sie auch abseits der ausgetretenen Pfade, hören Sie auch den leisen Stimmen zu. Eine anregende Lektüre wünschen Martina Lisa und Michelle Schreiber logbuch-Redaktion Aus dem Englischen von Conny Lösch. 352 Seiten | 200 Abbildungen | Gebunden € 35,– | 978-3-406-79284-7 «Blowin‘ in the wind», «All along the watchtower», «Knockin‘ on heaven‘s door» – seine Songs besitzen eine poetische Kraft, für die er 2016 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde. Nun legt Bob Dylan ein Buch vor, in dem er nicht auf sein eigenes Werk zu- rückblickt, sondern auf mehr als 60 Songs, die ihn beeindruckt und geprägt haben: eine einzigartige Meisterklasse in der Kunst des Songwritings, die uns von Little Richard zu Frank Sinatra, von Elvis Presley zu The Clash, von Nina Simone zu Elvis Costello führt – gehalten von einem der größten Künstler unserer Zeit. Auch als Hörbuch erhältlich. Gelesen von Wolfgang Niedecken. In Klappkassette. Ungekürzte Lesung. MP3-CD | € 21,95 978-3-406-79388-2 www.kreuzer-leipzig.de 3 33

I E G E Z N A F O T O : J Ü R G E N B A U E R MAGAZIN | LOGBUCH »Caminito schreibt über Geldsorgen, Freundschaften und erste Liebschaften, Streitereien in der Familie, Verrat – schonungslos, ohne billige Dolce-Vita- Klischees. Dieses Buch wird niemanden loslassen.« Der Spiegel »Die italienische Literatur ist wieder da!« Die Welt Giulia Caminito Das Wasser des Sees ist niemals süß Roman Gebunden mit Schutzumschlag 320 Seiten. € 26.– ISBN 978 3 8031 3349 6 I L L U S T R A T O N I : I J U L A K L U G E 14 20 46 SACHBUCH 56 ILLUSTRATION & COMIC Olivett Otele, Michel Leiris/Irene Albers (Hg.), Rafia Zakaria, Till Randolf Amelung, Tine Rahel Völcker, Autorinnenkollektiv mEUterei, Anetta Kahane/Martin Jander (Hg.), Philipp Felsch, Annekathrin Kohout, Daniel Strassberg, Karin Krauthausen/Rebekka Ladewig (Hg.), Nicklas Brendborg, Sabine Rennefanz, Ashley Dawson, Jacques Rancière 53 SPORT Alina Schwermer, Lorenz Pfeiffer/Henry Wahlig (Hg.) 54 KUNST Lukas Cladders/Kristina Kratz- Kesselmeier (Hg.), Angela Dolgner, Stadt Puhlheim/Angelika Schallenberg/Christoph Schreier (Hg.), Tabea Blumenschein/Ulrike Ottinger, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden (Hg.), Claudia Böttcher/Francesca Weil (Hg.) Alexander Braun, Keanu Reeves/Matt Kindt/Ron Garney, Barry Windsor- Smith, Lewis Trondheim, Bastien Vivès/Martin Quenehen, Gunther Buskies/Jonas Engelmann (Hg.), Guillem March, Brian K. Vaughan/Cliff Chiang, Skottie Young/Jorge Corona, Flix 60 KINDER Tom Gauld, Jessica Meserve, Claude K. Dubois, Anne Maar/Kathrin Schärer, Katja Reider/Antje Flad, Katja Spitzer, Bette Westera/Sylvia Weve, Eduard Altarriba, Michael Bright/Jonathan Emmerson, Sonja Eismann/Naira Estevez, Melvin Burgess, Stefanie Höfler, Alexandra Lüthen/Mary Delaney 66 Letzte Seite: Gedicht von Iya Kiva Titelbild: Ignasi Rovir (Foto), Janett Andrejewski (Layout) Bildredaktion: Christiane Gundlach, Tel. (0341) 2 69 80 43 Repro: Chris Schneider, Tel. (0341) 2 69 80 43 Anzeigen: Egbert Pietsch, Tel. (0341) 2 69 80 70 Mölly Follenius, Tel. (0341) 2 69 80 12 Emily Stegmann, Tel. (0341) 2 69 80 11 Marlene Welzel, Tel. (0341) 2 69 80 10 Vertrieb: Mike Gottfried, Tel. (0341) 2 69 80 60 Druck: www.akontext.com, Prag Adresse: kreuzer – Das Leipziger Stadtmagazin, Karl-Liebknecht-Str. 36, 04107 Leipzig, Tel. (0341) 2 69 80-0, Fax (0341) 2 69 80 88, www.kreuzer-leipzig.de kreuzer erscheint monatlich, Einzelpreis 3,90 €, Abo Inland 40 €. Es gelten die Geschäftsbedingungen des kreuzer. Das logbuch-ePaper wird unterstützt von 1000°. www.1000grad.de www.wagenbach.de www.kreuzer-leipzig.de 5 5

F O T O : E R N E S S A R Y K H A L I L MAGAZIN | LOGBUCH Die Leiche musste gewaschen werden. Es war 20 Uhr. Die Großmutter starb plötzlich. Sie ging nicht zu Ärzten. Ungefähr 90 und so kompakt. Sie hat darauf gewartet, dass Tanja aus Kyjiw kommt. Eine ihrer Brüste war völlig verfault. Alle tanzen, tanzen, tanzen Bomben fliegen. Alle lächeln sich an. Jeder scheint im ersten Semester zu sein. Alle suchen nach Drogen. Na klar, alle wollen sich betäuben! Nur in der Ferne machen Explosionen: Pa pa pa (wie mit den Lippen). Eine Luftschutzsirene ertönt. Das bedeutet, dass die Rakete in meine Richtung fliegt. Ich male meine Lippen rot an. Es ist wie im Wald – Mücken fliegen, aber können auch stechen. In der U-Bahn: Schauen Sie genau unter Ihre Füße. Don’t look back and ask why. Es ist wichtiger denn je, vorsichtig zu sein. Nähern Sie sich keinen verdächtigen Objekten und berühren Sie diese nicht. Poster: Meine Waffe ist Arbeit. Ich nehme einen Stift und schreibe. Juli/August 2022. Kyjiw & Volosynka, Ukraine JULIA GONCHAR Kurz vor dem Ausbruch des Krieges war die ukrainische Autorin und Dramaturgin in Ägypten im Urlaub, von dort begann ihre Odyssee durch verschiedene Stationen (und Künstlerinnen- Residenzen) in Deutschland. Im Sommer dieses Jahres fuhr sie für einige Tage in die Ukraine zurück, um ihren Lebenspartner endlich wiederzusehen. Sie hielt für uns ihre un- mittelbaren Erlebnisse fest. ▶ Julia Gonchar ist Autorin und Dramatikerin aus Kyjiw, seit 2012 ist sie Teil einer jungen Drama-Szene und Mitbegründerin des театр драматургів/Theater der Dramaturginnen mit Schwerpunkt zeitgenössisches Drama, das sich nun im Exil befindet. Man versuchte sie zu rufen M an versuchte sie zu rufen, es war gruselig. In den letzten Tagen war sie voller Energie. Der Nachbar sagt: Na, sie hat sich ausgelitten. Ich habe auch ein bisschen geweint. Eine Frau kam und rief: Oh, wie beängstigend. Komm zu mir nicht mal im Traum! Los los Und ich so: Ich helfe. Abwaschen ist ein symbolisches Ritual. Taya, diese Frau, beklagte sich ständig. Und ich denke: Diese alte Frau war so freundlich zu mir, hat mir Socken geschenkt. Ich habe auch ein Gebet gelesen. Meine Oma hat es mir beigebracht, sogar auf Altslawisch. Das Wetter ist ekelhaft, der Wind ist kalt und Tränen mit Schleim sind bald gefroren, alles friert. Wir standen so zehn Minuten lang da. Dies ist ein Stück Feld für den Friedhof. Begraben unter einem vereinfachten Verfahren, weil es einen Krieg gibt. Jeder guckt mich an und bewundert mich: Was für ein Mädchen. Wir haben die Vorhänge zugezogen und Müllsäcke an die Fenster geklebt. Und am Morgen Hämorrhoiden in umgekehrter Richtung. Alle haben das gleiche Problem, Schultern und Rücken sind verspannt. Aus Angst zieht sich der Kopf zurück, die Schultern heben sich. Ich war zu Hause. Ich habe geschlafen. Etwas begann zu klappern. Ich dachte, irgendwelche Idioten werfen explodierende Raketen. Ich drehte mich um und schlief weiter. Ich wurde durch ein Klingeln geweckt. Zweimal. Hallo Tanja, Tanja! Ich bin deine Nachbarin. Wer was? Alles in Ordnung, mach auf. Die Mädchen flohen und ließen die Vibratoren liegen. Was zum Teufel ist passiert? Keine Panik, aber wir werden bombardiert. Ich stehe im Schlafanzug da. Sie sagt, kommt, wir gehen in meine Wohnung und werden entscheiden. Wir saßen den ganzen Tag stumm da. Sammelten Wasser in Flaschen. Es gab so einen Strom von Autos, dass wir verstanden: Es war unmöglich zu fliehen. Ich habe Angst. Die ersten Tage sind die schwersten. Du sitzt und kannst nichts tun. Du kannst nicht essen. Sie werden Kyjiw nicht erreichen. Und hier bombardieren sie Kyjiwer Gebiet. Irgendwie will ich nicht fliehen. Alles ist unklar. Es kann gefährlicher werden. Dann beschloss ich, mit der Nachbarin zu gehen, ich war sehr müde und sehr verängstigt. Wir kommen zum Bahnhof. Da herrscht Panik. Es gibt einen Fahrplan für Züge, einige sind ausgefallen, einige sind rot markiert, wir sind schockiert. Es gibt einen Zug nach Kropyvnytskyi, in die Nachbarregion. Niemand wollte Geld für Tickets haben. www.kreuzer-leipzig.de 7

Tod der Literaturkritik? kreuzer-Autorin Michelle Schreiber beschäftigt sich mit der Rolle von sozialen Medien bei der Literaturvermittlung D ie Literaturkritik und ihre Unantastbar- keit sind schon lange nicht mehr das, MAGAZIN | LOGBUCH Nach wie vor ist der Weg zum Kulturjourna- lismus beschwerlich: Hohes kulturelles Kapital wird vorausgesetzt und ökonomisches sowie s oziales Kapital erleichtern den Weg in die pre- käre Branche erheblich, in der un- oder unter- bezahlte Praktika die Norm sind. Dadurch wird ausgesiebt: Vor allem privilegierte Pers- pektiven bewerten die Gegenwartsliteratur. Soziale Medien erlauben eine Pluralisierung Es sind auch nicht nur die Hobbyleserinnen und -leser, die ihre Meinung auf Instagram & Co. zum Besten geben. Bei der multimedialen Literaturvermittlung ist die Grenze zwischen diesen und Fachleuten aus Buchhandel, Lekto- rat und Literaturkritik fließend, die ebenfalls fleißig Beiträge auf Instagram teilen (zum Beispiel monalalalong, mariachristinapiwo- warski, miriam_zeh). Dabei werden neue, fri- sche Formate genutzt: So veröffentlichte zum was sie einmal waren – zum Glück? Während der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagen furt wurden eifrig Tweets abgesetzt. Auf Twitter kursieren regelmäßig Leseempfeh- lungen, vor einigen Monaten machte bei- spielsweise das sogenannte »Bärensexbuch« die Runde (anlässlich der Neuauflage von Marian Engels »Bär«, empfohlen von Magdarine), das weibliches Begehren thematisiert. Auf Insta- gram verschmelzen Literaturvermittlung, Selbstinszenierung und Werbung mit- einander, auf Youtube gibt es lange Video- Essays und sogar auf Tiktok gehen Kurzvideos mit Lesetipps viral. und Demokratisierung der Stimmen – jeder und jede kann sich mittlerweile öffentlich zu Literatur äußern und dabei gehört werden. Für marginalisierte Perspektiven kann dies Balsam sein, denn Nutzerinnen und Nutzer können sich vernetzen und sich in einer Art offenem Lesekreis wiederfinden. Durch das Interagieren mit Inhalten kann man schnell Unterstützung zeigen oder Informationen verbreiten. Ein Herz auf Instagram, ein Kom- mentar oder Retweet auf Twitter sind eine kleine Form der Solidarität. Die Prekarität der Branche wird nicht ausgehebelt, der Raum für multiperspektivischen Dialog durch die sozialen Medien jedoch geöffnet. Beispiel Literaturkritikerin und Buchpreis- Jurymitglied Miriam Zeh zur Bekanntgabe der Longlist für den Deutschen Buchpreis mit Musik unterlegte Kurzvideos im Tiktok-Stil auf ihrem Instagram-Account und stellte dort nacheinander die Titel vor. Das Onlinefeuille- ton 54books setzt sich gar zum Ziel, Debatten aus Netz und klassischem Feuilleton zu verbin- den und Themen Raum zu geben, »die im Feuilleton keinen Platz mehr finden« – an die- ser Stelle besonders empfehlenswert das Nachwort von Kristine Bilkau zum »Bärensex- buch«. Klassischer Journalismus von Literaturkritike- rinnen wie Iris Radisch, Wiebke Porombka oder Miryam Schellbach ist durch Leseemp- fehlungen auf Twitter oder Instagram nicht zu ersetzen. Spannend ist jedoch die Verände- rung der Kommunikation und die Möglichkeit zur Debatte fernab des Feuilletons. Vor allem die zunehmende öffentliche Diversität in der multimedialen Rezeption von Literatur ist eine Chance für die Literaturkritik. MICHELLE SCHREIBER I L L U S T R A T O N I : I J U L A K L U G E www.kreuzer-leipzig.de 9

MAGAZIN | LOGBUCH F O T O : O S C A R H O L L O W A Y In der Eröffnungsszene des Romans wird der Tod eines jungen Bau- ern beschrieben. Kurz danach hört der Regen auf, kommen die Vögel aus ihren Verstecken zurück, das Leben geht einfach weiter und die Tragödie verliert ihren dramatischen Ton. Diesen Roman so zu schreiben, erlaubte mir, über Erzählstimmen und Perspektiven nachzudenken: Wer hat uns die meisten Geschichten erzählt, die wir gehört haben? Welche Stimmen durften ihre Geschichte erzählen, und welche nicht? Welche Macht haben die, die eine Ge- schichte erzählen, über diejenigen, deren Geschichten erzählt werden? Für mich war dieser Anfang sehr interessant, weil Domènec so etwas wie ein klassischer Held ist: ein junger attraktiver Mann, der Gedichte Welche Stimmen durften ihre Geschichte erzählen, und welche nicht? Welche Macht haben die, die eine Geschichte erzählen, über diejenigen, deren Geschichten erzählt werden? schreibt, ein Vater und Ehemann, intelligent, kreativ. Wir könnten den- ken, dass er der Protagonist wird und dass wir wieder so eine Ge- schichte lesen werden, die wir mit dieser Art männlicher Figuren be- reits kennen. Ich aber töte ihn auf der zweiten Seite, um zu sagen: Wir werden anderen erlauben, die Welt anzusehen, zu erklären und zu kon- struieren. Und so kam es, dass ich nicht nur aus menschlicher Sicht er- zähle und nicht nur aus einer einzigen Perspektive. Ich fand es auch wichtig, mit der Idee zu spielen, dass bereits eine Sekunde nach seinem Tod das Gras weiter wächst, die Rehböcke weiter futtern, die Wolken weiterziehen – das Leben geht weiter und absolut nichts hört auf. Es ist fürchterlich, nicht wahr? Es ist beängstigend, wenn nichts aufhört, aber zum Glück kann nie alles aufhören. Mir war es wichtig, über diese optimistische Grausamkeit des Lebens zu sprechen. Der Roman ist in kurzen Episoden aufgebaut, und auf den ersten Blick gibt es keinen richtigen roten Faden ... Der Roman hat schon einen roten Faden. Er erzählt die Geschichte einer Familie, die zwei gewaltsame Todesfälle in den Bergen erlebt. Domènecs Tod ist einer davon, und er verbindet alle anderen Geschich- ten. Im Schreibprozess habe ich entschieden, dass jede Figur, ob menschlich oder nicht, nur einmal im Verlauf zu Wort kommt. Ich musste beim Aufbau der Kapitel sehr präzise und zugleich sehr spiele- risch vorgehen, damit der Leser diesem roten Faden folgen kann. Beim Schreiben stellte ich mir alle Stimmen als eine Art Berg vor. Unter diesem Stimmenberg fließt die Familiengeschichte. Es gibt einige Kapitel, in denen der Fluss – also die Familiengeschichte – riesengroß ist, und alles, was man sieht, ist ein einziger riesiger Strom, und es gibt andere Kapitel, in denen das Wasser fast versiegt. Aber wenn man ihm lauscht, hört man es weiterrauschen. Und wenn man genau hin- schaut, sieht man, dass der Fluss unterirdisch weiterfließt, bevor er an- derswo wieder an die Oberfläche dringt. Sie kombinieren beim Schreiben nicht nur den erzählenden Stil mit Poesie, sondern auch mit anderen Elementen. Warum ist Ihnen diese Ausdrucksvielfalt wichtig? Der Roman ist eine sehr flexible Gattung, in die vieles passt: Forschen, Fragen, Lernen und so weiter. Auf der anderen Seite bietet er auch Raum für kreative Freiheit, Spiel und Freude beim Schreiben. In mei- www.kreuzer-leipzig.de 11

¿Quieres usted traducirme? – oder: Kommt ein Buch auf den Markt Das Online-Portal New Spanish Books sucht die vielversprechendsten Titel für deutsche Verlage aus MAGAZIN | LOGBUCH S panisch ist der Verbreitung nach die viertgrößte Sprache der Welt (Stand 2019), Amtssprache in 21 Staaten, gesprochen von rund 580 Millionen Menschen, und nimmt man die Zahl derjenigen, die Spa- nisch als Muttersprache haben – 483 Millionen –, rückt das Spanische sogar auf Platz zwei. Doch schaut man auf den deutschen Buchmarkt, ist die Zahl der aus dem Spanischen übersetzten Bücher immer noch vergleichsweise niedrig. Im Jahr 2021 waren es genau 147 Stück, inklusive Reise- und Kochliteratur, was etwa 1,7 Prozent aller ins Deutsche über- setzten Titel entspricht. »Die spanischen Bücher haben Potenzial«, sagt Antonio Martínez Cestero, Leiter der Kulturabteilung beim spanischen Konsulat in Düsseldorf, wo das Portal New Spanish Books angesiedelt ist, »und dieses Potenzial wollen wir nutzen.« Seit 2007 schon existiert das Portal, das sich an deutsche Verlage rich- tet, »als Bezugsquelle«, so Martínez. Ziel sei es, die Verlage mit mög- lichst vielen Informationen auszustatten, ihnen die spanische Literatur schmackhaft zu machen. Spanische Literatur heißt in diesem Zusam- menhang: Bücher von spanischen Verlagen. »Wir sind am spanischen Institut für Außenbeziehungen angesiedelt«, erklärt Martínez, aber dies schließe lateinamerikanische oder auf Katalanisch geschriebene Bücher nicht aus, solange sie bei einem spanischen Verlag veröffentlicht wurden. Und was wird dann konkret für den deutschen Buchmarkt ausgesucht? Um eine Auswahl zu treffen, die auch die deutschen Leserinnen und Leser anspricht, wurde je eine Gruppe aus Expertinnen und Experten für Belletristik sowie für Kinder- und Jugendliteratur zusammenge- stellt. Diesen gehören jährlich wechselnde Mitglieder an, die gemein- sam über die besten spanischen Titel beraten und dabei ihre Expertise aus Übersetzung, Hispanistik, Buchhandel und Verlagslektorat einbrin- gen. Deren Ergebnisse werden in gut strukturierten Portfolios inklusive Gutachten präsentiert. Nicht immer decke sich die Auswahl mit dem, was in der spanischsprachigen Welt gerade in aller Munde ist, ergänzt Martínez, denn es wird versucht, Bücher auszusuchen, die beim deut- schen Publikum eine Chance haben – und da gibt es manchmal sehr große Unterschiede. Der spanische Bürgerkrieg zum Beispiel spiele in der spanischen Literatur nach wie vor eine große Rolle, doch von deut- scher Seite werden Bücher zu diesem Thema meist nicht ausgesucht, hier hieße es, der Drops sei schon gelutscht. Dafür stünden Krimis hoch im Kurs, die wiederum in Spanien eine eher marginale Rolle spielen. Nun: Auch bei Büchern geht es ums Geschäft. MARTINA LISA ▶ www.newspanishbooks.de ANZEIGE „Die Einzigen, die reden dürfen, während ich schreibe.“ Jackie Thomae, Autorin Unabhängig. Unverzichtbar. Unverwechselbar. www.kreuzer-leipzig.de 13

