FILM REZENSIONEN 5 6 7 8 5 Pelikanblut Muttergefühle D/BUL 2019, 121 min, R: Katrin Gebbe, D: Nina Hoss, Yana Marinova, Murathan Muslu Wiebke ist es gewohnt, die Kontrolle zu haben. Über die Pferde auf ihrem Hof, die für die Reiterstaffel der Polizei ausgebildet werden. Über ihr selbst gewähltes Leben allein mit ihrer Adoptivtochter Nicolina. In diesem Leben hat ein Partner keinen Platz. Wiebke will sich und allen anderen bewei- sen, dass sie es alleine schafft. Doch als sie sich entscheidet, erneut nach Bulgarien zu reisen und die fünfjährige Raya zu adoptie- ren, droht alles zu zerbrechen, was sie sich aufgebaut hat. Das Mädchen ist zutiefst traumatisiert und zeigt bald Verhaltensauf- fälligkeiten. Sie ist aggressiv und übergriffig und kaum zu bändigen. Aber Wiebke ist Wi- derstand gewohnt und will Raya nicht aufge- ben, auch wenn der Preis dafür vielleicht zu hoch ist. Regisseurin Katrin Gebbe, die vor sieben Jahren mit dem verstörenden Drama »Tore tanzt« über religiösen Fanatismus de- bütierte, setzt sich in ihrem zweiten Film, zu dem sie erneut auch das Drehbuch verfass- te, intensiv mit der Resozialisierung trau- matisierter Kinder auseinander. Nina Hoss verkörpert die alleinstehende Mutter, die verbissen und bis zur Besinnungslosigkeit für ihre Adoptivtochter kämpft, voller Über- zeugung. Die bemerkenswerten Kinderdar- steller sind eine Entdeckung. Allerdings nimmt »Pelikanblut«, der immer wieder Stil- elemente des Genrefilms zitiert, im letzten Akt endgültig die Wendung hin zum Horror und die Gratwanderung zwischen den Gen- res überzeugt nicht vollends. Lars tunçay ■ Passage Kinos, ab 24.9. 6 Der See der wilden Gänse Neon-Noir CHN/F 2019, auch OmU, 113 min, R: Yi’nan Diao, D: Ge Hu, Lun-Mei Kwei, Fan Liao Eine Eröffnungsszene wie aus einem Wong- Kar-Wai-Film: Regen, eine Frau in Rot mit Schirm an der Straßenecke, an der ein blutender Mann lehnt. Sie bittet ihn um Feuer und so entspinnt sich eine mitreißen- de Gangsterballade in der Provinz Wuhan, die am »See der wilden Gänse« enden wird. Als Zenong Zhou an einem Abend in sein Hotel zurückkehrt, will er eigentlich nur sei- ne Ruhe. Doch der Abstieg in den untersten Keller des Gebäudes zieht den Kleinkrimi- nellen hinein in eine blutige Auseinander- setzung konkurrierender Motorraddiebe, die in einem Wettstreit gipfelt: Wer in dieser Nacht mit seinen Männern die meisten Ma- schinen stiehlt, bekommt den lukrativsten Bezirk. Der Beginn einer langen Nacht und einer atemlosen Flucht, in der jeder der Be- teiligten nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist. Regisseur Diao Yin’an, der bereits mit seinem zweiten Spielfilm »Feuerwerk am helllichten Tage« den Goldenen Bären der Berlinale gewann, bleibt der Welt der zwie- lichtigen Typen verhaftet. Dabei verneigt er sich tief vor dem Film Noir der Frühzeit des Kinos und spielt mit Licht und Schatten, taucht seine Figuren aber auch in das Neon- licht des Hongkong-Kinos. Das alles ist ein Fest für Cineasten und fesselt darüber hin- aus mit einem packend erzählten Plot, der zahlreiche Haken schlägt und auch schon mal die Seiten wechselt, mit seiner Sympa- thie aber immer bei den Underdogs bleibt, die auch nur Opfer der Umstände sind. Lars tunçay ■ Passage Kinos, ab 27.8. ■ Schaubühne Lindenfels, ab 24.9. ■ Cinémathèque in der Nato, 25./26., 28.