»Lyrik ist auf den Philippinen wichtiger als in Deutschland, es ist eigentlich die Kö- nigsdisziplin, mit fließenderen Übergän- gen zu Songs. Heute wird zum Beispiel mein Lieblingsrapper Gloc-9 durchaus auch als ernsthafter Lyriker wahrgenom- men. Es gibt eine Tagalog-Lyrik aus dem 19. Jahrhundert, die sich an barocken spanischen Vorlagen orientiert. Mesan- dél Virtusio Arguelles, ein toller Autor, hat gerade einen Band mit sehr experimen- tell verarbeiteten Sonetten herausgege- ben. Dann gibt es die mündliche Literatur, die alten Epen, mit denen arbeitet auch Allan N. Derain. Andere versuchen, in ihrer Lyrik an indigene Traditionen anzu- knüpfen. Dann gibt es eine unglaubliche Tradition von Liebeslyrik und politischer Lyrik, die man auch durchaus auf Face- book publiziert, um Stellung zu beziehen. Und dann die internationale zeitgenössi- sche Lyrik mit ihren Experimenten und Wiederaufnahmen von klassischen For- men.« ANNETTE HUG Verlage, so wie bei uns auch, Liebhaberver lage, wo eigentlich der Verlag selber ein künstlerisches Projekt ist. Etabliertere Autoren und Autorinnen schreiben also eher auf Englisch? Ja, es ist eine starke Entscheidung von Auto ren, zu sagen: Ich schreibe auf Filipino. Nicht immer, aber oft ist es auch mit einer politischen Entscheidung verbunden, zu sagen: Ich schreibe für den lokalen Markt. Man sagt immer, die Philippinen seien ein englischsprachiges Land, aber ich erlebe das nicht so. Englisch ist ganz klar eine Eliten sprache. »Gedichte finden außerhalb der Markt- verhältnisse statt« Wie präsent ist die Kolonialgeschichte in der Gegenwartsliteratur? Sehr. Wobei die Frage ist: Welche Kolonial geschichte? Es gab 300 Jahre spanische Kolonialzeit von 1571 bis 1898. Bleibt also überhaupt etwas von dem, was vorher war? Das ist eine sehr schmerzliche Suche. Gibt es überhaupt noch etwas Eigenes oder sind wir einfach die Ansammlung von allem, was in den letzten 400 Jahren abgeladen wurde oder was man aufgesaugt hat? Dann gibt es fünfzig Jahre USamerikanische Kolonialzeit, die heute wirkmächtiger ist, würde ich sagen, vor allem, weil die Ameri kaner die Unabhängigkeit quasi geschenkt haben, mit Wirtschaftsabkommen, die die Philippinen in einer starken Abhängigkeit gehalten haben. Bis heute. Der Aufschwung der Literatur auf Filipino war sicher in den Sechzigern, auch im Umfeld dessen, was man bei uns die 68erBewegung nennt: Es gab einen Kampf gegen den Vietnamkrieg, denn die Philippinen hatten für die USA Hilfs truppen gestellt und auf den Philippinen waren große Militärbasen der USA. Im Kalten Krieg war man enorm eingespannt, auf der amerikanischen Seite, klar, aber gleichzeitig gab es eine starke kommunis tische Guerilla. Das heißt, die Philippinen waren auch ein Kampffeld des Kalten Krieges. Ganz grob gesagt: Die Literatur auf Filipino ist jetzt eher links und in einem gewissen Sinn auch kritisch gegenüber dem USamerikanischen Einfluss – und man ist gleichzeitig auch total Fan. Der Strahlkraft der amerikanischen Popkultur entzieht sich, glaube ich, niemand. Sie meinten, dass durch den Gastlandauf- tritt auch in Deutschland ein Markt für philippinische Literatur existiert. Treten deutsche Verlage nun eher an Sie heran, um von Ihnen Vorschläge einzuholen, oder beauftragen sie Sie direkt, Bücher aus dem Tagalog zu übersetzen? Ich muss selbst ein Buch vorschlagen, muss Übersetzungsproben machen. Bei den zwei Romanen, die ich übersetzt habe und die zur Buchmesse erscheinen, war es sogar so, dass die Verlage mir glauben mussten, dass sie gut sind. Sie konnten nicht überprüfen, was ich behauptet habe. Heute ist Scout ein Beruf, man beobachtet einen Buchmarkt für