MAGAZIN | LOGBUCH I N E K N E W L E A H C M I : O T O F I E G E Z N A Jaroslav Rudiš Libería Inusual – eine ungewöhnliche Buchhandlung in Granada Mit Illustrationen von Halina Kirschner Kuba. Wie in einem Gedicht treffen dort histo- rische, kulturelle, linguistische und topografi- sche Elemente aufeinander, die sich immer wie- der trennen, vermischen und einordnen, um etwas Neues, noch nie Dagewesenes zu schaf- fen. Die Lyrik dieses Neubarocks um den Ku- baner José Lezama Lima und den Argentinier Néstor Perlonguer teilte zwar die Experimen- tierfreudigkeit mit der Sprache, aber nicht die gelegentliche Didaktik und die Sorge um die Metapher der europäischen Avantgarde. So entstand hier eine komplexere Syntax, die zu einem spannenden Abenteuer des Denkens führte. Längst ist das Gedicht in Hispano- amerika ein Nicht-Ort ohne das lyrische Ich und mit einer Art Mikropolitik, in der unter- schiedliche Aspekte der Sensibilität (gerne mit Pathos) und der menschlichen Beziehungen rhythmisch und manchmal sprühend thema- tisiert werden. Diese Richtung entspricht dem Realen und Wunderbaren der Hispanoamerika- nistik, die jedoch nicht mit einem Magischen Realismus gleichzusetzen sind. Der Stoff der hispanoamerikanischen Literatur ist stark ge- prägt von fantastischen, dokumentarischen und transkulturellen Themen, wie das Werk zeitgenössischer Schriftstellerinnen oder Ly- rikerinnen zeigt, so zum Beispiel Mariana Enríquez’ »Unser Teil der Nacht«, Samanta Schweblins »Hundert Augen«, Jesús Montoyas »Transandínica«, Sara Uribes »Antígona Gon- zález« (siehe Rezension auf S. 25), Maricela Guerreros »Wovon jede Zelle träumt« oder Alía Trabucco Zeráns »Die Differenz«. Spanien nach der Diktatur – Aktuelle Tendenzen 1976, in der Zeit der Transition, also dem Wechsel von Diktatur zu Demokratie, wurde in Spanien der »Premio Cervantes« zum ers- ten Mal verliehen. Benannt nach Miguel de Cervantes gilt dieser Preis als »Literatur- nobelpreis« der spanischsprachigen Welt. Traditionell werden jährlich abwechselnd Auto- rinnen und Autoren aus Spanien oder Hispa- noamerika geehrt, beispielweise Cervantes- Preisträgerinnen sind beispielsweise der spani- sche Romancier Eduardo Mendoza oder der argentinische Lyriker Jorge Luis Borges, deren Werke auch auf Deutsch vorliegen. Die Verwo- benheit der spanisch sprachigen Welt zeigt sich beispielhaft in der Biografie der aktuellen Preisträgerin, der uru guayischen Dichterin Cristina Peri Rossi, die 1972 nach Spanien ge- flohen ist und mittlerweile die spanische Staatsbürgerschaft besitzt. Die Begriffsklärung des Weiblichen und Männlichen in ihrem Werk fügt sich in die Gender- Literatur ein. Aktuell beschäftigen sich Literatur und Lyrik aus Spanien mit Themen ihrer kulturreichen Geschichte, vor allem mit der Verarbeitung des Bürgerkriegs und der Diktatur, oder aber mit der Sichtbarkeit der Frau in der Gesell- schaft. Ebenso sind die sozialen Auswirkungen der neoliberalen Weltordnung ein literarisch produktiver Stoff. Im Licht der Umweltproble- matik erscheinen zahlreiche hybride Werke, die das weite Land oder das ländliche Leben (vida rural) thematisieren, allerdings nicht als einen Rückzugsort im idyllischen Sinne. Auch das Nachdenken über die Entvölkerung der Dörfer und mögliche Auswege aus dieser Situ- ation ist ein sehr spezifisches Motiv der heuti- gen spanischen Literatur. Gute Beispiele sind der Bestseller-Roman von Santiago Lorenzo »Wir alle sind Widerlinge«, der als eine neue Version des Robinson Crusoe bezeichnet wird und im entvölkerten Spanien spielt, so wie der Roman »Der gelbe Regen« von Julio Llamaza- res. Ein weiteres interessantes Phänomen ist das Thematisieren des Buchs als Kulturgut: Noch nie wurde so viel über das Buch oder Buch- handlungen als Objekte oder Orte des Kultur- austauschs debattiert und geschrieben. Gro- ßen Bekanntheitsgrad erreichte Carlos Ruiz Zafón und seine Serie über den »Friedhof der vergessenen Bücher« und die »Buchhandlung Sempere«. Eine Sensation stellt in diesen Ta- gen »Papyrus. Die Geschichte der Welt in Bü- chern« von Irene Vallejo dar, das in knapp drei Jahren bereits die 34. Auflage erreicht hat und mehrfach, darunter mit dem »Premio Nacional de Ensayo«, ausgezeichnet wurde. So gesehen hat das Gastland Spanien, wo der Welttag der Poesie am 21. März und der Welt- tag des Buches am 23. April jeweils mit großer Begeisterung gefeiert werden, dem deutschen Publikum eine neue literarische Vielfalt zu bie- ten, die weit über den spanischen Tellerrand hinausgeht. GERALDINE GUTIÉRREZ-WIENKEN ▶ Geraldine Gutiérrez-Wienken ist eine deutsch-venezolani- sche Dichterin, Herausgeberin und literarische Übersetzerin aus dem Spanischen. Sie lebt und arbeitet in Heidelberg. »Denn die Eisenbahn überwindet alles: Die Alpen, die Grenzen, die Zeiten. Nur nicht den Tod.« Jaroslav Rudiš: Trieste Centrale kreuzer books 2022, 12,80 € Bestellungen bitte direkt: vertrieb@kreuzerbooks.de www.kreuzer-leipzig.de 15 15

JUAN JOSÉ MILLÁS Chris Michalski ist Autor, Englisch- und Spa- nischübersetzer. Er empfiehlt: »Meine Straße war die Welt« von Juan José Millás – »eine ebenso verzaubernde wie verzauberte Reise zurück in eine erinnerte Welt, bei der es vor al- lem um den kindlichen Sinn für die Magie des Lebens geht, der uns, wenn wir Glück haben, nie ganz verloren geht.« Dazu ist das Buch eine Auseinandersetzung mit einer dunklen Phase der nicht so weit entfernten spanischen Ge- schichte, die immer noch Schatten auf die Ge- genwart wirft. CRISTINA MORALES Àxel Sanjosé übersetzt aus dem Katalanischen und Spanischen. An spanischer Literatur empfiehlt er dringend »Leichte Sprache« von Cristina Morales, »wunderbar übersetzt von Friederike von Criegern, weil es ein ganz und gar unbotmäßiger Roman ist«. Darin be- schreibt Morales das Leben von vier Frauen mit einer diagnostizierten geistigen Behinde- rung, die in einer betreuten Wohnung in Bar- celona wohnen und in der Hausbesetzerszene versuchen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. SPANISCHSPRACHIGE LYRIKANTHOLOGIE Für alle Lyriklesenden empfiehlt Àxel Sanjosé z udem die vierbändige Anthologie spanischer und hispanoamerikanischer Lyrik, die soeben bei C.H. Beck erschienen ist. An dem großen Anthologieprojekt, das Gedichte vom Mittelal- ter bis zur Gegenwart versammelt, arbeitete jahrelang ein Team aus renommierten Über- setzerinnen und Übersetzern, Romanistinnen und Romanisten. »Ja, teuer, aber für die Ewig- keit, und man kann auch Einzelbände kaufen.« ▶ Juan José Millás: Meine Straße war die Welt. Aus dem ▶ Cristina Morales: Leichte Sprache. Aus dem Spanischen Johanne Schumm, Horst Weich (Hg.): Anthologie Spanischen von Peter Schwaar. Frankfurt/Main: S. übersetzt von Friederike von Criegern. Berlin: Matthes & spanischer und hispanoamerikanischer Lyrik. Fischer 2009. 205 S., 19,95 € (antiquarisch erhältlich) Seitz 2022. 409 S., 22 € Zweisprachig in vier Bänden. München: C.H. Beck 2022. 2.539 S., 148 € (im Schuber, einzeln: 45 € pro Band) ▶ Martin von Koppenfels, Susanne Lange, Petra Strien, LEGNA RODRÍGUEZ IGLESIAS Dazu empfiehlt Michalski unmissverständ- lich und nachdrücklich: »Mein kahlköpfiger Schatz und ich kriegen ein Kind« von Legna Rodríguez Iglesias, »wunderbar« aus dem kubanischen Spanisch von Johanna Schwering übersetzt. Weil das Buch »wie ein Palast voller Trauben, Kinder und Jahre« ist. Und auf skur- rile und durchdringende Weise von den Tragö- dien und der Größe des Kinderschaffens und -großziehens erzählt. ▶ Legna Rodríguez Iglesias: Mein kahlköpfiger Schatz und ich kriegen ein Kind. Aus dem kubanischen Spanisch von Johanna Schwering. Gedichte, zweisprachig. Heidelberg: Hochroth 2020. 46 S., 8 € ANZEIGE Kulturerbe Drucktechnik Erleben druckkunst-museum.de Museum für Druckkunst Leipzig | Nonnenstraße 38 | 04229 Leipzig Tel. +49 341 / 2 31 62 0 | info@druckkunst-museum.de Mo — Fr 10.00 — 17.00 | So 11.00 — 17.00 | Sa geschlossen I L L U S T R A T O N I : I J U L A K L U G E www.kreuzer-leipzig.de 17

MAGAZIN | LOGBUCH RUNDE 5 — NICHT IMMER GESUNDE UMWELTEINFLÜSSE Alle Geschichten in Leipzig beginnen am Haupt- bahnhof, behauptet ein Leipzig-Führer. Das trifft auf »Junge Hunde« zu, den impressionis- tischen Debütroman von Martina Hefter, der Ende der 1990er Jahre spielt. Am Taxistand ge- landet, erwartet ihre Protagonistin eine Stadt wie Berlin, nur ohne U-Bahn. Ein Irrtum, wie eine ziellose Nachtfahrt durch Leipziger Außenbe- zirke erweist. Die herbstliche Luft riecht nach Kohle und verbranntem Gummi, im Kanal treibt ein toter Pitbull, viele Häuser sind Ruinen, alles erscheint gespenstisch unbelebt. Im In- nern des Taxis ein Fahrer mit Straßenallergie und eine Tänzerin, der beim Tanzen schlecht wird. Der Neu-Leipzigerin, aus dem Allgäu stammend, erscheint die frostige, düstere Stadt wie eine Vorstellung von der DDR 1980; dem Leser dämmert, dass es ein massives Umwelt- problem gibt. In einem äußerst scheuen Flirt finden Taxifahrer und Ex-Tänzerin, die sich aus den Augen verloren hatten, beim Kraulen von Hundewelpen und in der Schwimmhalle ein wenig näher zueinander. An der Peripherie der Stadt lebend, die eingeübten Schritte der Er- folgreichen beobachtend, können weder Vinz noch Helen empfinden, was ein spanischer Tourist im Waschsalon ausruft: »Kennst du die Nikolai kirche, die Thomaskirche, das Schiller- haus? Leipzig ist wunderschön!« Ungefähr zur gleichen Zeit, um 2000, ist ein Roman angesiedelt, der die krasse Vergiftung am Rand einer (diesmal westlichen) Großstadt noch direkter schildert: »Streulicht« von Deniz Ohde. Wenn es von Schulkindern heißt »Wir übten den Chemieunfall«, dann ist damit die jederzeit mögliche Apokalypse imaginiert, aber nicht der reale alltägliche Gestank und Lärm, denen die Arbeiterfamilien in Frankfurt-Sindlingen schutzlos ausgeliefert sind. Der riesige Indus- triepark Höchst, die Müllverbrennungsanlage, die Schadstoffe im Wasser des Mains, Kochsalz und Kohlenstaub in der Atemluft: Das ist die triste Nachbarschaft der Ich-Erzählerin, die in prekären Verhältnissen aufwächst, einen Messie- Vater mit Alkoholproblemen hat und wegen ihrer türkischen Mutter Diskriminierung erfährt. Immer wieder scheint ihr Wunsch, über Bildung aus dem Elend herauszukommen und nicht als Putzfrau zu enden, an feindseligen Instanzen wie dem Gymnasiallehrer zu scheitern, der sie »auszusieben« droht. Die überwältigende poeti- sche Kraft von »Streulicht« jedoch erwächst nicht aus der gesellschaftspolitischen Brisanz, sondern aus der monströsen Zerstörungspotenz des Industrieparks, der Arbeit gibt und Leben raubt. RUNDE 6 — DIE LIEBE ZU DEN GROSSEN MÄNNERN Aus kaum begreiflichen Gründen benutzt wird das Wort »Malerfürst«, das so tut, als gäbe es Herrscher in der Kunst, die über die Unterta- nen ihres Sprengels gebieten. Aber man be- gleite einmal den Förderverein des Frankfurter Museums Wendevogel auf seiner Wallfahrt zu KD Pratz! Der ist Schlossherr im nahen Rheingau und zunächst bereit, die Huldigung und das kunst beflissene Gelaber dieser Meute zu ertragen. Immerhin steht die Grün- dung eines Museums allein für sein Werk im Raum: »KD Pratz war weltberühmt und produzierte dennoch hier, in der Region Rhein-Main«, er sei ein Symbol für alles und überall präsent, berichtet die saftige Satire »Ein Mann der Kunst« von Kristof Magnusson. Um KD Pratz zu erschaffen, hat der Autor deut- sche, nun ja, Malerfürsten der Gegenwart amalgamiert, aber lustigerweise entpuppt sich dieser Meister als schnöder Grantler ohne magische Aura. Plausibel verflucht KD Pratz den »Wochenendspaß« der gutbetuchten Kunsttouristen aus Frankfurt, dieser »gar nicht so großen Stadt, die man trotzdem nie richtig hinter sich ließ, egal in welche Rich- tung man fuhr«. Das bezieht der Erzähler, Sohn der größten KD-Pratz-Anhängerin über- haupt, auf die stark z ersiedelte Umgegend, nicht auf Frankfurts Charisma. Die heimlichen, die eigentlichen Fürsten von Leipzig waren um 1960 die verehrten Professo- ren, die Koryphäen der Universität, der ganze Stolz der Stadt – so steht’s in dem Roman »Ver- wirrnis« von Christoph Hein. Ein Germanist, den die Studenten nur ehrfürchtig Goethe- höchstselbst nennen, begeistert in seinen Vorlesungen mit einem »sprudelnden Rede- schwall« und »geist vollen, mäandernden Sät- zen« die Freunde der Literatur. Es ist, längst erraten, der große Hans Mayer, dem ein dank- bares Porträt und die spannendste Nebenrolle zugedacht ist. Zeitgeschichte zu erzählen, das geht am besten mit den Superstars von da- mals. Und der hinreißende Goethe-Mayer (mo- kant, arrogant, aufbrausend, unbestechlich) kontert die blasse Zeichnung der mustergülti- gen Hauptfigur, seines Protegés Friedeward, dem er in Wien, lange nach seiner intriganten Vertreibung aus der DDR, den Hans anbieten wird. Leipzig selbst bekommt mit Hörsaal 40, Moritzbastei und Coffe Baum einige liebens- würdige Schnappschüsse, aber am Ende zählt leider: Dass Homosexuelle auch im akademi- schen Milieu der Messestadt versuchen muss- ten, unsichtbar zu bleiben, und die Komödie einer Scheinehe spielten. Sind wir nun schlauer, wie die Buchstadt- Battle steht? Leipzig punktete mit Geschichte, Frankfurt mit Gegenwärtigkeit. Lesenswert waren alle sechs. Also auf zur Verlängerung im nächsten April. SVEN CREFELD BUCHSTADT-BATTLE – RUND 1 BIS 3 IM FRÜHJAHRS-LOGBUCH 2022 ●Runde 1● Mietwohnung oder Eigenheim? Daniela Krien »Die Liebe im Ernstfall« gegen Silke Scheuermann »Die Häuser der anderen« ●Runde 2● Studieren oder inhalieren? Andreas Maier »Die Universität« gegen Bettina Wilpert »Nichts, was uns passiert« ●Runde 3● Schlauer Kopf oder flinkes Bein? Erich Loest »Der elfte Mann« gegen Eckhard Henscheid »Hymne auf Bum Kun Cha« www.kreuzer-leipzig.de 19

MAGAZIN | LOGBUCH F O T O : I I C H R S T A N E G U N D L A C H Sanfter Wolf und blaue Bohnen Comiczeichnerin Josephine Mark räumte mit feinsinnigem Humor gleich zwei renommierte Preise ab. Ein Porträt R estauratorin wollte ich ursprünglich wer- den.« Gut, dass Josephine Mark doch einen anderen Weg einschlug. Sonst hätte die Noch-Leipzigerin nicht nur zwei Comic-Preise verpasst. Viel schlimmer: Der Welt wären zwei großartige Geschichten entgangen, die auf je ihre Weise melancholische Poesie mit viel Hu- mor verbinden. Etwa mit »Murr«, einem mürri- schen Eierkopf-Cowboy, der schon als Kind in eine Pfanne blauer Bohnen gefallen ist. Die stilechte Westernparodie legte sie im letzten Herbst vor: Sie brachte Mark auf dem Comic- Salon Erlangen den ICOM-Preis für die beste deutsche Independent-Veröffentlichung ein. Ihre in diesem Jahr erschienene Geschichte »Trip mit Tropf« wurde ebenfalls in Erlangen mit dem Max-und-Moritz-Preis, der renom- miertesten deutschen Comic-Auszeichnung im Bereich Jugendcomic, geehrt. Josephine Mark hat offensichtlich einiges richtig gemacht, als sie auf die Ausbildung im Bereich Denk- malpflege verzichtete. Ihre Geburtsstadt Naumburg an der Saale mit dem historischen Kern habe sie geprägt, sagt Mark – Jahrgang 1981 – im Gespräch mit dem logbuch. Die lange Ausbildungszeit sowie die unsichere Jobperspektive hätten sie aber ab- geschreckt. Beim Studium der Kultur- und Medienpädagogik in Merseburg fand sie schließlich zur Illustration, etwas später zum grafischen Erzählen. Ein studienbegleitendes Praktikum führte sie zum Leipziger Studen- tenclub Moritzbastei, für den sie lange als Gra- fikerin tätig war. In dieser Zeit entstanden ihre ersten Cartoons. »Ich betreute die Disco-Pla- kate. Da habe ich Tiere drauf gemalt, die umeinander werben, jaulende Katzen zum Bei- spiel. In Discos geht’s darum, jemanden kennenzulernen, also zeichnete ich Tiere im Balzmodus.« Und dann wollte sie mehr. Als Kind las sie gern Mosaik und Micky Maus, lieber noch erzählte sie selbst. »Ich schrieb immer schon Geschichten, schenkte meiner Schwester Geschichten zum Geburtstag oder einen Comic auf einem A4-Blatt. Irgendwann stellte ich fest, dass ich wieder erzählen möchte.« Ein Seminar bei den Zeichnern Flix und Birgit Weyhe 2017 war Marks Startpunkt für ihre Comic-Karriere. Sie machte sich selbst- ständig und steckte alle Zeit, die ihr neben ihrer Brottätigkeit als Illustratorin und Grafik- designerin blieb, in »Murr«. Als der fertig war, suchte sie einen Verlag und stieß mit »Trip mit Tropf« das nächste Buchprojekt an, das wie der Vorgänger ein trauriges Thema humor- voll behandelt. Dort rettet ein Kaninchen einen Wolf zufällig vorm Jäger. Daraufhin fühlt sich dieser fortan verpflichtet, dem Langohr zu helfen – Wolf- kodex und so. Das ist gar nicht so einfach, denn das Kaninchen hat Krebs, schlägt sich mit medizinischem Tropf und langer Medikamen- tenliste herum. Der Wolf wird zum Samariter. »Mir liegen existenzialistische Themen«, ek- klärt Mark. »Ich laufe die Hälfte des Tages nachdenklich-traurig durch die Gegend, kann aber trotzdem über Dinge und mich selbst lachen.« Außerdem wolle sie nicht nur etwas Oberflächliches schaffen, wenn sie schon zwei Jahre an einem Comic sitzt. Sie mag unerwart- bare Charaktere. Cowboy Murr entpuppt sich jenseits des Klischees als zartbesaitet. Der schlaksige und kalauernde Wolf habe eindeu- tig männliche Charakterzüge, das Kaninchen könne dafür jedes Geschlecht vertreten. »Ich wurde mal angesprochen, dass ich eine sehr unweibliche Erzählweise hätte. Das war als Lob gemeint. Es freut mich, irritiert mich aber auch, und es irritiert mich, dass es mich freut.« Der nächste Comic, ein Krimi, ist in Arbeit. »Das Skript ist fertig, ich muss es nur noch zeichnen«, sagt sie, das »nur« betonend. »In keiner Kunstform ist man so einsam und braucht so viel Wissen und Können. Man hat so viel Zeit, darüber nachzudenken, wie schlecht man eigentlich ist.« Wirklich Grund zum Zweifeln hat sie nicht. TOBIAS PRÜWER ▶ Josephine Mark: Murr. Stuttgart: Zwerchfell 2021. 118 S., 15 € ▶ Josephine Mark: Trip mit Tropf. Hamburg: Kibitz 2022. 182 S., 20 € www.kreuzer-leipzig.de 21