-30.9. 7 Space Dogs Hund und Herr A/D 2019, Dok, 91 min, R: Elsa Kremser, Levin Peter Aufgerissene schwarze Augen blicken in die Kamera. Es sind die eines Hundes, der gerade einer Raumkapsel entstiegen ist, nachdem er wochenlang im All kreiste. Was haben diese Augen gesehen? Er ist einer der wenigen, die den Wiedereintritt überlebt haben. Nach dem ersten Raumflug mit der Hündin Laika schickte die russische Regie- rung alsbald ein ganzes Rudel ins All. Die Straßenhündin gilt schließlich als National- heldin, seit sie als erstes Lebewesen die Erde von oben gesehen hatte. Dass sie an Bord verstarb und ihr Körper beim Wiedereintritt verglühte, wird eher nicht überliefert. Die Regisseure Elsa Kremser und Levin Peter spinnen die Geschichte weiter. Was, wenn der Geist Laikas in den Straßenhunden Moskaus weiterlebt? Sie beobachten zwei Exemplare, die durch eine lebensfeindliche Welt spazieren, in der die Menschen nur eine Nebenrolle spielen. Die bemerkens- werten Bilder von Kameramann Roy Imer (»Systemsprenger«) zeigen die Stadt auf Au- genhöhe der Hunde, die nach Nahrung su- chen und ihr Revier abstecken. Dazwischen immer wieder Archivmaterial der Tests an ihren Artgenossen im Raumfahrtprogramm. Aber auch der Schimpanse, den die Ameri- kaner ins All schossen, ist Teil der Narrati- on von Alexey Serebryakov (»Leviathan«), ebenso wie die Schildkröten, die ihm folg- ten, vom Kurs abkamen und vielleicht heute noch irgendwo durch den Weltraum treiben. So stellt »Space Dogs« in seinen meditativen Bildern auch das Recht des Menschen in Frage, über die Tiere zu herrschen. Lars tunçay ■ Cinémathèque in der Nato, 24.-26., 28.-30.9. 8 Vitalina Varela Im Dunkeln trauern P 2019, OmU, 124 min, R: Pedro Costa, D: Vitalina Varela, Ventura, Manuel Tavares Almeida Als Vitalina Varela in Lissabon aus dem Flie- ger steigt, ist ihr Mann bereits verstorben. Auf der Suche nach Arbeit hat er seine Frau Jahre zuvor in Kap Verde zurückgelassen. Nun ist es für ein Wiedersehen zu spät. Der portugiesische Regisseur Pedro Costa ist bekannt für seine realistische Arbeitsweise. Er dreht gerne mit unvollständigen Drehbü- chern und nicht professionellen Schauspie- lern. Varela lernte er während Dreharbeiten auf den Kapverdischen Inseln kennen. In »Vitalina Varela« spielt sie eine Version ih- rer eigenen Lebensgeschichte. Und das so gut, dass sie beim Filmfestival in Locarno den Preis als beste Hauptdarstellerin er- hielt. In langen, statischen Einstellungen begleitet die Kamera Varela dabei, wie sie die baufällige Unterkunft ihres Ehemannes bezieht. Durch das Wellblechdach pfeift der Wind und als sie einmal duscht, löst sich ein Gesteinsbrocken und trifft sie am Kopf. Der Alltag der Immigranten in Lissabon ist hart. Die anderen Männer raten der Witwe, in ihre Heimat zurückzukehren. Doch sie weigert sich, erkundet lieber das Leben, das ihr Partner ohne sie führte. Das hält einige bittere Überraschungen bereit, die Varela mit stoischer Ruhe erträgt. Dabei spielen sich die Szenen überwiegend im Dunkeln ab, Licht gibt es höchstens indirekt. Daran muss man sich gewöhnen. Doch Varelas Spiel lohnt den Aufwand. Sie ist der stille Mittelpunkt dieses eindrücklichen Films. Josef Braun ■ Schaubühne Lindenfels, ab 17.9. ■ Cineding, 24.-26.9. KREUZER 0920 39