Verlage, aber als Übersetzerin kann ich das nicht leisten. Das heißt, es bleibt sehr Klassiker der philippinischen Literatur »Francisco Balagtas hat im 19. Jahrhun- dert große Gedichtzyklen und Balladen ge- schrieben und gilt als einer der Begründer der Lyrik auf Tagalog im modernen Sinn. Als Vater des philippinischen Romans gilt José Rizal, der auch Nationalheld wurde, weil er zu Beginn der Philippinischen Revo- lution gegen Spanien ermordet wurde. Aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammt zum Beispiel José García Villa, ein Lyriker, der in den USA im Umfeld von E. E. Cum- mings große Erfolge hatte. Die ganze Ge- neration vor und um 68 produzierte starke sozialkritische Romane, hier sind Edgar- do M. Reyes und Amado V. Hernandez zu nennen. Und es gibt eine ganze Reihe von Frauen der Aufbruchgeneration der Acht- ziger, die auch nach Frankfurt kommen: Marjorie Evasco, Merlie Alunan, die bisher nicht übersetzt wurden, die aber in der De- legation sind. Allan N. Derain ist in der Ge- neration, die nicht mehr die tragende Ge- neration des Widerstands gegen Marcos war, sondern nach dem Ende der Diktatur zu schreiben oder zu publizieren begann.«. ANNETTE HUG Das Netzwerk Studiyo Filipino »ist eine Vernetzung zwischen philippinischen Leuten der zweiten Generation hier, die oft aus binationalen Familien kommen, und Leuten, die wissenschaftlich oder an- derweitig mit dem Land zu tun haben. Um diese Vernetzungen zu pflegen, haben wir eine Homepage und machen alle zwei Jahre ein Symposium und zweimal im Jahr salonartige Veranstaltungen in der Schweiz, haben Kontakt zu diversen Uni- versitäten und Vereinen in Deutschland, England, Frankreich und Österreich.« ANNETTE HUG, MiTbEGrüNdEriN dEs NETzwErks subjektiv, was ich vorschlage. Aber keines der Bücher wäre ohne die Übersetzungsför derung von den Philippinen veröffentlicht worden, und die große Frage ist: Werden sie das in diesem Umfang weitermachen? Es gibt schon jetzt Kritik aus den Philippinen, dass deutsche Verlage unterstützt werden, obwohl man mit dem Geld im Land selber so viel Wichtigeres machen könnte. Fakt ist, dass es auch in größeren Sprachen Kür z ungen gibt, dabei sind Übersetzungsför derungen das A und O. Worum geht es in den beiden von Ihnen übersetzten Romanen? Es gibt eine starke Tradition politisch engagierter Literatur und zunehmend ein Spiel mit Folklore, mit vorkolonialen Versatz stücken der Kultur. Das macht Allan N. Derain, das finde ich herausragend. Das Buch heißt »Das Meer der Aswang« (s. S. 13). Er versucht, die Vision zu leben, dass Filipino nicht nur Tagalog ist, sondern eben auch andere regionale Sprachen aufnimmt. Das macht das Übersetzen nicht einfach. Der zweite Roman – »Die 70er« von Lualhati Bautista (s. S. 12) – ist ein femi nistischer Klassiker aus den Achtzigern, ein sehr politischer Roman zur MarcosDik tatur, der noch vor dem Ende der Diktatur erschienen ist, also auch eine politische Inter vention war. Dieses Projekt gab mir auch die Gelegenheit, etwas von dem aufzuzeigen, was mich sehr fasziniert hat und weshalb ich auch auf die Philippinen wollte. Wie gehen Sie beim Übersetzen mit den erwähnten Regionalsprachen und Dialekten im Text um? Die größte Herausforderung der Mehrspra chigkeit war bei Bautista, dass sie eine Art »Taglish« schreibt, also Tagalog mit viel Englisch. Das ist extrem realistisch, so reden die Leute in Manila, daran haben wir im Lektorat viel gearbeitet. Es ist auf Tagalog sehr viel weniger auffällig, als wenn man das auf Deutsch macht, da hat es eine andere Konnotation. Es ist ein langer Monolog einer Mutter von fünf Söhnen, die sich 10 www.kreuzer-leipzig.de