BELLETRISTIK | LOGBUCH Vom (Nicht-)Haben Das spanische Sensationsdebüt »Die Wunder« beleuchtet die Auswirkungen von Geld auf Frauenleben G roßmutter María und Enkelin Alicia schuften beide in prekarisierten Jobs und kämpfen um ein Stück Freiheit in ihrem fremdbestimmten Alltag: María, indem sie sich weigert, ihren Lebensgefährten zu heira- ten und zu ihm zu ziehen; Alicia, indem sie keine Kinder bekommt und ihre One-Night- Stands auch nach der Heirat fortsetzt. Doch während María zeitlebens arm war, wurde Alicia in eine neureiche Familie hineingebo- ren, und während María sich voller Taten- drang für die Rechte der Frauen ihres Viertels engagiert, will Alicia nichts anderes, als sich ablenken vom Verlust ihres einstigen Wohl- stands, vor allem von den nächtlichen Alb- träumen vom Vater, dessen Selbstmord den Ruin der Familie bedeutete. In sich abwechselnden Episoden und mit sprachlicher und erzählerischer Virtuosität beleuchtet Medel, geboren 1985 in Córdoba und bisher als Lyrikerin, Essayistin und Verle- gerin bekannt, die Verhältnisse im Spanien der letzten fünfzig Jahre, die dazu führten, dass Großmutter und Enkelin einander nie begeg- net sind – bis heute. Vielleicht sind die Sympa- thien der Autorin ein wenig zu klar verteilt: Während Alicia größtenteils dünkelhaft und gefühlskalt erscheint, ist die bescheidene María auch dann noch Sympathieträgerin, wenn sie ihr Baby – Alicias Mutter – bei den Geschwistern zurücklässt, um nie zurückzu- kehren. An María zeigt der Roman anschaulich, wie Armut und Tradition sich auf das Leben von Frauen auswirken und sie zu folgenschwe- ren Schritten drängen; Alicias Verhalten ist dagegen nicht immer nachvollziehbar. Zugleich unterstützt gerade dies aber auch die große inhaltliche Fülle des Romans. Eine Geschichte über Klasse und Geschlecht, über Arbeit und Geld, die fesselt und nachhallt. NORA DEETJE LEGGEMANN »Nie habe ich damals Frauen wie uns getroffen, das wollte ich sagen. Was meinst du, María? Arme Frauen. Selbst fürs Protestieren braucht man Geld.« ▶ Elena Medel: Die Wunder. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berlin: Suhrkamp 2022. 250 S., 23 € ANZEIGE Endlich: Der Roman Die Hauptstadt erfährt seine Fortsetzung Zwei »Blutsbrüder« aus dem polnischen Untergrund werden nach dem Untergang des kommunistischen Regimes zu Feinden. Sie machen Karriere in der Poli tik, Jahre später kommt es zum Show down von europäischen Dimensionen auf einem albanischen Kreuzfahrtschiff. Roman. Gebunden. 653 Seiten. € 28,– Erscheint am 5. Oktober www.kreuzer-leipzig.de www.kreuzer-leipzig.de Suhrkamp 23

BÜCHER | LOGBUCH Die untoten Toten Mexikos I E G E Z N A Sara Uribe sucht mit ihrer »Antígona« nach ihrem verschollenen Bruder E ine schreckliche Wahrheit lässt die antike Antigone von Sophokles, die ihren toten Bruder gegen das Ver- bot des Königs begraben will, in Lateinamerika zu immer neuen literarischen Figuren mutieren: Antígona Vélez, Antígona Furiosa, Antígona González … Das Verschwin- den von Menschen ist an der Tagesordnung. Uribes »Für mich ist einer, der ein ganzes Volk zu führen hat und nicht an seinen besten Entschlüssen festhält, son- dern ängstlich schweigt, ein Feigling, und so dachte ich schon immer.« mehrfach aufgeführtes Bühnen stück von 2012 er- scheint nun auf Deutsch. Wo die Gewalt unkontrolliert wütet, lässt sie nicht nur Körper verschwinden, sondern reißt irreparable Löcher ins Geflecht des Lebens: »Sie sagen, wo es kein Opfer gibt, gibt es kein Verbrechen. Ich sage i hnen, wo es keinen Körper gibt, gibt es keine Ruhe. Es wird keinen Frieden geben für dieses Herz. Für nieman- den.« Eingestreut bringen die Verweise auf die lateinameri- kanischen Antígonas und die nüchternen Zeitungsmeldun- gen von aufgefundenen Lei- chen die persönliche Verzweif- lung umso drastischer zur Geltung: »Das ist alles, worauf ich noch hoffe. Eine Leiche. Ein Grab. Ein Ort des Friedens.« Dass Gerechtigkeit kaum zu wollen ist, holt ein grausiger Kehrreim in die Sprache selbst hinein: »Es sind immer die Gleichen.« Dagegen behaupten die Menschen aus nackter Angst Leben, um gefährliches Handeln zu sus- pendieren: »Sie schwören, dass du noch lebst, weil die Angst sie blind macht.« Aber wie nicht »etwas Unmögli- ches« wollen: »dass der Krieg endlich aufhört«? Die brutale Kartellwirtschaft des Drogengeschäfts ist das unverstellte Gesicht das Kapitalismus. Man ist versucht, den Text als eindringlichen Appell – »Findest du es nor- mal, dass ein ganzer Reisebus verschwindet und dass die Passagiere tot in Gräben gefunden werden?« – an die rei- chen Länder zu lesen: Beendet diesen grausamen Krieg, indem ihr die Drogen aus der Illegalität holt. FABIAN SCHWITTER ▶ Sara Uribe: Antígona González. Aus dem mexikanischen Spanisch von Chris Michalski. Leipzig: Hochroth 2022. 56 S., 8 € Gegenwehr José Ovejero erzählt in »Aufstand« vom Preis für einen Platz in der Welt A itor ist ambitionsloser Redakteur eines Madrider Radiosenders, Mitte vierzig, ge- schieden – und einer, der Ungerechtigkeiten ohne Gegenwehr hinnimmt. Auf der Arbeit passt er sich an, privat gilt seine ganze Liebe der rebellischen Tochter Ana. Die ist siebzehn und vor einigen Wochen aus der elterlichen Wohnung abgehauen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Außenseitern lebt sie nun in einem besetzten Haus. Der zunehmend be- sorgte Aitor beauftragt schließlich mit seiner Ex-Frau Isabel einen Detektiv, um herauszu- finden, wo Ana steckt. Hinter Isabels Rücken will er auf diesem Wege auch erfahren, ob Ana in illegale Aktionen verwickelt ist. Tatsächlich verfolgen die Ausstei- ger einen Plan. Erst gegen Ende von José Ovejeros Roman »Aufstand« spitzen sich die Ereignisse zu, werden festgefügte Le- bensentwürfe durchei- nandergewirbelt. Davor schildert der Autor seine Figuren und ihre Motivation ausführ- lich. Trotzdem kommt keine Langeweile auf, denn Ovejero erzählt die Geschichte aus mehreren Perspektiven und findet dabei den zur jeweiligen Figur passenden Ton. Wie viel Anpassung ist nötig, wie viel Verweige- rung möglich in einer ungerechten Welt? Wie findet man seinen Platz darin und welchen Preis ist dieser wert? »Der Konf likt ist da, versteckt, verborgen, mundtot gemacht, und wir werden ihn ans Licht bringen und nicht die Revolution, ein Wort voller belasteter Ge- schichte, sondern den globalen Aufstand begin- nen.« Ovejero zeigt die Fragilität von Beziehungen, die sich immer nur an wenigen Schnittstellen berühren, die Unmöglichkeit, den anderen zu verstehen, die ständige Bedrohung des Lebens in einem System, das auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung beruht. Dennoch stimmt die Lek- türe nicht depressiv, vielmehr färbt die rebelli- sche Haltung Anas auf die Leserin ab. Und am Ende findet sogar Aitor zu seiner Form der Auflehnung. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ José Ovejero: Aufstand. Aus dem Spanischen von Patricia Hansel. Hamburg: Edition Nautilus 2022. 328 S., 26 € www.kreuzer-leipzig.de 25

Heiter scheitern »Ein Mädchen namens Wien« erzählt leichtfüßig eine Lebensgeschichte D afür, dass es ein ganzes Frauenleben er- zählt, ist das Buch »Ein Mädchen namens Wien« überraschend kurz. Nicht mal hundert Seiten braucht die libanesische Autorin Sahar Mandûr dafür, und das ist nicht die einzige Überraschung dieses kunstvoll gestalteten Bu- ches. Die Ich-Person heißt Wien und der erste Satz, den sie im Leben hört, lautet: »Verflucht der Mann, dem Töchter geboren werden.« Mit viel Witz und vor allem sehr viel Heiterkeit er- zählt diese Tochter aus Beirut, wie es danach weiterging. Wie sie gegen den Willen der El- tern Philosophie studiert und dann auch noch abbricht. Wie sie zwangsverheiratet, aber nicht schwanger wird. Wie sich ihr Ehemann wegen seiner Unfruchtbarkeit selbst umbringt. Wie sie als Witwe den Platz in ihrem Leben sucht – und sowohl im eigentlich geliebten Nachtleben als auch in einer frommen Frauen- gruppe und in den Küchen befreundeter Haus- frauen nicht findet. Wie sie ihre Karriere als Fernsehansagerin aufgibt. Sie erzählt vor allem vom Probieren und Scheitern und dennoch ist »Ein Mädchen namens Wien« alles andere als deprimierend. Es sind eher spöttische Betrach- tungen des Alltags, der Gesellschaft, der Men- schen aus der Sicht einer Frau, die vielen Er- wartungen nicht entspricht. Sahar Mandûr, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Amnesty International für den Libanon arbei- tet, erzählt ohne Gefühlsduselei, aber mit viel BELLETRISTIK | LOGBUCH »Eure Kinder gehören nicht euch, sie gehören dem Leben.« Gefühl diese wunder- same Biografie. Ein nicht nur kurzes, sondern vor allem sehr kurzweiliges Buch! JULIANE STREICH ▶ Sahar Mandûr: Ein Mädchen namens Wien. Ein Frauenleben. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Frankfurt/ Main: Edition Faust 2022. 96 S., 20 € Das Jahrhundert des Lichts Angela Steidele erkundet die Versprechen der Aufklärung im Leipzig des 18. Jahrhunderts D ie Aufklärung ist mehr als nur eine Epoche in der europäi- schen Geschichte, sie ist ein nie abgeschlossener Prozess«, sagt Angela Steidele über ihren ak- tuellen Roman, der zwar im 18. Jahrhundert spielt, aber dennoch von unserer Gegenwart han- delt. Steidele ist be- kannt für ihre histori- schen Liebesgeschichten, in denen sie auf der Grundlage minutiös re- cherchierter Quellen die Möglichkeiten der gleichgeschlechtlichen Liebe sowie die Freiräume ihrer weiblichen Fi- guren erforscht. Nun legt sie mit »Aufklärung« einen fulminanten, leichtfüßigen wie gewichti- gen, aber vor allem »gewitzten« Roman vor. »Es war doch alles ganz anders!« Dorothea, die älteste Tochter Johann Sebastian Bachs, ist empört über die von Professor Gottsched ver- fasste Biografie seiner verstorbenen Frau Lu- ise, mit der sie eine enge Freundschaft ver- band – und schreibt ihre eigene Version über die »gelehrteste Frau Deutschlands« und ihre Epoche. Auf 600 Seiten zeichnet Steidele ein faszinierendes Bild im Spannungsfeld zwi- schen Fakten und Fantasie, verfasst in einer wirklich brillanten Sprache – im Duktus der Zeit und doch so gegenwärtig, mit Witz, Iro- nie, gekonnt platzierten Zitaten, durch die sich immer wieder die Licht-Metaphorik zieht und durch die auch das eigene Schreiben reflektiert wird. Die Licht versprechende Epoche erkundet mit all ihren Akteurinnen die Rolle von Kunst und Wissenschaft, Geschlechterverhältnisse, Fra- gen nach Freiheit, Teilhabe und Zugang zur Bildung oder Maschinen, die Menschen erset- zen. Und doch verdüstert sich das Versprechen zunehmend: Die ganze Weltweisheit verhin- dert nicht den verheerenden Siebenjährigen Krieg, auf das »wohlgelahrte Frauenzimmer« folgt Rousseaus »aimable ignorante« – »das liebenswerte Dummchen«. Dieses Buch ist ein Ereignis! MARTINA LISA ▶ Angela Steidele: Aufklärung. Ein Roman. Berlin: Insel 2022. 603 S., 25 € ANZEIGE »Dass wir Weiber nicht als gelehrt gelten dürfen, aber als tugendhaft gelten müssen, liegt auch an der Sprache, ja sogar an der Grammatik.« »Als Kaiserin bin ich in eine Ebene aufgestiegen, wo mir das normale Menschsein nicht mehr möglich ist.« Karen Duves großer Roman über Sisi zwischen Zwang und Freiheit Gebunden mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 26 € Das von der Autorin eingelesene Hörbuch erscheint bei tacheles! / ROOF Music. 27 h c i r l h A n i t s r e K © www.kreuzer-leipzig.de

BELLETRISTIK | LOGBUCH Worum es alles geht Musa Okwonga beschreibt den Versuch eines Ankommens trotz aller Widerstände Die wundersame Verwandlung einer Gesellschaft Mohsin Hamid schreibt über einen gesellschaftlichen Umbruch und einen Neuanfang H amid kennt seinen Kafka und die Inter- textualität ist eindeutig, aber es ist nicht einfach eine Nachdichtung von Kafkas »Ver- wandlung«. Hier verwandelt sich eine ganze Gesellschaft: Erst wachen nur Einzelne mor- gens dunkelhäutig auf, dann immer mehr und zum Schluss hat sich etwas Neues, durchaus Positives entwickelt. Vom Winter der Zerstö- rung und der Gewalt durch weiße Rassisten geht es über in den Frühling einer neuen Gemeinschaft: Die Gesellschaft macht einen Neuanfang – wie bei Kafka. Der Protagonist Anders ist der erste Weiße, der eines Morgens feststellt: Er ist ein »Dun- kelhäutiger« geworden. Identitäten ändern sich und doch bewahren die Individuen ir- gendwie auch ihr vertrautes Wesen. Anders ist nach seiner Metamorphose in der anfangs noch weißen Gesellschaft der dunkelhäutige Außenseiter und muss sich gegen brutale Weiße wehren. Doch dann beschleunigt sich die Verwandlung, die Weißen werden zur Minderheit in einer »braunen« Gesellschaft. Auch Oonas Mutter erlebt wider Willen die Verwandlung und nur Anders’ Vater stirbt als letzter weißer Mann. Anders und seine Freun- din Oona erfahren eine Intensivierung ihrer Liebe, neues Potenzial entwickelt sich: Das Ende des Romans, mit dem »gemeinsamen Nestbau« und der Geburt einer Tochter bildet einen positiven, um nicht zu sagen sentimen- talen Grundton. Es bleibt den Lesenden überlassen, hier Be- züge zur Pandemie und der gewaltbereiten Szene zu sehen; die zentrale Rolle des Inter- nets, die Stimmungsmache und Verschwö- rungstheorien mit deutlichem Rassismus sind unmissverständlich. Der Roman zeigt auch eine grundsätzlich positive Mutter-Tochter- und Vater-Sohn-Beziehung. Die Erzähltechnik verlässt sich auf innere Monologe und Erzäh- lerkommentare mit gelegentlicher direkter An- sprache an die Leserschaft. JOACHIM SCHWEND ▶ Mohsin Hamid: Der letzte weiße Mann. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Köln: Dumont 2022. 160 S., 22 € »Vielleicht spürte man in der leichten Brise doch, dass da, so unmöglich es auch schien, ein großer, ein fürchterlicher Sturm auf sie zukam.« ANZEIGE Aufklärung statt Propaganda NRW Koalitions Wiederer aussichtl entschei im Wahl angesch O G A M I / O T O H P R U N / G N A T G N Y I GEGRÜNDET 1947 · FREITAG, 13. MAI 2022, NR. 111 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,60 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT Immer mehr Kiews Außenminister verlangt Kampf- 2 flugzeuge, kritisiert deutsche Lieferungen als unzureichend Nicht genug Soziale Berufe: Woche der Warnstreiks. 50.000 Beschäftigte gegen Per- 5 sonalmangel und Abwertung 5 .0 0 0 A b os f ü r d i e Pr e ssef r e i h e i t ! B e ste l le n a Kein Ausweg Streit über »Nordirland-Protokoll« 7 erschwert Regierungsbildung in Belfast. Druck aus London Ohne Durch Ausgehöhlt zu recht ang 12 Kriegs. Väterchen Väterchen Frost Frost Wirtschaftsminister Robert Habeck lässt Bevölkerung frieren, um Russland ökonomisch zu schaden. Moskau reagiert mit Gegensanktionen. Von Simon Zeise Liv jung Vo »Der soll sein« Heut K I Š Á M O T L A H C M I / Y A B A X I P ; A P D / D L I B L A R T N E Z - A P D / R E N T T Ü B S N E J Zehn Prozent Einsparung geht immer. R obert Habeck scheint sich sei- ner Sache sicher. Deutschland könne auf russisches Gas ver- zichten, gibt sich der Wirtschaftsmi- nister zuversichtlich. Täglich würden zehn Millionen Kubikmeter Gas aus Russland nicht mehr geliefert, sag- te Habeck am Donnerstag in Berlin. »Das ist eine Menge, die kompensier- bar ist, und die Unternehmen sind dabei, das Gas über andere Quellen zu beschaffen.« Ein paar nicht ganz unwesentliche Einschränkungen musste er allerdings einräumen. Nur »wenn wir zum Jah- reswechsel volle Speicher haben, wenn zwei der vier von uns angemieteten schwimmenden LNG-Tanker schon am Netz angeschlossen sind und wenn wir deutlich an Energie sparen, kön- nen wir im Fall eines Abrisses der russischen Gaslieferungen einigerma- ßen über den Winter kommen«, gab Habeck der Wirtschaftswoche zu ver- stehen. Um den deutschen Großmachtambi- tionen zu genügen und Russland größt- möglichen ökonomischen Schaden zu- zufügen, werden die Lohnabhängigen hierzulande geschröpft. Weniger Ver- brauch sei »das A und O beim Gas«. Entscheidend sei es, in den kommenden zwei Jahren zehn Prozent des bisheri- gen Verbrauchs einzusparen. »Da soll- ten alle mitmachen. Mehr Effizienz ist ein wesentlicher Hebel gegen Putin«, so Habeck. Doch selbst dann wären die Gaspreise »sicherlich sehr hoch und die Speicher am Ende des Winters leer«. Russlands Außenminister Sergej lakonisch: Lawrow »Lasst den Westen mehr bezahlen, als er es an Russland getan hat, und lasst ihn dann seiner Bevölkerung erklären, warum sie ärmer wird.« Sein Land ver- füge über ausreichend andere Kunden, sollte der Westen die Einfuhr von Ener- gieträgern einstellen, teilte Lawrow bei einer Pressekonferenz in Omans Haupt- stadt Maskat mit. kommentierte Drei Wochen gratis Probeabo endet automatisch, muss nicht abbestellt werden. jungewelt.de/probeabo Moskau verhängte zudem umfas- sende Sanktionen gegen den früheren russischen Staatskonzern Gasprom Germania und weitere Tochterunter- nehmen. Mit insgesamt 31 aufgeliste- ten Firmen dürften von russischer Seite keine Geschäfte mehr gemacht werden, hieß es. Nach Angaben der russischen Agentur Interfax ist damit das Anlegen von Vorräten mit russischem Gas in den Speichern Europas künftig verboten. Unklar war zunächst, wie ein solches Verbot durchzusetzen wäre. Gasprom Germania war Anfang April von der Bundesregierung unter treuhänderische Aufsicht gestellt worden. Ein Gasprom- Sprecher bestätig- te, dass der Konzern künftig kein Gas mehr durch die durch Polen führende Jamal- Europa- Pipeline nach Europa liefern werde. Warschau habe in der Vergangenheit mehrfach die Aktionärs- rechte des Konzerns verletzt und am 26. April Gasprom auf eine schwar- ze Liste gesetzt. Dadurch könne der russische Staatskonzern nun weder seine Stimmrechte wahrnehmen noch Dividenden erhalten. Das Ziel der Bundesregierung, in na- her Zukunft gänzlich auf russische Gas- importe zu verzichten, ist teuer erkauft. Schon jetzt haben sich die Gaspreise für einen Durchschnittshaushalt hier zulande im Vergleich zum Vorjahr fas verfünffacht. Die Inflation betrug im April 7,4 Prozent. Die Bundesregierun stellt den Betroffenen nur kosmetisch Hilfen in Aussicht. In dem sogenannte Entlastungspaket, das am Donnerst (nach jW- Redaktionsschluss) im Bu destag verabschiedet werden soll gehen Rentner und Studierende gä lich leer aus. Der Sozialverband V kritisierte die Maßnahmen als »extr unausgewogen und ungerecht«. Ha lediglich IV- Empfänger werden einem einmaligen Heizkostenzusc in Höhe von 200 Euro bedacht. Für lionen Menschen dürfte es ein k Winter werden. riedensfragen Besuchen Sie uns auf der Frankfurter Buchmesse Halle 3.1, Stand B48 (19. bis 23. Oktober) n 29 »Man sagt, jeder solle sein eigenes Leben leben, aber es ist schon schwer genug, einfach nur den Mustern der eigenen Eltern zu entkommen.« B ücher, die schon im Titel Großes behaup- ten, haben eine gewisse Fallhöhe. Im Fall des Romans »Es ging immer nur um Liebe« des in Berlin lebenden britisch-ugandischen Autors und Musikers Musa Okwonga löst sich die Liebe allerdings ein. Es ist ein Buch über Berlin und seine zuckersüßen, wilden Verspre- chungen; über die Entscheidung, vom Schrei- ben zu leben, und den Horror beim Blick auf den Kontostand; über Rassismus und dessen körperliche und seelische Auswirkungen auf jemanden, der sich als Schwarzer Mann durch ein weißes Europa bewegt und darin gerne un- versehrt bliebe; über die Flucht vor familiären Lasten und die Steuer, die für diesen Schritt in die Freiheit zu zahlen ist. Es ist, trotz allem Schmerzhaften, das hier geteilt und bezeugt wird, auch ein ziemlich witziges Buch, unter- haltsam, poetisch und zärtlich. Okwonga ge- lingt es, von Einsamkeit und Liebessehnsucht zu erzählen, ohne in männliches Selbstmit- leid abzurutschen. »Du kannst dich in dieser Stadt vollkommen sättigen und dich dennoch nach mehr sehnen«, schreibt er über Berlin, wo es die schönsten Cafés und die frustrie- rendsten Dates gibt. Er erzählt von der abso- luten Notwendigkeit der Selbstakzeptanz in ei- nem Rahmen, der dies brutal verunmöglichen kann; und er erzählt vom paradoxen Heimischwerden in einem Land, in dem das eigene Dasein immer an Bedingungen ge- knüpft ist: »Lass auf jede öffentliche Kritik an dem Land, in dem du jetzt lebst, einen Zusatz folgen, der Dankbarkeit beinhaltet. Zum Bei- spiel: Dieser Nazi-Aufmarsch war Furcht einflößend, aber das Schnitzel hier ist lecker.« »Es ging immer nur um Liebe« ist ein Buch, das sehr viel Aufmerksamkeit (das heißt: Liebe) verdient und das sich im Übrigen dank des ästhetischen Covers auch perfekt als Geschenk eignet. ANNA KOW ▶ Musa Okwonga: Es ging immer nur um Liebe. Aus dem Engli- schen von Marie Isabel Matthews-Schlinzig. Hamburg: Mairisch 2022. 152 S., 20 € www.kreuzer-leipzig.de

