LOGBUCH | MAGAZIN LOGBUCH | MAGAZIN Engel im Rauch Auszug aus Clemens Meyers neuem Roman »Die Projektoren« L EX steht inmitt en eines Getreidefeldes, er streicht mit den Händen über die Ähren, rings um ihn nichts als Korn, gelb bewegt es sich im Wind. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, er sieht keine Wege, auf denen er gekommen ist, zwischen den Halmen. Ist er nicht eben noch in der weißen Stadt gewesen?, Belgrad, hatt e mit dem Marschall Tito einen Film geschaut in dessen kleinem Privatkino, nicht nur einen Film, Western, und zuvor im Velebit, diesem vielstufigen Gebirge, das große Wesen, so wie die Einheimischen diese Berge nennen, die Sonne blendet ihn, blendet sie alle, Hände bewegen sich in diesem Licht, Staub in diesem --- Projektorlicht, die steilen Hänge des Tulove grede, auf denen die Toten liegen, Schatt enschnitt e auf den Geröllfeldern, und wieder aufstehen, in den Filmen, die sie dort drehten. Er ist in Europa. Wieder mal. Schläft er? Als Kind träumte ich, ich wäre der Held des Dschungels, Tarzan, das Surren der Kamera, die Geräusche des Traums, der Herr eines Dschungels, der so hell und licht war, Bäume, Lianen, Blätt ergewim- mel, schwarzweiß, als läge das alles im Licht eines großen Mondes, als Kind träumte ich, ich wäre der Herr des Dschungels. LEX geht ein paar Schritt e, das Korn drängt sich an ihn, kurz glaubt er, nackt zu sein, ein Schlafwanderer, dann erkennt er, dass er seinen Wildlederanzug trägt, sie drehen deutsche Wes- tern und deutsche Abenteuerfilme, internationale Produktio- nen, seit Jahren schon, in den Bergen, in der Ebene, im Land des Marschalls, Film um Film, die Kamera läuft ununterbrochen, als würden sie nie ruhen, nie schlafen, als würden sie spielen und kämpfen, spielen und lieben und kämpfen, spielen und spielen, Film um Film, nie ruhen, nie schlafen, Tage und Nächte, das Knallen der Klappen, das Knallen der Schüsse, Abendrot brennt sich in Zelluloid, Nacht über dem Velebit; sein Filmkostüm, er hat es selbst mitgebracht aus Amerika. Er ist Old Shatt erhand, ein deutscher Held im Wilden Westen. Fran- senbesetzte Jacke, die ihm bis über die Hüften reicht, er fährt mit beiden Händen über das Leder, berührt seinen Gürtel, den er über der Jacke trägt, spürt die silbernen Beschläge, warm und glatt , sie blitzen im Licht der großen Sonne über dem endlosen Feld, ein gutes Ziel für einen Scharfschützen; ein alter Indianer, Dakota, schenkte den Gürtel einst seinem Urgroßvater, hundert Jahre altes Silber, älter noch, warm und glatt wie eine Men- schenhaut, LA PELLE, wie sie in Italien sagten, LEX greift sich an die Brust, ringt nach Luft, erwachen, atmen. Atmen. Ich habe lange geschlafen. Ich sehe ein wogendes Gelb, das will nicht enden. Warum bin ich hier? »Die Vojvodina ist ein Getreidefeld in der südöstlichen Mitt e der Welt.« Wer spricht da zu mir? Ein Ra- scheln um mich, Millionen Halme und Ähren berühren sich im Wind, berühren mich im Wind. Ich stand schon einmal in einem Getreidefeld vergleichbaren Ausmaßes. In Kansas, wo ich oft als Kind war. »Hello-Yellow!« Wir reisten an aus Rye, wo wir lebten (als ich geboren wurde, fiel Schnee, obwohl Mai war), Rye, ein Städtchen im Staat New York, State of, nahe der großen Stadt, the Town and the City, wo wir in die Kinos gingen, schwarzweiß, als würde ein riesiger Mond über dem Dschungel leuchten, hügeliges Land an den Ufern des Hudson, Indianerland, meine Mutt er fuhr mit mir von Rye nach Kansas, als ich ein Kind war, der Knall einer Klappe, Neubeginn, at- men, erwachen, atmen, Dunkelheit, Flammen, rot und schwarz, wie in Italien, als wir von den Küsten kamen und die Felder brannten. Menschen drin. Soldaten drin. Gräberfeld. Indianerland. State off. Zwei Flügel über ihm. Die verschwinden wieder, Sonnen- blitze, das Getreide biegt sich bis auf den Boden. Ein Engel? Nein, wahrscheinlich ein Flugzeug. Er war doch seit dem Krieg nicht