»Deine Spur, die im Gehen vergeht. Medium der Auf lösung des Realen ist er, der Schnee.« I E G E Z N A Sedimentierte Geschichte Durs Grünbeins viel zu gemütlicher Gedichtband vom Erinnern und Mythos Ä quidistanz« ist sowohl Titel der neuen umfangreichen Gedichtsammlung von Durs Grünbein als auch Titel des letzten Gedichtes in diesem Buch. Äquidistanz meint den Aufenthalt in Pa- rallelwelten, mit gleichbleibendem Abstand zur Realität als Grundlage des Dichtens. »Es- kapist ein Schimpfwort, das ihn wirklich traf«, heißt es hier auch etwas larmoyant, »entsetzt nur von der Idee, dass sie einander im Unend- lichen schneiden«, diese Parallelen – der Ein- bruch der Realität. Grünbein schreibt über das Dichten: »Nun da es keinen Kult um Verse mehr gibt«, über »Worte die das Siegel der Wirklichkeiten bre- chen«, über das erinnerte Gefühl für Heimat und unwiederbringliche Kindertage. Antizipa- tion der nächsten Zukunft ist ebenso Thema wie die Flüchtigkeit und Bedeutungslosigkeit des Gegenwärtigen. Auch das Potenzial gewisser Gegenstände, wie eine kleine Schachtel voller Zündhölzer, »ein kleiner Sarg voller Splitter«, wird zum Ge- dicht. Vor allem aber Orte, an denen Grün- beins Worte in die Tiefe der hier sedimentier- ten Zeit reichen. Sei es in Berlin, Warschau, Flensburg oder an einigen italienischen Schauplätzen. Die Geschichte, insbesondere »der Mythos« des »Dritten Reiches« als ständiger und grun- dierender Begleiter des Lebensgefühls einer Generation. »Flieg zurück an den Anfang, Seele, zurück zu den Jahren der Formation, Jahren der Illusion für Millionen«. Die tröstli- che Verklärung von Vergangenem, Parallelwel- ten als Zuflucht in Distanz zur sogenannten Realität. Doch es finden sich keine Visionen oder Dringlichkeit in den wohlgeformten Ge- dichten von Durs Grünbein. ANJA KLEINMICHEL ▶ Durs Grünbein: Äquidistanz. Gedichte. Berlin: Suhrkamp 2022. 162 S., 24 € Mit alles, ohne scharf, ähm Gedichte? »Kein Tag ohne« ist »eine lyrische Chronik« der Coronazeit, sagt der Verlag E in Gedichtband, der über zweihundert Sei- ten umfasst, will den Rahmen jener altbe- kannten schmalen Lyrikbändchen sprengen. Wenn damit noch der Anspruch verbunden ist, jeden Tag von Ende 2020 bis Anfang 2022 mit einem Gedicht zu würdigen, grenzt dieses Buch an Vermessenheit. Gedichte hätten exor- bitant zu sein oder gar nicht, meinte jedenfalls Benn. »Kein Tag ohne« lässt demzufolge auf- horchen. Beim Aufschlagen des Buchs lächelt die Lyrik dann vielfältig. Ein bisschen Liebe lispelt die Lyrik: »Sind wir amourös? / Japanerin küsst Germanistin«. Logik lehrt die Lyrik – »Natur ist Natur« – und liebäugelt in verschämten Klam- mern: »(könnten wir nur streicheln, oh!)«. Der zerfasernden Corona-Zeit eine Struktur abzuge- winnen, ist unum- gänglich. So kom- men Gedichte durch Ilma Rakusa zu bemerkenswerten Ehren im 21. Jahr- hundert der wütenden Prosa: They keep track of time. Allerdings zerfließen sie mit ihren beliebig wirkenden Versen genauso wie die Zeit unter Lockdown-Bedingungen. Da und dort haschen wunderliche Reime nach einer Struktur wie die Politik nach kohärenten Coronamaßnahmen. Dass es dann im Band »Kein Tag ohne« eben nur fast jeder Tag geworden ist, bleibt sympto- matisch für die selbstzufriedene Genügsam- keit nicht nur von Rakusas Gedichten, son- dern von der überwiegenden Mehrheit der Gedichte dieser Tage überhaupt: »spontane Notate« ohne Struktur, »das ist« – bei allen verheißungsvollen Buchtiteln – »der Stand der Dinge«. Bleibt mit Rakusas Anlehnung an Goethe nur stöhnend zu sagen: »Die Vöglein schweigen / im Walde balde / wird« – hoffent- lich – »Licht«. Derweil »warten« wir Tag für Tag »auf gute oder schlechte Karten.« FABIAN SCHWITTER ▶ Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Graz: Droschl 2022. 248 S., 23 € »die Tage sind mal Angst / mal Wind mal Licht / mal Schnitt mal Zuversicht / nur mäßig kalku- lierbar« www.kreuzer-leipzig.de 31 n i BÜCHER | LOGBUCH l r e B Riesenlibellen, Chupa Chups, ein gestohlener z t i e S & s e h t t a M Meteorit. Ein psychede- lischer, immer heißer werden- der Sommer in Tirol. Prana Extrem erzählt von der Sehnsucht, die Welt erfassen und sich ihr gleichzeitig hingeben zu wollen. Joshua Groß Prana Extrem 301 Seiten Preis: 24,00 € ISBN: 978-3-7518-0086-0

BELLETRISTIK | LOGBUCH BÜCHER | LOGBUCH KUNST | Lektionen aus dem Leben Ian McEwan schildert ein alltägliches und doch ungewöhnliches Leben Das Leben ist (k)ein Abgrund Jean Staffords ironisch spöttische »Stories« in deutscher Übersetzung I E G E Z N A R oland Baines, geboren in den späten vier- ziger Jahren, begnadeter Musiker mit überdurchschnittlichem IQ, lässt sich durchs Leben treiben. Auf seinem Weg lernen wir seine Familie und Freunde in einer turbulen- ten Geschichte der Welt kennen, bis zu Brexit und Pandemie. Als alleinerziehender Vater muss er irgendwie zurechtkommen. Seine en- gen familiären Kontakte zu Deutschland ma- chen den Roman für deutsche Leser besonders interessant. Bei den Rückblicken drängen sich Vergleiche zu gegenwärtigen Entwicklungen auf; mit einzelnen Ereignissen verbundene große Hoffnungen, beispielsweise der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges, wer- den angesprochen und enttäuscht, sie sind nicht der »Torbogen« in eine neue Zeit – die Menschheit ist nur bedingt lernfähig. Die Erzählung ist gespickt mit Rückblicken, Todesfällen und Geburten, Baines’ Leben ent- wickelt sich vor der Weltgeschichte, gezeich- net von Liebe und Hass, Erfolg und Versagen. Seine literarischen Ambitionen als Dichter ver- sanden im Alltag, aus dem sich seine Ehefrau und Mutter seines Sohnes befreit und eine er- folgreiche Karriere als Romanautorin beginnt. Die zahlreichen Bezüge zur Weltliteratur, ver- schiedene Textsorten wie Tagebücher, Ge- dichte, ein Roman im Roman, die Musik und ihre Protagonisten sind ein Lesegenuss. Seine Erfahrungen veranlassen Baines nicht, sein Le- ben zu ändern. Die Londoner Gesellschaft ist bunt und tolerant gegenüber Außenseitern. Ian McEwan gelingt ein faszinierender Roman, eine spannende Geschichte der Welt im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, fesselnd über alle 700 Seiten mit vielen »Lektio- nen« für ein Leben in unserer Zeit. Bern- hard Robben, ein er- fahrener Übersetzer von McEwans Romanen, liefert auch hier eine gedie- gene und sehr gelun- gene Übersetzung. JOACHIM SCHWEND D ie 1915 in Kalifornien geborene Autorin Jean Stafford schuf bis zu ihrem Ableben im Jahr 1979 ein vielseitiges Werk. Obwohl sie Zeit ihres Lebens einiges da- von wieder vernichtete, ver- blieb ein beachtlicher litera- rischer Nachlass, der heute vollständig in der Bibliothek der University of Colorado Boulder dokumentiert ist. 1970 gewann die Schriftstel- lerin für ihre »Collected Sto- ries« den Pulitzer-Preis. Elf Geschichten, zwischen 1944 und 1978 in Zeitungen wie dem New Yorker erstver- öffentlicht, wurden nun von Adelheid und Jürgen Dor- magen behutsam ins Deut- sche übersetzt. Die Auswahl der »Stories« bietet einen chronologisch aufgebauten Querschnitt durch alle Schaffensperioden Staffords – beginnend mit frühen Erzählungen, in denen das Kindsein und das Anderssein in einer Welt ignoranter Erwachsener thematisiert wird. Strenge Ver- haltensregeln, Taktlosigkeiten und Unbarm- herzigkeit drängen die Hauptfiguren der Geschichten in eine Welt der Einsamkeit. Das Unbehagen und die Beklemmung spiegeln sich in dunklen, unpersönlich gestalteten Räumen, bedrohlichen Landschaften und Angst einflößenden Geräuschen. Die Leichtigkeit, die Titel wie »Ein Sommertag« oder »Eine ländliche Liebesgeschichte« suggerieren, wird durch die Ironie der Texte gebrochen, in denen eine hohe psychologische Spannung herrscht. Je weiter das Schreiben der Autorin voran- schreitet, umso schärfer fällt ihr treffsicherer, kühler Blick auf das einzelne Individuum. Ihr bissiger Tonfall animiert beim Lesen oft zum Lachen und ist gleichzeitig zum Heulen ehrlich. Die »selbstmörderische Schadenfreude« man- cher Figuren und Staffords Talent, einen Cha- rakter ohne viel Aufsehen pointiert zu erklären, sowie ihre Art, das Fremdsein im Alltag in kontrastreichen, literarischen Gesten auszu- drücken, gehen in der Übersetzung keineswegs verloren. HANNA SCHNECK »Jim weinte und fing die Tränen mit seiner weichen Zunge auf.« ▶ Jean Stafford: Das Leben ist kein Abgrund. Stories. Aus dem Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen. Zürich: Dörlemann 2022. 336 S., 26 € »Das Leben ist ein Chaos, und wir machen alle Fehler, weil wir so verdammt blöd sind.« ▶ Ian McEwan: Lektionen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes 2022. 713 S., 32 € www.kreuzer-leipzig.de 33 192 Seiten, Hardcover, 26 Euro, auch auf Englisch und Ukrainisch lieferbar 208 Seiten, Hardcover, 26 Euro V E R F I LM T VON Aus dem Polnischen von Paulina Schulz-Gruner 496 Seiten, Hardcover, 26 Euro B E S U C H T U N S H I E R : F R A N K F U R T E R B U C H M E S S E H A L L E 3 .1 , D7 1 33

Wenn digitales Entsetzen in den Abgrund führt Hanna Bervoets über die Grenzen des Erträglichen LESEN SIE BÜCHER | LOGBUCH BLAU. I E G E Z N A versaufen fröhlich ihr Gehalt oder leisten Schichten ab: Im Akkord müssen sie verstörende, extreme und brutale Inhalte sichten, richtliniengemäß be- werten und nötigenfalls löschen. Der Zeit- und Qua- litätsdruck ist enorm. Dass sich dieser Horror nur mit einer ordent lichen Portion Eskapismus ertragen lässt – logisch. Wobei: Was heißt ertragen? Störun- gen wie PTBS stellen sich oft schleichend ein. Das Buch liest sich sehr gut, die Figuren sind sym- pathisch, die Schilderung der Arbeitsverhältnisse ist reich an Details. Die Storyline kann man im Gro- ben leider als erwartbar empfinden. Trotzdem: Die langsame Zersetzung der Seelen hat die Autorin mit Sachverstand konstruiert. Es bleibt zu empfehlen, sich auch in Notlagen kei- nesfalls auf Jobangebote als Content-Moderatorin zu bewerben – oder nur, wenn man eins, zwei, drei Psychologen an der Hand hat. Besser wäre es, sich zunächst mal locker durch dieses Buch informieren zu lassen. JULIANE ZÖLLNER ▶ Hanna Bervoets: Dieser Beitrag wurde entfernt. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Berlin: Hanser 2022. 110 S., 20 € Roman Aus dem Polnischen ca. 300 Seiten, 22 € Roman Aus dem Italienischen 304 Seiten, 22 € witzigen und vor al- lem bösen Betrach- tungen – wobei die Welt weitaus böser ist als jede Betrach- »Indem die wenigen Herrschenden, die reicher sind als »Denken Sie nicht, ich würde Sie nicht verstehen.« W er schon mal dringend Geld gebraucht und nach einem anspruchslosen Posten Ausschau gehalten hat, dem sind Gesuche nach Content-Mo- deratoren und -Moderatorinnen sicher bekannt. Entsprechende Anzeigen klingen oft professionell, die Arbeitsbedingungen erscheinen bestens – nur die Definition der Tätigkeit bleibt schwammig. Da- bei lohnt sich gege benenfalls eine längere Recher- che, auch über Wikipedia hinaus. Inzwischen gibt es glücklicherweise einige seriöse Berichte und Stu- dien. Die niederländische Autorin Hanna Bervoets hat so- gar einen Roman zum Thema vorgelegt. Darin geht es um eine Frau namens Kayleigh, die einen neuen Job annimmt, Freundschaften innerhalb des frisch aufgestellten Teams schließt und eine Beziehung mit Sigrid eingeht, die ebenfalls dem Kollegium an- gehört. Wochen und Monate ziehen ins Land. Die Figuren Furchtbarkeiten des Neoliberalismus Sibylle Bergs dystopischer Roman »RCE« ist auch nicht böser als die Welt W enn noch irgendjemand glaubt, der Kapitalis- mus sei das beste aller möglichen Sys- teme – und es soll ja recht viele Menschen geben, die das glauben –, dann sei ihm oder ihr Sibylle Bergs neues Werk empfohlen. Ein 700-Seiten-Kra- cher, der in nimmermüder Manier all die Furchtbarkeiten des Neoliberalismus be- schreibt: in kleinen Anekdoten von unzähligen Protagonistinnen und Protagonisten, die an diesem System zugrunde gehen, das die Erde zerstört und in dem unfassbar wenige Men- schen unfassbar reich sind und unfassbar viele ein unwürdiges Leben führen müssen – auf kleinstem Wohnraum, ohne Krankenversiche- rung und ohne irgendwelches Glück. Eine Dys- topie, die an Bergs Vorgänger-Roman »GRM« an- schließt, aber auch ohne diesen verständlich ist. Wobei »verständlich« hier Ansichtssache ist, nicht umsonst wurde ein zwölfseitiges Glossar über Be- griffe der Hackerinnen-Welt angefügt. »RCE« ist ein wilder, anstrengender Ritt, der einen überfor- dert – mindestens so sehr wie die Welt da draußen oder im Internet! Dabei ist es schwer zu unter- scheiden, was davon schon Realität ist und was noch Fiktion. Wie sehr werden wir von wem ausge- leuchtet und ausgebeutet? Doch wer Bergs klugen, Länder, in der Lage sind, Regierungen zu beeinf lussen, das gesellschaftliche Leben zu ändern, Regeln zu entwickeln und durchzusetzen, die sie selber nie befolgen müssten, und mit natürlich sehr guten Absichten – letztlich wieder das zu tun, was Kapitalisten eben tun: größenwahnsinnig werden, und gewinnen.« tung – bis zum Ende folgt, wird belohnt: Mit einer Hoffnung, dass die Menschheit vielleicht doch nicht nur schlimm ist und sogar fähig zu einer weltweiten Revolution, mit der alles gut wird. Oder na ja, zumindest ein bisschen besser. JULIANE STREICH ▶ Sibylle Berg: RCE – #RemoteCodeExecution. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022, 704 S., 26 € Poem Aus dem Französischen 144 Seiten, 15 € 35 edition.fotoTAPETA www.edition-fototapata.eu

BELLETRISTIK | LOGBUCH Die innere Klarheit In Nora Burgard-Arps Debütroman übernehmen »Querdenker« und AfD die Macht I n »Wir doch nicht« entwirft Nora Burgard- Arp eine Zukunftsvision für ein Deutsch- land, in dem rassistische und antifeministi- sche Kräfte die Macht übernommen haben. Der Alltag der stillen Heldin Mathilda be- schränkt sich auf häusliche Pflichten, ober- flächliche Gespräche mit Nachbarinnen und dem Frauenstammtisch, einem wöchentlichen Pflichttermin, bei dem ihr Tipps für die Fruchtbarkeit gegeben werden. Mathilda gibt sich große Mühe, in dieser Welt nicht aufzu- fallen, doch als kinderlose Frau mit 37 Jahren ist sie die Ausnahme. Ihre Ehe mit Finn ist un- ter dem Druck der ausbleibenden Schwanger- schaft erkaltet. In der Eröffnungsszene been- det Mathilda eine ungewollte Schwangerschaft heimlich mit einem Kleiderbügel. Hier ist sie von einer Klarheit erfüllt, die ihr, das erfahren wir in Rückblenden, bislang fehlte. Erinnerun- gen an ihre Mutter und deren Partnerin, beide engagierte Feministinnen und Antirassistin- nen, stehen den Schilderungen von Mathildas bedrückendem Alltag in der Diktatur gegen- über. Man erfährt, dass Mathilda das Land hätte verlassen können, als es noch möglich war. Burgard-Arps Debüt ist eine flüssig erzählte Geschichte, die man mit Spannung bis zum Schluss verfolgt. Die Stärke des Romans sind die Charaktere, besonders Mathilda, mit der die Autorin eine nahbare Figur geschaffen hat, eine stumme Mitläuferin, die ihren inneren Widerstand zu oft betäubt hat und ihre Kraft erst finden muss. Doch anders als in ähnli- chen Dystopien, wie in Atwoods »Der Report der Magd« oder Houellebecqs »Unterwer- fung«, wirkt der Bezug auf die Gegenwart hier allzu konstruiert. Der Roman ist daher eher Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die sich mit den gegenwärtigen Entwicklungen und der Zerbrechlichkeit von Demokratie noch nicht kritisch auseinandergesetzt haben. JENNIFER RESSEL ▶ Nora Burgard-Arp: Wir doch nicht. Mit Illustrationen von Iris Ott. Greifswald: Katapult 2022. 224 S., 22 € »Doch jedes Mal, wenn Finn sie mit seinem Schweigen bestrafte, verlor Mathilda all ihre Worte.« Desorientiert bleiben »Messer, Zungen« – Ein Debüt zwischen Sprachen, Ländern und Gattungen Familienrollen angesprochen und die Erzähle- rin versucht sich in der eigenen Familienge- schichte vorzutasten. Man kann die Figuren nicht wirklich greifen, erfährt jedoch die Ge- schichte eines Kollektivs, das schon immer kämpfen musste. Man erfährt, dass die Orien- tierung dieser Geschichte schlussendlich eine Bewegung gegen Gewalt und Diskriminierung ist. Mit seinem desorientierten Erzählen ist »Messer, Zungen« ein großartiger Wegweiser für neue, (bisher) nicht-kanonisierte Stimmen und Narrationen der Gegenwart. GIORGIO FERRETTI ▶ Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl): Messer, Zungen. Berlin: Matthes & Seitz 2022. 187 S., 20 € »Dann haben sie die neue Sprache erlernt und ko- chen mit neuen Gewürzen alte Gerichte.« W enn man weiß, wo man herkommt und wo man hingeht, kann man selbst in Momen- ten der Verlorenheit innerlich ruhig bleiben. Liegen diese beiden Pole im Dunkeln, kommt einem jeder Schritt vereinzelt vor, nicht als Teil eines Weges, der zu irgendetwas führt. Doch selbst ohne diese Orientierung bewegt man sich auf etwas zu, auch wenn es nicht zu erkennen ist. Simoné Goldschmidt-Lechner (oder sgl) versucht, eine Erzählart für diese Er- fahrung zu finden. In ihrem Debüt »Messer, Zungen« ist die Leserin auf verschiedenen Ebenen erst mal desorientiert: Die kurzen Ka- pitel folgen keiner räumlichen oder zeitlichen Struktur, stattdessen befindet man sich erst in Südafrika während der Apartheid und auf der nächsten Seite dann in einer deutschen Schule der nahen Vergangenheit. Die Form des Textes bewegt sich zwischen Lyrischem, Essayisti- schem und Erzählerischem, und die Sprache selbst wechselt auch – hauptsächlich zwischen Englisch und Deutsch, aber auch Niederlän- disch oder Setswana kommen vor. Der einzige Anhaltspunkt ist die Erzählstimme, die als »ich« nur selten auftaucht, aber immer hinter der Familiengeschichte anwesend ist. Denn fast alle Figuren in diesem Buch werden mit www.kreuzer-leipzig.de 37

BELLETRISTIK | LOGBUCH ander finden. Zwischen den dreien streunt stets Katze Muriel, die auch im Testament als viertes Familienmitglied bedacht wird. Das Buch lebt von einer dreifachen Erzählweise, die sich in den Erzählstimmen von Mercedes, Mira und Matea und in den Kompositionen ih- rer Schwesternschaft ausdrückt, von treff- sicheren Details, die die Jahrzehnte kolorieren: »Meine Hände riechen nach altem Staub, nach Zedernholzplättchen aus den Nullerjahren, Lavendelbeuteln aus den Neunzigern und Mottenkugeln aus den Achtzigern, während Schränke und Nachttische als ausgehöhlte Gerippe da stehen«, vom Rasselbock, der für alle bedeutend bleibt, und von den Lebens- weisen aller Familienfrauen, die sie, mehrheit- lich männerlos, für sich errungen haben. SUSE SCHRÖDER ▶ Miku Sophie Kühmel: Triskele. Frankfurt/Main: Fischer 2022. 272 S., 23 € »Wenn man einen Duft erkennen will, ver- liert man sich im unermesslichen Reich der Vergangenheit, die wir in uns tragen.« Vier Generationen und ein gelungener Abgang »Triskele« erzählt drei Leben und eine gemeinsame Mutter M iku Sophie Kühmels zweiter Roman han- delt von Familienfrauen, vom Erwach- senwerden und Durchkommen. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter Mone treffen Merce- des (48), Mira (32) und Matea (16) sich in ihrem Haus wieder. Jede erinnert sich an eine andere Mone in einem anderen sozialpolitischen, zeit- geschichtlichen Kontext. Mit Hilfe der Groß- mutter und der jeweils älteren Schwester wachsen Mira und Matea auf, um als Jugendli- che durch Mercedes der Altmark zu entwach- sen und in Berlin ein vages Zuhause zu finden. Mone als abschiednehmende Mutter erhält das erste und letzte Wort, Selbstmord er- scheint als angenommene Option. Im Roman findet alles auf engem Raum, in wechselnden Orts- und begrenzten Figuren- konstellationen statt. Gemeinsam organisieren die Schwestern das erste Trauerjahr, lernen gleichzeitig mehr und mehr ihre Leben und ei- nander kennen, lassen jede ihren Platz mitein- »›Liebsein ist ne total unfeministische Forderung‹, grum- melt Mati und kippelt.« Ein über Nacht zugefrorener See im Morgengrauen Yoko Ogawas Roman – bildhaft wie ein fortlaufendes Gedicht A m Abend zuvor hatten wir noch gefeiert. Vor genau einem Jahr waren wir zusam- mengezogen. Ich hatte ihm sein Lieblingsge- richt zubereitet, Hackbraten, und für den Nachtisch einen Apfelkuchen gebacken. Er schenkte mir ein Parfüm, das er eigens für mich hergestellt hatte. […] Im Kontrast zur Schlichtheit des Flakons war der Verschluss fein ziseliert. Dort war eine Pfauenfeder ein- graviert. ›Der Pfau ist ein Bote des Gottes der Erinnerung‹, sagte Hiroyuki, als er den Flakon öffnete und mein Haar zurückstrich, um mir einen Tropfen hinters Ohr zu tupfen. Es war unvorstellbar, dass er sich nach unserem denk- würdigen Abend das Leben genommen hatte.« Gleich zu Beginn des Buches stellt die Ich-Er- zählerin Ryoko klar, dass ihr Lebensgefährte überraschend Suizid begangen hat. Mit ihr ler- nen wir den Bruder des Toten kennen, seine Mutter, sein Elternhaus und die Trophäen sei- ner Kindheit. Hiroyuki war nicht nur ein be- gnadeter Parfümeur, er war ebenfalls ein Ma- gier der Zahlen und des Eiskunstlaufens, wie Ryoko allmählich herausfindet. Was ist in Prag geschehen vor mehr als einem Jahrzehnt? Warum hat Hiroyuki als Jugendlicher plötzlich aufgehört, an Mathematikwettbewerben teil- zunehmen, und verließ seine Familie? Ryoko reist nach Prag, einzig die aphoristischen Noti- zen ihres Freundes bilden Anhaltspunkte für eine alte Geschichte – reicht das aus? Es ist zauberhaft, was Yoko Ogawa aus diesem Plot webt. Mittels einer duftdurchdrungenen, pointierten Sprache – in exzellenter Überset- zung – führt uns die 1962 im japanischen Okayama geborene Autorin zahlreicher Ro- mane auch hier in eine Zwischenwelt, in der man verweilen möchte. Staunen mag über die Farbigkeit der Bilder, Zartheit der Töne und Konsequenz der Bosheit, die aus dem Quell der Erinnerung aufsteigt. ANNE HAHN ▶ Yoko Ogawa: Der Duft von Eis. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. München: Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022. 262 S., 24 € www.kreuzer-leipzig.de 39

Erkundungen der Kindheit »Melancolia« – motivisch kunstvoll verknüpfte Erzählungen von Mircea Cărtărescu BELLETRISTIK | LOGBUCH E in Kind, von der Mutter verlassen, lebt jahrelang allein in einer Wohnung. Es spricht mit niemanden, isst nicht, altert nicht, streift nur endlos von Zimmer zu Zimmer. Schließlich wandert es nachts durch die Stadt – vielleicht Bukarest – und findet in ei- nem Kaufhaus eine riesige Skul ptur aus Scho- kolade mit den Gesichtszügen der Mutter. Eine Zeit lang lebt das Kind in der Skulptur. Mircea Cărtărescu (*1956) ist einer der bedeu- tendsten Namen in der rumänischen Gegen- wartsliteratur. Zuletzt sorgte sein Monumen- talroman »Solenoid« für Aufsehen, nun legt Ernest Wichner eine Übersetzung des 2019 im Original erschienenen Erzählbands »Melan colia« vor. Das Grundgefühl der motivisch kunstvoll ver- knüpften Erzählungen ist die titelgebende Melancholie. Cărtărescus Figuren sind Kinder und Jugendliche, deren Einsamkeit unauf- löslich scheint. Die Eltern sind abwesend, oder sie sind seltsam konturlos; Schatten, die im Leben ihrer Kinder keine Rolle spielen. Die Kinder, sich selbst überlassen, erkunden eine rätselhafte, mal düster märchengleiche, mal groteske Welt, in der die Regeln der Alltags- wirklichkeit nicht gelten. Es gelingt Cărtărescu außerordentlich gut, den eigentümlichen Zauber heraufzubeschwö- ren, wenn scheinbar Vertrautes plötzlich fremd wird und aufgeladen mit Bedeutung. Seine Texte sind zugleich surreal wuchernde Fantasien – mit sprechenden Käfern, sich häutenden Menschen, schwebenden Statuen – und feinste Darstellung eines kindlichen Blicks, für den nichts, nicht einmal das Ver- gehen der Zeit, selbstverständlich ist: »Unbe- greiflich welkte das Licht auf den Abend hin.« Die eigene Kindheit kommt einem beim Lesen in den Kopf. Vergessenes taucht auf. Cărtărescu nennt solche Erinnerungen: »das Leuchten aus einer anderen Welt«. MAURUS JACOBS ▶ Mircea Cărtărescu: Melancolia. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Wien: Paul Zsolnay 2022. 270 S., 25 € »Das Dunkel, und zwar dasjenige, bevor es Augen gab, und das Schweigen noch vor jedem Ohr, und das Ungeformte, das allem Geist vorangeht, und die Traurigkeit und die Angst und die Verzweif- lung waren die gewöhnlichsten Erlebnisse aller Menschen, zumindest in jener fernen Stadt, in der die Häuser wie blaue Flecken auf der blassen Haut des Himmels aussahen.« Erfundene Wahrheit Bettina Hartz treibt in ihrem Debütroman das Spiel mit der Fiktion auf die Spitze »Ans Meer, dachte ich, und mein Herz klopfte, und ich roch es schon und spürte schon die Gischt im Gesicht, denn das Meer und ich, wir sind eins.« I ch denke mir die Dinge aus«, schreibt die Hauptfigur Milena gleich im Prolog von »Rot ist der höchste Ernst«, dem Debütroman der Autorin Bettina Hartz. Sie lädt zu einem ver- wirrenden Spiel mit der erfundenen Wahrheit ihrer Protagonistin ein. Hartz macht dieses Spiel zum Hauptthema einer Liebesgeschichte, in der die Schrift- stellerin Milena mit poetischem Überschwang ihre Beziehung zu Hans schildert, von der unkomplizierten Anfangsphase über zusam- men durchgestandene Schicksalsschläge bis zur gemeinsamen Wohnung. Aus der Sehn- sucht nach Zweisamkeit wird Abhängigkeit und Ablehnung, das erzählende Ich macht auch vor der eigenen Ignoranz und Egozentrik nicht Halt. Unbarmherzig und aufrichtig wer- den dunkle Gedanken und Gefühle offenbart. Die Hauptfigur lebt in ihrer persönlich erdach- ten oder auch erdichteten Welt, in der ihr Partner zu einer Vorstellung, einer Projek- tionsfläche der eigenen Freuden und Ängste wird. So muss jeder für sich entscheiden, ob dieser Hans überhaupt real ist. Diese Frage- stellung steht im Zentrum des Romans und lädt zum Philosophieren darüber ein, was wir leichthin als Realität bezeichnen. Die Sprache der Schriftstellerin Milena im Buch und der Autorin Hartz – auch diese Grenzen scheinen zu verschwimmen – wirkt bemerkenswert zeitlos, die Geschichte könnte vor hundert Jahren spielen, würde nicht ab und zu irgendwo ganz am Rande ein Mobil- telefon auftauchen. Bettina Hartz schreibt fast ohne Punkt, doch mit sehr vielen Kommas. Beim Lesen bleibt es uns praktisch verwehrt, das Buch aus der Hand zu legen, man wird mit rasantem Tempo hineingesogen in diese sub- jektive Erzählweise. Und kommt kaum zu Atem – möchte man aber auch gar nicht, denn die sensible Spannung, die sowohl sprachlich als auch inhaltlich dabei aufgebaut wird, hält einen fest bis zum bitteren Ende. HANNA SCHNECK ▶ Bettina Hartz: Rot ist der höchste Ernst. Roman. Graz: Droschl 2022. 296 S., 25 € www.kreuzer-leipzig.de www.kreuzer-leipzig.de 41

BELLETRISTIK | LOGBUCH kung über den Nationalsozialismus, der Gürtel und die Faust sind geläufige Erziehungsmaß- nahmen. Nahbar und ungeschönt, nicht jedoch ohne Humor, erzählt Christian Baron von Gewalt, Sucht und Deklassierung – und zeigt erneut, dass Armut nicht nur krank macht, sondern auch tötet. LUCIA BAUMANN ▶ Christian Baron: Schön ist die Nacht. Berlin: Claassen 2022. 384 S., 23 € Entbehrungen und Betäubung »Schön ist die Nacht« erzählt vom Arbeiteralltag und Elend in den Siebziger Jahren D ie Klasse kehrt zurück« titelte eine Litera- turplattform, als 2020 Christian Barons Debüt »Ein Mann seiner Klasse« erschien: ein autobiogra- fischer Roman über das Aufwach- sen in Armut. Die Lektüre han- delt von einem »Als Abstinenzler unter Genussmenschen, und dann kommt so ein Student rein.« schlagenden Vater, der als Möbelpacker schuf- tet und den Lohn in der Kneipe lässt, einer depressiven Mutter und Geschwistern, die das Bildungssystem frühzeitig aussortierte. Auch in »Schön ist die Nacht« verhandelt Baron so- ziale Ungerechtigkeit. Und wieder ist Kaisers- lautern, Barons Geburtsstadt, Schauplatz der Handlung, nur sind diesmal alle Figuren frei erfunden – den Hinweis, dass er die Lebens- geschichten seiner Großväter verarbeitete, schiebt der Autor jedoch vor. Im Westdeutschland der siebziger Jahre kämpfen Horst und Willy um ihre Existenz. Selbst in prekären Verhältnissen aufgewach- sen, haben die beiden Protagonisten nun un- ter den Folgen von Ölkrise und Rezession zu leiden. Auf den Baustellen, auf denen sie für kleines Geld anpacken, herrscht die allgegen- wärtige Sorge, als Nächster gehen zu müssen. Während Willy jedoch an dem Glauben fest- hält, mit ehrlicher Arbeit und Anstand zu etwas zu kommen, hat Horst jede Hoffnung bereits verloren und ziert sich nicht, den lang- jährigen Freund zu hintergehen. Damit bringt er Willy und sich selbst in immer größere Schwierigkeiten. Die knapp vierhundert Seiten atmen alte Bun- desrepublik: Aus den Lautsprechern der Goldmine, ihrer Stammspelunke, dröhnt Udo Jürgens, hier und da fällt eine positive Bemer- Transbürgerliche Vollendung Édouard Louis über die sozialen Widersprüche der Gegenwart É douard Louis, Schüler und Freund Didier Eribons, hat in mehreren autobiografi- schen Büchern die ungeschminkte Hässlich- keit der abgehängten Lebensverhältnisse nord- französischer Provinzunterschichten der Wahrnehmungslosigkeit entrissen: postindust- rieller Absturz der Arbeiter in die absolute Ar- mut mit Dauerglotzen, Ketterauchen, Junk- food und Billigfusel, doch auch deren aggressiver Abwehrreflex gegen alles Fremde mit notorischem Rassismus und Homophobie. In seinem neuen Buch beschreibt Louis mit so- ziologischer »Hermeneutik des Subjekts«, wie Lernfleiß und Schultheater mit der Aussicht, in einer größeren Stadt aufs Gymnasium zu ge- hen, einen langen und extrem mühseligen Fluchtkorridor eröffnen, der schließlich zu ei- nem Studienplatz an der elitärsten Pariser Uni- versität und in die höchsten Kreise führt. Aus- gestattet mit jugend licher Schönheit und raschem Anpassungsver mögen schläft er sich durch den mondänen Jetset nach oben, was ihm immer weitere Türen öffnet. Louis, der nie vergessen hat, wo er herkommt, registriert die saturierte Dekadenz, das vollkommen abgeho- bene Leben und die extreme soziale Kälte, schluckt aber Ekel und Verachtung lange her- unter, um vorankommen. Doch im Schreiben über seine Erfahrungen schafft er es, diese in etwas Produktives umzusetzen, mit dem er sich dank seines medialen Erfolgs sogar ein wenig über den brutalen Klassismus erheben kann. Doch die Zweifel bleiben: »Hier spricht mein anderes Ich, das Ich, das gern geblieben wäre, das Ich, das mir Vorwürfe macht.« Ge- rade aufgrund seiner Fähigkeit, alles zu hinter- fragen, ist die »Anleitung« trotz des erneuten autobiografischen Sujets einmal mehr eine in- haltlich anregende wie stilistisch ergreifende Abhandlung über die sozialen Widersprüche der Gegenwart. THORSTEN BÜRGERMANN ▶ Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Berlin: Aufbau 2022. 272 S., 24 € »Die Gewalt der Welt hinterfragen, ist ein Luxus, den ich mir damals nicht erlauben konnte, ich musste vorankommen.« www.kreuzer-leipzig.de www.kreuzer-leipzig.de 43