mehr gläubig, obwohl das so nicht ganz stimmte, er hatt e gebetet, immer wieder, im Army-Krankenhaus, süße Heimat Amerika, als sie seinen Kopf öffneten und wieder schlossen, mit einer kleinen Platt e aus Silber. Oh Herr, erhöre mich, ich weiß, du prüfst mich, wie du einst Hiob geprüft hast. Mutt er! Mutt er? LEX erwachte, während Chirurgenhände sein Hirn berühr- ten. Schwarz lag die kleine Bibel auf dem Nachtt isch. Mutt er? Hörst du mich? LEX sah, wie sich das schmale Lesebändchen zwischen den Seiten herauswand; ein dünner, roter Wurm, der immer länger zu werden schien auf dem weißen Nachtt isch des Army-Kran- kenhauses. Hilf mir, Gott , gib mir ein Zeichen, ich liege auf der verbrannten Erde, irgendwo in Europa, zwischen anderen Körpern, und ich habe Angst vor der Dunkelheit. Mutt er? Mutt er! LEX spürt die Sonne warm auf seinem Gesicht, Chirurgen- hände in seinem Kopf, Finger wie … Er und seine Einheit fan- den ein Massengrab in Italien 1944, in der Nähe eines leeren Dorfes, nicht zugeschütt et, ein Gewimmel auf den Körpern, in den Körpern, Hände auf seinem Kopf, in seinem Kopf, eine Platt e aus Silber schließt das Loch, weich und glatt wie Men- schenhaut. Mutt er. Es tut weh. LEX weiß nicht, ob er schläft oder im Erwachen durch die schmalen Spalten seiner Lider blinzelt, weiß nicht, ob die Bil- der sich nur im Inneren seines silbern versiegelten Schädels be- wegen. Als Kind träumte ich, ich wäre der Herr des Dschungels, der mäch- tige Tarzan, all die Filme mit Johnny Weissmüller, der einst mit sei- nen Eltern aus der südöstlichen Mitt e der Welt nach Amerika kam und dann Tarzan wurde, als Kind träumte ich, ich wäre mit ihm im Dschungel, und Johnny wurde alt und grau, und ich übernahm sei- nen Platz, wurde der mächtige Herr des Dschungels, die Projektoren summten, als Kind träumte ich die Filme weiter, wenn sie schon längst vorbei waren, saß allein im Kino, und die Tiere lagen zu mei- nen Füßen. LEX liegt in einem Getreidefeld in der südöstlichen Mitt e der Welt und blickt in den Himmel, in dem die Wolken treiben und zerschnitt en werden. Ein Flugzeug? Nein, seltsame Konstruk- tion, Engel aus Eisen, Aluminium, Chrom, er kannte doch die Luftwaffe. Sonnenblitze. Engel im Licht, die Flügel gebrochen. Ich bin tot und liege am Fuß des Tulove grede und träume, dass ich erwache, über mir Geröll und Steine, wie Trümmer, wir drehen (shooting movies), und die Klappe öffnet sich und schließt sich, wie- der und …, Staub, Fliegen entkommen dieser gewaltigen Fliegenklat- sche, Janustor, Flügelschlag, »Schatz im, Winnetou, Erster Teil, Zweiter Teil, Silbersee, Szene vierund-! Die Dritt e!«, eins, zwei Flü- gel, die sich berühren. Ein Knall. Stirb. Old Shatt erhand. Überschall (shooting flies), Wüste aus Geröll. Unter einer riesigen Sonne. »Yel- low-Hello!« Ich stehe in einem Getreidefeld in der Vojvodina, in der südöstlichen Mitt e der Welt. LEX streicht mit den Händen über die Ähren, lange schmale Köpfe, weich und mit kurzen und langen Haaren, weich, als würde er die Nüstern und die Nüsternhaare eines Pferdes strei- cheln, er ist oft geritt en als Kind, und er reitet in den Filmen, und er reitet durch Europa, Italien, Kansas, er drückt ein, zwei Körner aus den Rispen, bewegt sie zwischen Daumen und Zei- gefinger hin und her. Er blickt nach oben. Spuren am Himmel. Weit oben das schaumige Weiß eines Düsenjägers. Kondensstreifen, die sich kreuzen. Er spürt ein Kribbeln in der Nase, er kann sich an allergische Anfälle von Heuschnupfen erinnern, als er ein Kind war. »Reiß dich zusam- men, Junge! Du gehst in die Landwirtschaft!« Aber nein, nein!, sein Vater war doch im Baugewerbe gewesen, und er stand nie- send neben dem Vater im Staub der Baustellen, auf den Gerüs- ten, bau auf, auf Staub, bau hoch, aus Stein …, die Jahre, in denen die Städte in den Himmel wuchsen, er stand mit dem Vater in- 10 10 www.kreuzer-leipzig.de www.kreuzer-leipzig.de