BELLETRISTIK | LOGBUCH »Eine Stunde vor dem Fischessen kam in Samson romantische Stimmung auf.« Satire, Spannung und ein bisschen Romantik Der erste Kriminalfall für »Samson und Nadjeschda« von Andrej Kurkow A ndrej Kurkows neuer Kriminalroman han- delt von einem einohrigen Helden, der mehr hören kann als seine Umgebung. Diese Fähigkeit macht Samson zu einem außerge- wöhnlichen Ermittler. Seine Gefährtin Nad- jeschda verrät ihn nicht etwa wie die biblische Delila an die Philister, sondern schenkt ihm stattdessen Selbstvertrauen, Trost und eine aufkeimende Liebe. Wie auch in seinem letzten Buch »Graue Bie- nen« setzt der Autor sich wieder literarisch und satirisch mit dem politischen Konflikt in der Ukraine auseinander. Nicht zufällig bettet Kurkow in Zeiten wie diesen seine Erzählung in die Geschichte der Auflösung der Ukraini- schen Volksrepublik und ihrer Eingliederung in Sowjetrussland ein. Als Schauplatz wählt er Kiew im Jahr 1919. Müllberge und Leichen säumen die Wege. Es gibt kein Brennholz, nur selten Strom, Dunkelheit, Kälte und Soldaten ziehen durch die Stadt. Chaos herrscht auf den Straßen und große Verwirrung darüber, wer Freund und wer Feind oder Verräter ist. »Ord- nungen gibt es verschiedene«, heißt es einmal in dem Buch, »sie stehen alle auf keinem Papier und ändern sich wie das Wetter in England. Nichts hat Bestand.« In dieser von Willkür beherrschten, trostlosen Welt suchen die Menschen nach einer für ihr Leben taug- lichen Ordnung und nach Verbündeten. Samson ist ein typischer Kurkow’scher Held. Mehr oder weniger unverschuldet gerät er ständig in verwirrende Situationen, die die nächsten Schritte seiner Entwicklung vorge- ben. Obwohl er keine Ahnung von seinem neuen Job bei der Polizei hat, beginnt Samson mit eigenwilliger Ermittlungsgabe an einem Kriminalfall zu arbeiten, der bis dahin eigent- lich gar keiner war. Er stellt sich tapfer seinen Aufgaben und entwickelt daraus die beste aller unmöglichen Geschichten. Fortsetzung folgt – das verspricht zumindest das Ende des Buches und läutet damit hoffentlich eine neue Krimi- reihe mit dem einohrigen Kommissar ein. HANNA SCHNECK ▶ Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda. Kriminalroman. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Zürich: Diogenes 2022. 368 S., 24 € Das letzte Schlupfloch Jean Malaquais’ »Planet ohne Visum« endlich auch auf Deutsch »Gewaltige Kanonen wummerten über den Platz, unter ihren Helmen machten minderjährige Soldaten Kanonen- futter-Augen.« Jean Malaquais war ein Spanienkämpfer, jüdi- scher Schriftsteller und Marxist, der ursprüng- lich als Jan Pavel Malacki in Warschau geboren wurde. 1939 gelang ihm die Flucht aus Mar- seille über Mexiko in die USA, seine Eltern starben in einem deutschen Konzentrationsla- ger. Nach dem Krieg kehrte er nach Frankreich zurück, wo er 1947 seinen in Frankreich wie in- ternational sehr erfolgreichen Roman »Planet ohne Visum« veröffentlichte. Nun erscheint der Roman auch auf Deutsch – und zündet trotz einiger Längen und altbackener Formu- lierungen heute noch. FRANK WILLMANN ▶ Jean Malaquais: Planet ohne Visum. Aus dem Französischen von Nadine Püschel. Hamburg: Edition Nautilus 2022. 664 S., 32 € M arseille 1942, ein paar Monate vor der Besetzung durch die Deutschen. Noch ist es mit Geld und Geschick möglich, aus Südfrankreich in die freie Welt zu fliehen. Die Stadt ist bevölkert von Flüchtlingen und Uner- wünschten des Vichy-Regimes, die verzweifelt versuchen, den Schergen der Nazis zu entkom- men. Besonders für europäische Juden ist das Schlupfloch Marseille die letzte Chance auf Rettung. Einige sehr unterschiedliche Perso- nen helfen den Menschen bei der Flucht übers Meer oder nach Spanien. Den meisten geht es ums Geld, andere gehören zur Résistance oder zu internationalen Hilfsorganisationen und handeln aus Gewissensgründen. Diverse Ge- heimdienste fischen nach Informationen und nicht jeder Samariter ist bei Lichte besehen ein guter Mensch. Im Stil eines Thrillers be- schreibt Jean Malaquais das große Durcheinan- der der Schicksale im brodelnden Kochtopf der Verzweiflung. Er reißt zahlreiche Einzelbiografien an und setzt den Helfern wie den Henkern ein Denk- mal. Viele der mitunter etwas fragmentarisch geschilderten Ereignisse erlebte er als Augen- zeuge. Den Titel hatte er sich aus Trotzkis Autobiografie geliehen, seinen Roman schrieb er in Mexiko und den USA in Griffweite einer Pistole. www.kreuzer-leipzig.de 45

mandelbaum verlag Mehr Feminismus wagen Rafia Zakaria nimmt den weißen Feminismus kritisch auseinander I E G E Z N A D ie US-amerika- nische Juristin Rafia Zakaria steigt terminologisch ein und setzt sich im ersten Kapitel mit den Begriffen »weiß«, »weißer Feminismus« beziehungsweise »weiße Feministin« auseinander. Darauf folgend schildert sie ihre Erfahrungen mit weißen Feminis- tinnen und wie sie in persönlichen Begegnungen permanent exotisiert und aus- geschlossen wird. In weiteren Kapiteln beschäftigt sich Za- karia mit der Bedeutung und Funktion der weißen Frau bei der Etablierung weißer Vor- herrschaft in von weißen Eu- ropäern kolonisierten Gebie- ten und Gesellschaften. Sie ordnet historisch ein, was weiße, gut situierte Frauen von heute dazu ver- anlasst, in Begegnung mit von Rassismus und Ar- mut betroffenen Frauen ihre eigenen Perspektiven in den Mittelpunkt zu rücken. »Against White Feminism« thematisiert aber auch die Rolle des »weißen Feminismus« in modernen Kriegen und weist auf rassistische Kontinuitäten hin, die im heutigen Feminismus immer noch prä- gend sind. Jegliche Kritik, die mehrfach marginali- sierte Frauen äußern, werde als Undankbarkeit ab- gestempelt, schreibt Zakaria und zeigt, dass »weiße Feministinnen« in Ländern, die sie als weniger zivi- lisiert empfinden, bestimmen wollen, worauf sich der feministische Kampf fokussieren solle. Ein soli- darischer Kampf sehe anders aus. Auch über die sexuelle Befreiung als dominantes fe- ministisches Thema denkt Zakaria kritisch nach. Den Fokus auf Sexualität ordnet sie als Besessen- heit ein und bemängelt, dass beispielsweise nicht- weiße oder Transfrauen bei dem Thema außen vor gelas- sen würden. Rafia Zakaria hat einen wich- tigen und lesenswerten Auf- ruf, mehr Feminismus zu wa- gen, geschrieben, der zum Nach- und Überdenken inspi- riert – auch wenn für die hiesige Leserschaft der Deutschland-Bezug fehlen mag. SIBEL SCHICK ▶ Rafia Zakaria: Against White Feminism. Wie weißer Feminismus Gleichberechtigung verhindert. München: Hanserblau 2022. 256 S., 18 € »Weiße Frauen beruhigt der Gedanke, keine Ehrenmorde oder weibliche Genitalbeschneidungen befürchten zu müssen, und sie können die Verbrechen, die an ihren Körpern begangen werden, als ein geringeres kulturelles und soziales Problem wahrnehmen als die, die an BIPOC-Körpern b egangen werden.« Feminismus vs. Transaktivismus Till Randolf Amelung ruft zur verbalen Abrüstung Madama D‘Ora TAGEBÜCHER AUS DEM EXIL Herausgegeben von Eva Geber € 24,– | 254 Seiten | Hardcover Andreas Nöthen Louiz Inácio LULA da Silva Eine politische Biografie € 20,– | 256 Seiten | engl. Broschur beide Positionen auf, ohne beiden zugleich Recht zu geben beziehungs- weise Recht geben zu können. Er zeigt jeweils blinde Fle- cken auf und – noch wichtiger – weist darauf hin, dass die Diskussion nicht im luftleeren Raum stattfindet. In einer patriarchal geprägten Ge- sellschaft sind Diskussionen um Sex und Gender durch diese Brille geprägt, was mitbedacht werden muss. Bezieht man das ein, wird der Kampf viel- leicht wieder ein gemeinsamer, so der Autor der aufklärenden Schrift. TOBIAS PRÜWER ▶ Till Randolf Amelung: Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf. Berlin: Querverlag 2022. 64 S., 8 € B iologie oder Kultur, Sex oder Gender: Was b estimmt nun das Geschlecht des Menschen – und welche Rechte und Zuordnungen leiten sich davon ab? Darum tobt besonders in den sozialen Netzwerken ein hitziger Kampf, nicht erst seit der Ausladung eines entsprechenden Vortrags von der Berliner Humboldt-Uni. Man muss es leider Kampf nennen, denn die verbale Aufrüstung ist auf beiden Seiten maximal, so dass differenzierende Stimmen kaum vernommen werden. Das reicht bis zu gegen- seitigen Faschismusvorwürfen und Anklagen, die jeweils andere Position wolle die eigene Existenz ausräumen. Till Randolf Amelung versucht sich in so einer differenzierenden Stimme. Im Kern des Streits geht es darum, ob Transfrauen nun Frauen sind oder nicht als solche anerkannt werden. Einige Feministinnen verneinen das, fürch- ten, dass damit »verkleidete Männer« in Frauentoi- letten und Schutzräume dringen. Mit Hinweis auf die Biologie wird Transmenschen ihr Leidensdruck abgesprochen. Andererseits geht man sprachlich sehr unsensibel vor, wenn man fordert, »Frauen« durch »Menschen mit Uterus« zu ersetzen, weil das eine funktionalistische Reduktion ist – und feminis- tische Forderungen verunmöglicht. Amelung zeichnet in ruhigem Ton die Bruchlinien dieser Diskussion nach und bringt Verständnis für www.kreuzer-leipzig.de »Wie einseitig diese Aufforderungen zur begriff lichen Retusche an Frauen gerichtet werden, zeigt der Umstand, dass Männer davon bisher weitgehend verschont geblieben sind.« Peter Birke GRENZEN AUS GLAS Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland € 27,– | 398 Seiten | engl. Broschur www.mandelbaum.de 47

Fröhliche Wissenschaft Philipp Felsch rekonstruiert, warum ausgerechnet zwei Italiener Nietzsches Reputation retten M it »Also sprach Zarathustra« im Tornister stürmten die Welt- kriegssoldaten in die Urkatastrophe, Hitler spendete per- sönliches Geld für die Errichtung einer Nietzsche-Gedächtnishalle. Nach 1945 hatte der Philosoph einen denkbar schlechten Stand. Auch wenn der Unzeitgemäße wenig dafür konnte. Ein Proto-Faschist war er gerade nicht, auch wenn seine Schwester und andere sein Werk dazu zurechtstoppelten. Konnte man den Verfälschten retten? Ja, glaubten Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, und machten sich an eine Neueditierung von Nietzsches Werk im Weimarer Archiv. In einer Zeit, wo der Denker im DDR-Giftschrank stand und auch andernorts als gefährlich galt, wollten sie an den Original-Nietzsche heran. Ironischerweise mutete ihr Plan anachronistisch an, denn man entdeckte Nietzsche damals gerade in Frankreich und war nicht an so etwas wie einem Urtext inter- essiert. Interpretation ist alles, hieß es bei Foucault & Co. Philipp Felsch rekonstruiert, wie Colli und Montinari ihre Gesamtaus- gabe zusammenstellten, die zur Nietzsche-Renaissance führen sollte. Er schildert die Diskussionen der Zeit und geistige Kampfzonen, gibt aber auch Einblick in die beiden Charaktere, deren Lehrer-Schü- ler-Verhältnis nicht ganz unkompliziert war. »Erst dadurch, dass es gelingt, Nietzsche in der Spätphase der paperback revolution doch noch in einen erfolgreichen Taschenbuchautor zu verwandeln«, stellt Felsch richtig fest, »tritt er vollends aus dem Schatten des National- sozialismus und wird zum nächsten großen Ding im langen Sommer der Theorie.« Ein erstaunliches Buch ist ihm gelungen, lehrreich, lesbar – und von der unvollendeten, auch linken, Suche nach einem echten Nietzsche. Ein feines Stück fröhliche Wissenschaft. TOBIAS PRÜWER Vier Streifzüge von Krakau/ Kraków über Lemberg/Lwiw und Stanislau/Iwano-Frankiwsk bis nach Zakopane I E G E Z N A Der Historiker und Germanist Marcin Wiatr präsentiert Galizien als Ort europäischer Geschichte:  fester Bestandteil des Habsburger mythos  Inbegriff weltverlorener Abgeschiedenheit und ostjüdischer Kulturtraditionen  Literaturlandschaft – Leopold von Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Bruno Schulz, Mascha Kaléko, Sophia und Juri Andruchowytsch, Olga Tokarczuk, Tanja Maljartschuk, Maxim Biller u. v. a. Premiere auf der Frankfurter Buch messe: 23.10.2022, 11:30 Uhr, Halle 4, Stand G 101, mit Marcin Wiatr und Übersetzer Benjamin Voelkel Marcin Wiatr Literarischer Reiseführer GALIZIEN Unterwegs in Polen und der Ukraine Mit zahlr. farb. u. S.-W.-Abb., Zeittafel, ausführl. Registern u. Karten 476 S., € [D] 19,80/€ [A] 20,40 ISBN 978-3-936168-77-8 ▶ Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. München: C.H. Beck 2022. 287 S., 26 € Ein Kaleidoskop aus Zorn und Intellekt, Aktion und Reflexion, Terror und Kunst. »Wer waren diese beiden italienischen Dilettanten, und wie kamen sie dazu, die Schriften von Nietzsche zu editieren?« www.kreuzer-leipzig.de 49 Der neue große Roman von Hendrik Otremba bei MÄRZ

SACHBUCH | LOGBUCH Forever young »Quallen altern rückwärts« des Mikrobiologen Nicklas Brendborg schafft einen wissenschaftlichen Überblick zum Thema Anti-Aging S o alt wie die menschliche Kultur ist auch der Traum vom ewigen Leben. Wünsche zur Überwindung des sinnlosen Todes sind nicht nur der zentrale Gedanke und die spiri- tuelle Kraftquelle von Religionen, sondern finden sich ebenso in der Moderne. Etwa in den Hoffnungen, mit Hilfe von Bluttransfusio- nen (Parabiose) das Leben zu verlängern, wie sie in der russischen Revolution eine wichtige Rolle spielten, aber auch gegenwärtig wieder um sich greifen. Entgegen so großer Utopien zeigt der dänische Molekularbiologe Nicklas Brendborg in sei- nem populärwissenschaftlichen Sachbuch angenehm nüchtern den aktuellen wissen- schaftlichen Forschungsstand zum Thema Anti-Aging auf. Dabei geht er in leicht ver- ständlicher Sprache auf zahllose Beispiele aus dem Tierreich ein, erklärt lebensverlängernde und -verkürzende Gewohnheiten bestimmter Kulturkreise und ethnischer Gruppen, bespricht bahnbrechende medizinische Ent- deckungen und berühmte Fälle. Wir erfahren beispielsweise, dass Nacktmulle eine erstaun- lich starke Gesundheit haben, Hummer zwar getötet werden können, aber praktisch nicht an Alterserkrankungen sterben, und Quallen sogar in ein früheres Entwicklungsstadium zurückgehen können. Brendborg gelingt es, einerseits Interesse weckend über wissen- schaftliche Studien, Experimente und For- schungsansätze zu berichten, die tatsächlich das Potenzial haben, die Lebenserwartung signifikant zu erhöhen. Zugleich lässt er sich andererseits dankenswerterweise nicht von einer gesunden Skepsis abbringen, die bei jedem Kapitel die allzu hochfliegenden Erwartungen gehörig dämpft und am Ende des Buchs schließlich in praktische Empfeh- lungen mündet, die eigentlich selbstver- ständlich sein sollten – wie gesunde Ernäh- rung, sportliche Betätigung, gute soziale Beziehungen und eine optimistische Einstel- lung zum Leben. THORSTEN BÜRGERMANN ▶ Nicklas Brendborg: Quallen altern rückwärts. Was wir von der Natur über ein langes Leben lernen können. Aus dem Dänischen von Justus Carl. Köln: Eichborn 2022. 304 S., 22 € ANZEIGE »Wenn wir irgendwann an dem Punkt ankommen, an dem die Wissenschaft das durchschnittliche Leben schneller verlängert, als die chronologische Zeit abläuft - zum Beispiel jedes Jahr um anderthalb Jahre –, dann könnte man argumentieren, dass das eine Art Unsterblichkeit ist.« Starke Frauen bei Orlanda im Herbst 2022 Die Tambudzai-Trilogie der Friedenspreisträgerin 2021 endlich komplett! Der zweite Teil der Tambudzai- Trilogie ist ein fesselnder und kraft- voller Roman, der ein Bewusstsein für die weitreichenden und komplexen Auswirkungen des Kolonialismus schafft. Plädoyer für die Befreiung von Frauen! »Die leidvolle Emanzipation einer jungen Frau zwischen zwei Kulturen, Alltagsrassismus und religiösen so- wie familiären Zwängen. Gerade in der heutigen politisch-gesellschaft- lichen Diskussion breit empfohlen.« Helga Winkelmann, ekz »Raus aus den Schubladen! ist ein MUST-READ für uns alle – Mut-Macher und Mahnung zugleich – ein kraftvolles Statement gegen Vor- urteile, Ausgrenzung und Rassismus. Denn der größte Reichtum unseres Landes liegt in der Vielfalt der Lebenswege seiner Menschen und der gestalterischen Kraft ihrer Erfahrung.« Matthias Hügle, ZDF Achtung! Die Alten kommen. Anna Freixas’ neues Buch ist ein Weckruf für alle Frauen über 60, gemeinsam für Gerechtigkeit, Würde, Selbstbestimmung und Freiheit einzustehen und stolz auf ihr Alter zu sein. Sie liefert Ideen zum Widerstand für eine neue Generation alter Frauen und macht Mut, die Kontrolle über das eigene Leben einzufordern. ISBN 978-3-949545-09-2 304 Seiten, Klappenbroschur, € 24,00 ISBN 978-3-949545-00-9 272 Seiten, Klappenbroschur, € 22,00 ISBN 978-3-949545-23-8 192 Seiten, Klappenbroschur, € 22,00 ISBN 978-3-949545-25-2 208 Seiten, Klappenbroschur € 22,00 www.kreuzer-leipzig.de 51

SPORT | LOGBUCH Selbst kann zum Beispiel Fußball jenseits von Altmännernetzwerken in Vereinen und Verbänden in bunten und wilden Ligen organisiert werden und sich selbst subkulturell verwalten – etwa im Zusammen- klang von Vereinsarbeit, Jugendkultur und Stadtteilzentren. Eine sol- che Bewegung – so Schwermer – mache den Fußball unbequemer und könne so Druck zur Veränderung auslösen. Außerdem schlägt sie den Schulterschluss mit Bewegungen außer - halb der Fußballblase vor, denn »Fußball wird sich erst dann systemisch ändern, wenn seine Basis umfassende Systemkritik beginnt.« »Futopia« ist ein sehr wichtiges Buch zum Nachdenken, Visionen- entwickeln und zum konkreten Handeln. BRITT SCHLEHAHN ▶ Alina Schwermer: Futopia. Ideen für eine bessere Fußballwelt. Bielefeld: Die Werkstatt 2022. 448 S., 26 € Ein besserer Fußball Die Sportjournalistin Alina Schwermer zeigt dazu Ideen auf W enn sich ein Bundeskanzler in die Gleichbehandlung von Sport- lerinnen und Sportlern einmischt, dann kann das die Öffent- lichkeit nicht einfach ignorieren. Die Welle, die Olaf Scholz mit seiner Forderung nach Equal Pay für die Spielerinnen des deutschen Teams im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft der Frauen anstieß, hielt daher sogar ein paar Wochen. Equal Pay ist ein Motiv, um den zeitgenössischen Fußball zu ändern. Die freie Sportjournalistin Alina Schwermer stellt in ihrem Buch einige Ideen und konkrete Möglichkeiten vor, um Fußball anders zu organisieren und ihm so mehr lebensweltliche Attrakti- vität zu verleihen, oder wie sie es for- muliert: »Es wird Zeit, die Strategie zu wechseln – und bei der politischen Utopie zu beginnen.« Dafür sammelt sie unter anderem anhand von zahlreichen Interviews mit Akteurinnen und Akteu- ren Ideen, die sie in vier Komplexe ein- teilt: Ideen zur Gegenwart, Ideen für eine bessere Zukunft im selben System, Ideen für ein besseres System und Ideen zum Selbermachen. »Im Fußball gibt es kaum utopi- sches Denken.« Aufarbeitungen Die Fußballzeitschrift Der Kicker im Nationalsozialismus A m 14. Juli 1920 erschien die erste, zwanzigseitige Ausgabe der Fußballzeitschrift Der Kicker. Der Gründer Walther Bensemann (1873–1934), für den Fußball für Völkerverständigung und Weltoffen- heit stand, schrieb im März 1933 letztmals in der Zeitschrift, bevor er in die Schweiz emigrierte. Anlässlich des 100. Gründungsjubiläums beauftragte die Kicker- Geschäftsführung eine unabhängige wissenschaftliche Kommission mit der Aufarbeitung der Geschichte der Zeitschrift im Nationalsozialis- mus. Damit folgte sie anderen Unternehmen, aber auch Fußballvereinen. Zu ihren Vereinsführern im Nationalsozialismus legte beispielsweise Eintracht Frankfurt 2020 eine bemerkenswerte Studie vor. Da Luftangriffe auf den Redaktionssitz in Nürnberg die gesamte Kor- respondenz sowie die Personalunterlagen zerstörten, konzentrierten sich die Wissenschaftler um Lorenz Pfeiffer, Autor von zahlreichen und grund legenden Studien zu Sport im Nationalsozialismus, auf die Aus- wertung der Zeitschrift selbst, analysierten Texte und Karikaturen, er- forschten die Biografien der Schreibenden. Neben zahlreichen Kicker- Redakteuren aus der NS-Zeit, die auch nach 1945 in der BRD in leitenden Stellen im Sportjournalismus tätig waren, stellt das Buch beispielsweise Stella Bloch vor, die im Oktober 1933 letztmals im Kicker publizierte. Weitere Themenfelder wie Fußball im Dienste des Antisemitismus ana- lysiert der israelische Historiker Moshe Zimmermann. Der langjährige Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban ver- gleicht die Länderspiele Deutschland gegen Polen im Kicker und in der polnischen Zeitschrift Przeglᾳd Spor- towy. Im abschließenden dritten Teil stehen die Entnazifizierung und das Erbe Walther Bensemanns in der Nachkriegszeit im Mittelpunkt. Das Buch bietet neben einer reichen Ma- terialsammlung auch viel Stoff zur weiteren Beschäftigung mit dem oft- mals sich selbst als unpolitisch in- szenierenden Fußball einerseits und dem Sportjournalismus andererseits. BRITT SCHLEHAHN ▶ Lorenz Pfeiffer, Henry Wahlig (Hg.): Einig. Furchtlos. Treu. Der Kicker im Nationalsozialis- mus – Eine Aufarbeitung. Bielefeld: Die Werkstatt 2022. 432 S., 39,90 € »Wie inzwischen von der Forschung vielfach dargelegt wurde, lässt sich jedoch die lange vorherr- schende These des ›unpolitischen Sports‹ bzw. des wertfreien Sportjournalismus, auch mit Blick auf die Redaktion des Kicker, nicht halten.« www.kreuzer-leipzig.de 53

KUNST | LOGBUCH Westberliner Avantgarde »Ist ganz egal, ob man in Zehlendorf, Schöneberg oder Marzahn lebt – die Intelligenz bleibt überall gleich.« Zeichnungen von Tabea Blumenschein und Fotografien von Ulrike Ottinger Z usammenSpiel« lautet der Ausstellungsti- tel der Berlinischen Galerie, die anlässlich einer umfangreichen Schenkung von Werken Tabea Blumenscheins aus dem Besitz von Ul- rike Ottinger bis Ende Oktober zu sehen ist. Bei Hatje Cantz erschien dazu ein Schuber mit zwei Bänden. Der erste Band umfasst die Zeichnungen und Collagen der 1952 in Kons- tanz geborenen Blumenschein. Seit den 1970er Jahren arbeitete sie in Westberlin als Künstle- rin, Autorin, Schauspielerin, Regisseurin und Kostümbildnerin. 2022 gestorben, beschreibt sie Wolfgang Müller von der Performance- Gruppe »Die tödliche Doris«, deren Mitglied Blumenschein auch war, in seinem Nachruf als feministischen Queer-Punk. Andere Nachrufe nannten sie Berliner Ikone. Der Band zeigt nun Zeichnungen, die in zehn Kapitel eingeteilt sind. Von frühen Arbeiten über Chimären, Exotismus, Deutschland, Ma- trosen, Bartfrauen, Materialcollagen, Orna- mente, Freundinnen und Freunde zu Selbst- porträts. Den farbenfrohen Formen mit sehr politischen Inhalten stehen meist geschwun- gene Schriftzüge bei. Viele Motive tauchen auch im zweiten Band auf. Fast 300 Fotografien von Ulrike Ottinger, mit der Blumenschein in den 1970er Jahren zu- sammenarbeitete und -lebte, sind hier zu se- hen. Unterteilt sind sie in die Kapitel: Insze- nierung und Verwandlung, Freundinnen und Freunde, Fotonovelas sowie Aufnahmen aus unterschiedlichen Filmen von Ottinger und Blumenschein. Ihre intensive Zusammenar- beit endete 1979 mit dem Film »Bildnis einer Trinkerin«. Die Ausstellung und der Schuber lassen nun noch einmal die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren. Zu wünschen sei, dass die Bildwelten auch Ein- gang in die offizielle West-Kunstgeschichts- schreibung der 1980er Jahre finden, die sich bisweilen immer noch auf die wilde Malerei fokussiert. BRITT SCHLEHAHN ▶ Tabea Blumenschein, Ulrike Ottinger: ZusammenSpiel, Deutsch/Englisch. Berlin: Hatje Cantz 2022. 576 S., 68 € (zwei Bände im Schuber) Gesamtkunstwerk Ottinger Ein Katalogbuch zur Ausstellung in Baden-Baden 2021 »Ottinger konstruiert und montiert – jenseits von oder in kritischer Bezugnahme auf die kapitalistische Spektualisierung.« U lrike Ottinger, 1942 in Konstanz geboren, erhielt vor einem Jahr den Hans-Thoma- Preis, den Staatspreis des Landes Baden-Würt- temberg, für ihr Lebenswerk. Die Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden 2021 und der damit verbundene Katalog geben Einblick in ihr Schaffen seit den 1960er Jahren. Die Schau stellt zugleich die erste Einzelaus- stellung nach der Neuausrichtung der Kunst- halle mit Misal Adnan Yildiz und Çağla Ilk an der Spitze dar. Ottinger inszenierte ihre Arbeiten in den Räu- men selbst und so beginnt auch das Buch mit dem von ihr entworfenen Raumplan mit den Werken seit den 1960er Jahren – aus ihrer Zeit in München, Paris, dann wieder Konstanz und der Filmclub »Visuell« samt Galerie und Dru- ckerei und die Zeit in West-Berlin ab 1973. Ob- wohl sie seit 1972 Filme drehte, bilden die be- wegten Bilder nicht den Mittelpunkt der Schau, vielmehr sind es die Requisiten, die Re- cherchen zu ihren oftmals ethnologischen und dokumentarischen Filmen. Eine Brücke in die Gegenwart schlagen die Texte der Kunsthallenleitung – etwa der sehr persönliche Zugang von Misal Adnan Yildiz in »Eine Art queeres Glossar«. Die Kunsthistorikerin Hannelore Paflik-Huber hält in »Die Welt lesen – Ulrike Ottingers Bild- welten« fest, es handle sich »nicht nur um eine Ausstellung«. »Sie ist eine Visualisierung des Lebens der Künstlerin. Sie ist ein großes, zu- sammenhängendes Bühnenbild, das sich auch in einzelne Szenenbilder unterteilt. Das Thea- terstück dazu schrei- ben wir selbst als neugierige und auf- merksame Betrachter*innen. Wir erzeugen im Se- hen unsere eigene Welt.« Die Doku- mentation der Aus- stellung hat von dem Reiz wenig einge- büßt und liefert viel lesens- und sehenswertes Material. BRITT SCHLEHAHN ▶ Staatliche Kunsthalle Baden-Baden (Hg.): Cosmos Ottinger. Deutsch/Englisch. Berlin: Hatje Cantz 2022. 276 S., 48 € Geschlechterfragen »Der nächste Christus wird vielleicht ein weib- licher Christus sein.« »Frauen – Forschung – Feminismus« zeigt die Vielfalt bisher unbekannter Themen I m Juli erschien on- line der Band »Frauen – For- schung – Feminis- mus« des Hannah- Arendt-Instituts für Totalitarismusfor- schung an der TU Dresden. Die Heraus- geberinnen Claudia Böttcher und Francesca Weil betonen in ihrer Einführung, dass es sich dabei nicht um reine Frauenfor- schung handelt. Vielmehr geht es darum, den Fokus »auf politische und gesellschaftliche Hi- erarchien« zu legen und Fragen nach emanzi- patorischen Auswirkungen zu stellen. Die Themenfelder sind Jahrhunderte übergrei- fend. Jeannette van Laak stellt Lea Grundig (1906–1977) vor. Der Werdegang der unter an- derem Vorsitzenden des Verbandes Bildender Künstler in der DDR wurde meist den politi- schen Ideologien des 20. Jahrhunderts unter- geordnet, ihre biografischen Erfahrungen wur- den kaum im Detail betrachtet. Dies gilt auch für ihr heute wieder zu entdeckendes künstle- risches Werk. Van Laak zeigt die großen Defi- zite in der Forschung einer doch sehr bekann- ten Frau auf. »Vergessene Bauhaus-Frauen – Lebensschick- sale in den 1930er und 1940er Jahren« stellt Anke Blümm vor. 2021/22 organisierte sie die gleichnamige Ausstellung im Bauhaus-Museum Weimar in Kooperation mit der Uni Erfurt. Von den 462 am Bauhaus von 1919 bis 1933 ein- geschriebenen Studentinnen sind nur von zwei Dritteln die Lebensdaten überliefert. Sie dem Vergessen zu entreißen, bildete eine Aufgabe des Projektes. Weitere Themen sind die ost- deutsche Frauenbewegung in den 1990er Jah- ren in Leipzig, die Integration afghanischer Frauen in Deutschland, Wandlungen im Ge- schlechterverhältnis jüdischer Familien (1933– 1945), Vagabundinnen um 1900, der Beginn des modernen Krankenpflegeberufs oder rechte Onlinebewegungen und Mannosphäre. Ein interessanter und materialreicher Band. BRITT SCHLEHAHN ▶ Claudia Böttcher, Francesca Weil (Hg.): Frauen – For- schung – Feminismus. Dresden: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung 2022. 110 S., kostenfrei online: urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-784815 www.kreuzer-leipzig.de 55

Beim Teutates Herrn Hase fällt die Welt auf den Kopf – fast COMIC | LOGBUCH D ie spinnen, die Römer«, denkt sich unser Protagonist. »Und alle anderen auch.« Bis er merkt, dass er sich nicht in einem Asterix- Themenpark befindet, sondern Herr Hase der Gallier ist. Das jüngste erstaunliche Abenteuer führt unseren Helden in jenes unbeugsame Dorf, das noch nicht von den Römern be- setzt ist. Und plötz- lich kippen die Legi- onäre nicht mehr nur aus den Lat- schen, sondern wer- den Keilereien zu Splatterszenen und Keiler zu tödlichen Waffen. Lewis Trondheim gelingt das Unglaubliche: Er setzt wieder einen oben drauf und dreht die Stellschraube des Absurden ein Müh weiter. Herr Hase ist so etwas wie die Abrafaxe für Er- wachsene. Wie diese springt er durch Zeiten und Dimensionen, muss Prüfungen bestehen. Im Gegensatz zu diesen hat er keine Lust dazu, ist wenig wissbegierig und will eigentlich nur seine Ruhe. Außerdem ist er immer noch in seine Ex-Maus Nadja verliebt und hat seine 13-jährige Absenz von der Comic-Bildfläche nicht verdaut. In kafkaesken Labyrinthgängen ist Herr Hase also auf Aventüren unterwegs, ohne anzukommen, aber öfters einen tiefsin- nigen Gedanken fassend. Wenn ihm sein begleitender Katzenkumpel Richard nichts Dummes reinquatscht. Nun sind die beiden also nach Aremorica ge- stürzt, um einen Bösewicht zu stellen, der das Geheimnis des Zaubertranks stehlen will. Hase findet sich im Körper von Asterix höchstselbst wieder und hat so seine Mühe mit Obelix’ einfachem Gemüt. Aber er findet sich ein, er kennt ja die Comics. Lewis Trond- heim offensichtlich auch, denn er legt in sei- nem Funny-Stil hier eine liebevolle Hommage an die Gallier vor, die aber auch alle Zutaten der Hase-Reihe beinhaltet. So verschmilzt er anspielungsreich zwei Welten zum hochkomi- schen Amalgam. Als Nächstes wäre das Mosaik an der Reihe. TOBIAS PRÜWER ▶ Lewis Trondheim: Die neuen Abenteuer von Herrn Hase 6: Beim Teutates! Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Berlin: Reprodukt 2022. 48 S., 13 € »Sie geben Obelix besser als Gérard Depardieu.« Freigeist voraus Corto Maltese ist zurück, lässig wie nie »Warum jagst Du immer hinter Sachen her, die es gar nicht gibt?« E s scheint das Comic-Jahr der Remakes, Hommagen und Neuerfindungen zu sein. Sei’s drum, solange sie gut sind. Und der neue »Corto Maltese« ist richtig gut. Einst von Hugo Pratt erfunden, war Corto ein Pirat, der sich auf den Weltmeeren Anfang des 20. Jahrhun- derts herumtrieb – und in die Wirren der Zeit geriet. Er machte sein Ding, schlug sich oft auf die Seite der Unterdrückten. Das teilt er mit dem neuen Corto. Dieser hat eine Zeitreise hinter sich. Szenarist Martin Quenehen katapultiert ihn mit »Schwarzer Ozean« ins Jahr 2001. Baseball- kappe ersetzt die Kapitänsmütze, lässig er- scheint der junge Mann – Typ ewiger Teen- ager – mit dem Ohrring. Corto ist einem Schatz in Peru auf der Spur, den reklamiert auch eine japanische Terrorgruppe für sich, und das Attentat vom 11. September in New York naht. Epochales, Katastrophe, ja: Zeiten- wende zeichnet sich im Hintergrund ab. Natürlich kreuzt wieder eine Frau seinen Weg, nun ist es eine Filmerin, Kriegsreporterin und Öko-Aktivistin. Nur Rasputin ist derselbe als böser Gegenspieler. Bis auf wenige Seiten hat der als Entdeckung gefeierte Bastien Vivès die Seiten in Graustu- fen gehalten. Zart sind die Linien, eher lässt er Striche weg, um ja nicht zu überladene Panels zu gestalten. Das verleiht ihnen eine Offenheit, etwas Skizzenhaftes, aus dem Freiheitsliebe spricht, was schließlich das Thema beim alten und neuen »Corto Mal- tese« ist. Weich fallen die Konturen, als ob eine stetige Brise die Bil- derfolge durchweht, wie ein Hauch von Melan- cholie. Denn ohne diese ist der Drang nach Autonomie und Unabhängigkeit nicht zu ha- ben, weil sie nie total sein können. Auch das ist eine Konstante bei »Corto Maltese«, dem alten, neuen Freigeist. TOBIAS PRÜWER ▶ Bastien Vivès, Martin Quenehen: Corto Maltese – Schwarzer Ozean. Aus dem Französischen von Resel Rebiresch. Hamburg: Schreiber & Leser 2022. 184 S., 24,80 € ANZEIGE www.kreuzer-leipzig.de 57

COMIC | LOGBUCH Inspiration aus dem Dunkeln »The Me You Love in the Dark« illustriert die Schrecken der Kreativblockade A us dem Dunkeln schleicht es sich an. Erst ist es nur eine Stimme, wird dann zum Schatten und zur Kreatur. Sie schmeichelt der Malerin Ro Meadows, die auf der Suche nach Inspiration in die alte Villa im Nirgendwo ge- zogen ist. Hauptsache, raus aus der Großstadt, wo Ro keine Anregungen mehr für ihre Kunst findet. Egal, dass sie alle vor dem Spukhaus warnen. Wer glaubt schon an Gespenster? Ro wird es im Laufe von »The Me You Love in the Dark« tun. Das gängige Thema der Kreativblockade, der Angst vorm weißen Blatt und der leeren Lein- wand, wird in dieser Schauerstory auf atmo- sphärisch dichte Weise erzählt. Skottie Young und Jorge Corona, beide preisgekrönt und eher in Superhelden-Serien unterwegs, haben den alten Künstlerschock gekonnt mit Horror-Ro- mantik kombiniert. Behutsam lassen sie eine zärtliche Verbindung zwischen Ro – ein Neil- Gaiman-Charakter durch und durch – und dem geheimnisvollen Mitbewohner entstehen, aus der Leidenschaft erwächst. Bis ein Ende mit Schrecken alle Bande wie ein Kartenhaus zusammenfallen lässt. Mit gewöhnlichen Zuta- ten präsentieren sie Überraschendes. Denn der Comic entpuppt sich als mehr, als eine Ge- schichte über einsame Seelen. Die Dialoge sind wortgewandt, die üblichen Phrasen fehlen. Der Comic lebt vor allem durch sein stimmungsvolles Artwork. Der ex- pressiven, in dünnem Strich festgehaltenen Mimik Ros stehen feine Licht- und Schatten- spiele gegenüber. Da blitzt ein Reflex im Schat- ten auf, dort bricht die Sonne durch einen Spalt im Vorhang ins dunkle Zimmer, strahlen Kerzen eine warme Aura aus. Stets meint man, etwas im Hintergrund zu erahnen, etwas Sinis- tres lauert im Finstren, das durch Ros Begeis- terung wie Unbekümmertheit überspielt wird. Ist da wer? TOBIAS PRÜWER ▶ Skottie Young u. Jorge Corona: The Me You Love in the Dark. Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Aust. Bielefeld: Splitter 2022. 128 S., 24 € Issogud Flix meistert die Jagd auf das Marsupilami I st es ein Affe? Ein Vogel? Ein Dings? Nicht viel Zeit hat Alexander von Humboldt zu verlieren, um das gelb-schwarze Tier zu be- stimmen. Dann wird es in eine Kiste gepackt. Zeit fürs Taxinomieren hat der Naturforscher daheim in Berlin genug. Weiter geht’s mit dem Dschungel-Durchstöbern, Jaguar-Jagen und Mumien-Mummenschanz. Doch davon wer- den die Lesenden nicht mehr viel erfahren, denn die Haupthandlung von »Das Humboldt- Tier« findet sich von der grünen Hölle in ein weißverschneites Berlin 1931 verlegt. Nachdem er bereits eine Spirou-Adaption vor- legte, beweist Zeichner Flix, dass er auch einer weiteren Hauptfigur des Fantasio-Universums Leben einhauchen kann. Und setzt mit eigen- ständiger Handschrift nicht nur Comic-Le- gende André Franquin ein Denkmal, sondern dem ganzen franko-belgischen Genre. Im Naturkundemuseum findet die kleine Mimmi in einer Kiste Humboldts Hinterlas- senschaft. Ein geheimer Zauber weckt das da- rin verstaute Marsupilami von den Toten. Eine wilde Jagd um einen bösen Hausmeister und SA-Schläger, um einen blutsüchtigen Präpara- tor und fiese Fritzen beginnt. Das geschieht in fixem Tempo, denn das Tier mit dem überlan- gen Schwanz kann nie stillstehen. Mit viel Witz hat Flix eine Geschichte entwi- ckelt, die dennoch nicht oberflächlich bleibt. Mimmis Hunger und das Schicksal ihrer al- leinerziehenden Mutter, die verachtet wird, so- wie der beginnende antisemitische Terror und die Naturforschung als Sensationalismus wer- den touchiert. Viele Comic-Serien, etwa Isno- gud, zitiert Flix an, begeistert aber vor allem durch seine Zeichnungen. Den Schwung wie den Detailreichtum des Originals fängt er auf fantastische Art ein. Feinste Linienführung sorgt dafür, dass das nicht überladen, sondern stets leicht wirkt. Er meistert wirklich alle Marsupilami-Mimiken. Darauf ein »Hub, hob, hubi!«. TOBIAS PRÜWER ▶ Flix: Das Humboldt-Tier. Ein Marsupilami-Abenteuer. Hamburg: Carlsen Comics 2022. 72 S., 16 € »Stört es dich, wenn ich es dunkel mache?« »Was Niedliches mit Eltern.« www.kreuzer-leipzig.de 59

Dampf ablassen Für ganz Kleine: Katja Reiders »So verfliegt die Wut im Nu« BÜCHER | LOGBUCH Schöne neue Bücher! I E G E Z N A Eines der Best Illustrated Books b a W er mit Kleinkindern zu tun hat, kennt das: Eben war die Welt noch in Ordnung, dann klappt eine Sache nicht so, wie sie sollte, und schon ziehen sich die Falten auf der »Denn die Wut muss raus!« kindlichen Stirn zusammen. Als Erwachsener steht man manchmal ratlos, manchmal er- schöpft vor solchen Wutausbrüchen. Das Kinderbuch »So verfliegt die Wut im Nu« von Katja Reider versucht Hilfestellung zu leisten und richtet sich dabei an die ganz Kleinen und ihre Eltern. Ein Igel möchte gerade sein neues, mühe- voll gebautes Nest vorführen, als ein Spatz darin landet. Die Vorführung ist verdorben und den Igel packt die Wut. Zum Glück wissen die andere Tiere um ihn herum Rat. Boxe in ein Kissen, stampf kräftig auf, atme tief durch. Dank ihrer Weisheit beruhigt sich der Igel schnell wieder und kann zu guter Letzt sogar den Grund für seine Wut erklären, die dadurch endgültig verraucht. »So verfliegt die Wut im Nu« ist ein sehr didaktisches Buch. Auf jeder Seite ergänzt eine Sprechblase mit Tipps für die Eltern Text und Illustrationen. Die Illustrationen wiederum sind sehr ansprechend gestaltet und werden bei vielen Kindern sicher für begeisterte Gesichter sorgen. So großäugig und liebenswert ist die Tiergemeinschaft, die da vor einer kleinen Lichtung abgebildet wird. Ob das Buch allerdings im entscheiden- den Moment wirklich eine Stütze sein kann, muss wohl jeder für sich herausfinden. Viel- leicht ja beim nächsten Wutausbruch. JOSEF BRAUN ▶ Katja Reider (Text), Antje Flad (Illustration): So verfliegt die Wut im Nu. Bindlach: Loewe 2022. 18 S., 10 €, ab 18 M. Mut wider Willen Jessica Meserve erzählt von einem Kaninchen, das in die Welt fällt D ie Welt da draußen kann ganz schön beängstigend sein. Darum ist es am sichersten, alles Bewährte in feste Regeln zu packen und von diesen niemals (!) abzuweichen. In der Welt der Kaninchen heißt das: Gut ist, was kaninchenhaft ist, also Möhren, Hoppeln, andere Kaninchen, der Kaninchenbau. Schlecht und damit gefährlich ist … alles andere. Doch eines Tages verliert Kaninchen beim Ziehen an einer appetitlichen Möhre das Gleichgewicht und fällt in ein tiefes, dunkles Loch, das kein Kaninchenbau ist. Danach stürzt es in einen Fluss, wird unkaninchenhaft nass und trifft auf etwas, das definitiv kein Kaninchen ist, sondern groß, haarig und mit Krallen bestückt. Kaninchen tut das Naheliegende: Es versteckt sich. Bald bekommt es Hunger und das Gruseltier wirft eine fremd artige Frucht in Kaninchens Versteck. Ist die essbar? Kaninchen muss es wohl ausprobieren. »Die Welt da draußen« von Jessica Meserve zeigt, was beim Ver- »Vielleicht sind ja Nicht- Kaninchen und Nicht-Möhren doch okay.« lassen der eigenen Rund um-sorglos-Zone passiert: Erst mal gibt es jede Menge Stress, dann neue Erfahrungen, darunter viele gute, wie leckeres Essen, lustige Erlebnisse und so- gar Freundschaften. Verpackt hat Meserve ihre Geschichte über einen Mutigen wider Wil- len in helle, zerfließende Wasserfarben, darüber stehen die präzisen Linien ihrer Zeichnun- gen. Dem Sturz des niedlichen Kaninchens in die Welt folgt man mit Anteilnahme, doch finden sich in den Bildern auch lustige Details, die das Drama nicht zu groß werden lassen. Am Ende ist klar: Mutig wird man nur durch Erfahrungen. Und im Zweifelsfall: Ruhig blei- ben und Möhren futtern. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Jessica Meserve: Die Welt da draußen. Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Münster: Bohem Press 2022. 36 S., 16,95 €, ab 3 J. www.kreuzer-leipzig.de , N B S I / ] A [ / ] D [ - , € , , . S Eine märchenhafte Geschichte Eine märchenhafte Geschichte voller Geschwisterliebe und Abenteurertum, die weltweit mit Lob und Preis überhäuft wird. Markus Orths Kerstin Meyer Opa fliegt b a , N B S I / ] A [ / ] D [ , € , , . S Moritz Opa Winnie hat Rekorde aufgestellt, sein wichtigster steht noch bevor: Er will der leichteste Mensch der Erde werden. b a , N B S I / ] A [ / ] D [ - , € , Ed Emberley HAU AB, DU GROSSES GRÜNES MONSTER! Moritz , . S Seite um Seite wächst ein gruse- liges Monster, das jedoch genauso schnell wieder verschwindet – wenn Kind das so will! Moritz Verlag 61

Niedlicher Horror Katja Spitzers »Ringo und die Vampirkaninchen« unterhält und sieht dabei gut aus KINDER | LOGBUCH weißes Kaninchen befindet. Mr. Constantin ist entzückt, Ringo weniger. Denn Moffat, so heißt das Kaninchen, zieht sofort die ganze Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich und ist außerdem schrecklich verwöhnt. Doch dann geschehen merkwürdige Dinge: Die Teerosen im Schlossgarten liegen zerrupft auf dem Ra- sen und nachts tummeln sich auf der Wiese unzählige Kaninchen mit roten Augen und scharfen Eckzähnen. Vampirkaninchen eben! Ringo vermutet eine Verschwörung, in der na- türlich Moffat bis über beide Ohren drinsteckt. Und dann bricht auch noch Mr. Constantin zu einer Angeltour auf, für die er über Nacht weg sein wird. Ringo schmiedet einen Plan, um Moffats Vampirkräfte abzuwehren. Doch es kommt alles ganz anders. Die Berliner Illustratorin Katja Spitzer hat bei »Ringo und die Vampirkaninchen« neben den Bildern erstmals auch für den Text gesorgt. Der ist kurzweilig geschrieben und wird von kleinen Anmerkungen am Rand noch weiter aufgelockert. So erfährt man, was Scones, Madeleines und Macarons sind und warum »Flauschbruder« kein Kompliment ist. Für die Illustrationen hat Spitzer sich auf einige we- nige Farben beschränkt, was dem Buch zusam- men mit dem Graphic-Novel-artigen Zeichen- stil einen erwachsenen Look verleiht. Das ist schön anzusehen, unterhaltsam und am Ende (Achtung, Spoiler!) siegen natürlich die Guten. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Katja Spitze: Rino und die Vampikaninchen. Hambu: Maiisch . S., , ab J. R ingo ist ein Windhund – ein Whippet, um genau zu sein – und arbeitet als Butler bei Mr. Constantin. Zusammen wohnen sie auf einem etwas heruntergekommenen Schloss in den Karpaten. Ringo ist ganz zu- frieden mit seinem ruhigen Leben, das vor allem daraus besteht, seinem Herrn Tee und fei- nes Gebäck zu ser- vieren. Eines Tages erhält Mr. Constan- tin ein Päckchen von einer alten Freundin, in dem sich ein niedliches »Die Kaninchen pöbelten laut rum.« Zerrissen »Auseinander« zeigt das Leben mit getrennten Eltern D ie Gestaltung des Buchcovers deutet es schon an: Auseinanderzugehen ist wie schmerzhaftes Zerreißen. Doch vor der Tren- nung steht erst einmal das Zusammenkom- men. Deshalb beginnen Bett e Westera (Text) und Sylvia Weve (Illustration) ihr Buch mit dem Verlieben: Zwei Menschen lernen sich kennen, spinnen an ihrer gemeinsamen Ge- schichte und gründen schließlich eine Familie. Spätestens ab da ist eine Trennung nicht mehr nur die Sache dieser Beiden. Schwierig genug, doch noch komplizierter wird es, wenn Mutt er oder Vater neue Partner finden, die ebenfalls Kinder (und Eltern! Und Cousinen, Tanten, Großonkel!) mit in die Beziehung bringen. »Auseinander« fächert das weite Spektrum menschlicher und tierischer Beziehungen auf. So erfährt die Leserschaft nicht nur etwas über das Liebes- und Familienleben der eigenen Spezies, sondern auch über das von Pingui- nen, Schwänen oder Gänsegeiern. Die Texte dazu, allesamt gereimt, spannen den Bogen von heiter bis tieftraurig. Klar ist es toll, fünf Omas und vier Opas zu haben, aber das jün- gere Stiefgeschwisterkind nervt doch. Zwei statt nur ein gemütliches Zuhause zu bewoh- nen ist eine feine Sache. Aber kann man ei- gentlich Mama oder Papa zu jemandem sagen, wenn man nicht weiß, wie lange diese Person das eigene Leben teilen wird? Und was sagt man zu Mama, wenn man gesehen hat, wie Papa die Lehrerin küsst? Die direkt zum Punkt kommenden Gedichte flankieren Illustrationen, die mit ernstem schwarzem Strich und starken bunten Farbflä- chen den Ton aufgreifen und auf der Bildebene fortsetzen. Ein Buch, das ebenso amüsiert wie nachdenklich macht. ANDREA KATHRIN KRAUS »Liebes Kultusministerium, / könnten wir nicht so verfahren: / vier Wochen länger Sommerferien / für alle mit zwei Elternpaaren?« ▶ Be e Westea (Text), Sylvia Weve (Illustation): Auseinande. Aus dem Niedeländischen von Rolf Edof. München: Susanna Riede Vela . S., , ab J. ANZEIGE Die Beststeller-Reihe von Ursula Poznanski in neuem Gewand Ein nervenzerreißender Thriller über Macht, Verrat und eine scheinbar perfekte Gesellschaft nach der Klimakatastrophe. www.ursula-poznanski.de www.kreuzer-leipzig.de 63

Zahlenreihen »Paul ist der beste Angeber der Schule.« Widerständiger Geist: Melvin Burgess’ »Voll verzählt?« KINDER | LOGBUCH P aul ist ein An- geber. Kein be- sonders unange- nehmer Zeit- genosse, aber ein Junge, der gern übertreibt. Seine Klassenkameraden kennen das, und so sind sie auch nicht weiter überrascht, als er eines Tages verkündet, bis zehn Millionen zählen zu können. Schnell macht seine Behauptung die Runde und erntet ungläubige Blicke und Gelächter. Doch dies- mal will Paul nicht nur reden, diesmal will er es allen zeigen, und so beginnt er tatsächlich zu zählen. Von den Lehrern über die Schüler bis zu seiner eigenen Mutter sind sich alle si- cher, dass Paul das nicht lange durchhält. Der schottische Schriftsteller Melvin Burgess hat sich mit »Voll verzählt?« für einen einfa- chen, aber grundsoliden Plot entschieden, der in vielem an Alan Sillitoes Klassiker »Die Ein- samkeit des Langstreckenläufers« erinnert. Natürlich braucht solch ein Plot auch eine Ge- genspielerin. Die Schuldirektorin Miss Hexx versucht erst alles, um Paul vom Zählen abzu- bringen, bis sie feststellt, dass sich mit dem Jungen Geld verdienen lässt. Ab da wird sie zu seiner Managerin und schottet das Zähl-Wun- derkind zunehmend von seinem alten Leben ab. Während die Schilderung von Miss Hexx nicht nur dem Namen nach alte Klischees von bösartigen Hexen-Frauen bedient, leider also sehr dürftig ausfällt, funkelt »Voll verzählt?« immer dann, wenn die Zahlen ins Spiel kom- men. Eine Seltenheit auf dem Kinderbuch- markt, in dessen Werken Mathe meist das Fach ist, von dem sich jeder wünscht, er könnte es abwählen. Burgess dagegen weckt Begeisterung für die vielen Nummern zwi- schen eins und zehn Millionen. Diese wird durch die sparsam gesetzten Illustrationen noch unterstrichen. Mit seiner klaren Ge- schichte, deutlich gezeichneten Figuren und kurzen Kapiteln eignet sich »Voll verzählt?« wunderbar für Leseeinsteiger und Zahlenan- fänger. JOSEF BRAUN ▶ Melvin Buess: Voll vezählt? Aus dem Enlischen von Kanut Kiches. Weinheim: Gullive . 157 S., 12 €, ab 9 J. Freunde lügen nicht Außer sie haben gute Gründe: Stefanie Höfler erzählt von Armut und Scham N its und Mischa sind schon seit vielen Jahren beste Freunde. Die beiden kennen sich in- und auswendig: Mischa ist ehrlich, schlau und weiß alles über alle Tiere. Nits ist hibbelig, hat eine große Klappe und »Ich wollte ihm sagen, dass ich nicht mehr wusste, wer er wirklich war, und dass das auch ein bisschen bedeutete, nicht mehr zu wissen, wer ich selbst war.« Ela und Fatih spricht gern in Reimen. Doch dann ertappt Nits Mischa beim Lügen, erst einmal und kurz darauf wieder. Nits weiß nicht mehr, was er Mischa noch glauben kann. Lebt dessen Mut- ter wirklich als Forscherin im Urwald? Warum war er noch nie bei Mischa und seiner kleinen Schwester Amy zu Besuch? Dann kehrt eines Tages Mischas Vater nach der Arbeit nicht mehr zurück. Nits versucht Mischa und Amy beizustehen und kommt dabei den Geheim- nissen seines Freundes auf einmal sehr nah. Stefanie Höfler schildert in »Feuerwanzen lü- gen nicht« eine berührende Freundschaftsge- schichte. Nits Enttäuschung über Mischas Lü- gen ist zuerst groß. Verständlich, denn der Verrat des Freundes trifft ihn tief und bringt sein Weltbild durcheinander. Doch obwohl ihre vertraute Beziehung zu zerbrechen droht, schaffen es die beiden, sich nicht nur wieder zusammenzuraufen, sondern auch Mischas komplizierte Probleme zu lösen. Damit zeigen sie nicht nur der jugendlichen Leserschaft, wo- rauf es bei Beziehungen ankommt: Über den eigenen Schatten zu springen und für den an- deren Verständnis aufzubringen, auch wenn man selbst vielleicht anders gehandelt hätte. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Stefanie Höfler: Feuerwanzen lügen nicht. Mit Illustrationen von Carla Haslbauer. Weinheim: Beltz & Gelberg 2022. 234 S., 15 €, ab 11 J. Eine Liebesgeschichte: Alexandra Lüthens »Ela« F atih traut seinen Augen nicht, als er eines Tages in den Wagen zur Arbeit steigt. Da sitzt doch tatsächlich eine junge Frau, die er noch nie gesehen hat, und lächelt ihn an. Für den jungen Mann, der in einer Autowerkstatt arbeitet, ist die Sache gleich klar. Diese junge Frau mit dem Namen Ela ist die Liebe seines Lebens. Oder wie sollte er sich sonst das schnelle Schlagen seines Herzens erklären? Zu Hause versucht die Mutter, den Verliebten in seinem Überschwang zu beschwichtigen. Doch Fatih ist unbeirrbar und wichtiger noch, auch Ela weiß vom ersten Moment an, dass sie mit Fatih zusammen sein will. Die Dinge könnten ihren natürlichen Gang gehen, so scheint es, wäre da nicht die Umwelt von Fatih und Ela, in deren Augen die beiden jungen Menschen vor allem eines sind: beeinträchtigt. »Unser Behin- derter« nennen die Männer auf der Arbeit Fa- tih. Die reichen Eltern von Ela nennen ihre Tochter dagegen das »besondere Kind« und tun alles dafür, sie von der Außenwelt und da- mit auch vor Fatih abzuschirmen. Alexandra Lüthen erzählt ihre Liebesge- schichte aus der Innensicht von Fatih und mit einfacher Sprache. Indem sie dicht an ihrem Protagonisten bleibt, wirkt plötzlich nicht mehr dieser beeinträchtigt, sondern zuneh- mend die Welt um ihn herum. Warum tun sich die Menschen in Fatihs Umfeld so schwer damit, ihn zu nehmen, wie er ist? Wieso müs- sen sie sich über ihn erheben? Und weshalb gestehen sie ihm nicht zu, ein erwachsener Mann zu sein und mit der Liebe seines Lebens zusammenzuleben? Selten habe ich ein Ju- gendbuch gelesen, das so packend und ergrei- fend erzählt ist. Selten erscheinen außerdem in einem Jugendbuch die Illustrationen so not- wendig wie in »Ela«, wo sie das Lese- erlebnis auf kunst- volle Weise abrun- den. Dieses Buch rührt zu Tränen und reißt Barrieren ein. JOSEF BRAUN ▶ Alexandra Lüthen (Text), Mary Delaney (Illustration): Ela. Mannheim: Kunstanstifter 2022. 200 S., 25 € »Elas Wünsche sind die besten.« www.keuze-leipzig.de 65

talk meets Buchmesse Frankfurt Blättern Sie in uns am Stand bei im Halle 3.1 D 72 neuen Atlas der Globalisierung! Auch in diesem Jahr wird die taz als überregionale Tageszeitung ganz traditionell bei der Buchmesse Frankfurt vom 19.–23. Oktober 2022 vor Ort sein. Neben dem klassischen Stand dieses Mal sogar mit eigener Bühne, dem taz Studio in Halle 3.1 D 72. Ergänzt wird die Präsenz vor Ort um unseren digitalen Auftritt im Rahmen der taz Talks unter taz.de/buchmesse. Schauen Sie vorbei. Selbstverständlich können Sie dort auch alle Buchvorstellungen im Anschluss nachschauen. Mittwoch 19.10.2022 „Godstar“ Uwe Schütte (Reiffen) Live im taz Studio und im Stream 14 Uhr Ein Essay zu den zentralen Stationen des Lebensweges von Genesis P-Orridge, der mit Throbbing Gristle die Industrial Music erfand, um dann mit Psychic TV den Grenzbereich zwischen Esoterik und Pop zu erforschen. Moderation: Ulrich Gutmair „Fahnenflucht in die Freiheit“ Thomas Wagner (Matthes & Seitz) Live im taz Studio und im Stream 16 Uhr Das Buch von Thomas Wagner ist eine radikale Revision der Demokratiegeschichte und ein Plädoyer für die politische Fantasie und Dekolonisierung des politischen Denkens. Moderation: Ulrich Gutmair „Krieg und Frieden. Ein Tagebuch“ Tigran Petrosyan, Hrsg. (edition.fotoTAPETA) Live im taz Studio und im Stream 17 Uhr Sechzehn Stimmen zum russischen Krieg gegen die Ukraine, frühere Teilnehmer*innen von Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung, berichten von den Auswirkungen des Krieges auf ihren Alltag. zusammen mit: Anastasia Magazowa Donnerstag, 20.10.2022 „Dry“ Christine Koschmieder (Kanon) Live im taz Studio und im Stream Dry handelt vom Trinken, wie es ein Leben bestimmt und vom Aufhören. Dass sich eine Frau aus der Abhängigkeit ins Schrei- ben begibt. Klar tritt sie eine Reise in die Kindheit, zum früh verstorbenen Mann, zu den eigenen Rollen als Mutter, Geliebte und Tochter an. Moderation: Doris Akrap „Der Boulevard des Schreckens“ Moritz Hürtgen (Kunstmann) Live im taz Studio und im Stream 14 Uhr Ein hochaktueller Roman zu den brisantesten Themen der Zeit über Politik und Kunst, Fakten und Fiktionen, und die Frage, was man für Ruhm und Reichtum alles tun würde. Moderation: Harriet Wolff Alle Termine und ausführliche Informationen finden Sie unter: taz.de/buchmesse „Nicht mehr normal“ Stephan Lessenich (Hanser) Live im taz Studio und im Stream 15 Uhr Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass nichts mehr normal ist? Der Soziologe Stephan Lessenich zeigt, wie die Überwindung einer überholten Normalität gelingen kann. Moderation: Ulrike Winkelmann Freitag, 21.10.2022 Der neue Atlas der Globalisierung Stefan Mahlke, Projektleiter und Redakteur Atlas der Globalisierung (Le Monde diplomatique) Live im taz Studio und im Stream 11 Uhr Die reichsten 10 Prozent der Menschheit emittieren 48 Prozent des gesamten CO2, während die unteren 50 Prozent zusammen nur auf ganze 12 Prozent kommen. Obwohl die Ärmsten nichts zum Klima- wandel beitragen, sind sie von ihm besonders hart getroffen. Diskussion zusammen mit: Ulrike Herrmann „Wir können auch anders“ Maja Göpel (Ullstein) Live im taz Studio und im Stream 12 Uhr Wie finden wir Kompass, Kreativität und Courage, um die Her- ausforderungen des Transformationsprozesses der Menschheit weniger zu bekämpfen, als vielmehr zu gestalten? Und: Wer ist eigentlich wir und warum ist das so wichtig? Moderation: Peter Unfried „Die Träume anderer Leute“ Judith Holofernes (KiWi) Live im taz Studio und im Stream 14 Uhr Judith Holofernes, eine der prägendsten Sängerinnen ihrer Generation, blickt in ihrem autobiografischen Buch zurück auf die Zeit nach den Helden, auf Krisen, Träume und eine wegweisende Entscheidung – und zeigt sich dabei als feinsinnige Erzählerin. Moderation: Peter Unfried „Entscheidung in Kiew“ Karl Schlögel (Hanser) Live im taz Studio und im Stream 16 Uhr Seit vielen Jahren ist Karl Schlögel in der Ukraine unterwegs, auch noch in jüngster Zeit. Seine Städtebilder zeigen, was gar nicht fern von uns auf dem Spiel steht. Moderation: Klaus Hillenbrand „Das Ende des Kapitalismus“ „Die Zukunft war auch schon mal besser“ Ulrike Herrmann und Jürgen Becker (KiWi) Live im Frankfurt Pavillion (Agora) und im Stream 12 Uhr taz-Journalistin Ulrike Herrmann und Kabarettist Jürgen Becker diskutieren, wie sich die Klimakrise lösen ließe. Ihr Vorschlag: Man muss von der britischen Kriegswirtschaft ab 1939 lernen – und von einem Kölner Pizzabäcker. Moderation: Doris Akrap Der Wahrheitklub tagt Live im taz Studio 14 Uhr Olé! Oder auch: „Ohne Nova klingt der Bossa spanisch mehr wie Hossa-Hossa.“ Diesen Spanien, dem Ehrengast der Buchmesse 2022, gewidmeten und sehr wahren Satz, wird der Wahrheitklub, der Herzschrittmacher der täglichen Satireseite der taz, Die Wahrheit, am Messesamstag in Spiel und Lesung gehörig auseinandernehmen. mit: Harriet Wolff, Christian Bartel und Marcus Weimer 11 Uhr Samstag, 22.10.2022