Nach 30 Jahren kommen die Historiker, sagt man. Es ist die Zeitspanne, nach der ein großes historisches Ereignis beginnt, Geschichte zu werden, und aufgearbeitet werden kann. Am 3. Oktober jährt sich der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zum dreißigsten Mal und na ja, dann kann es jetzt ja los gehen. Die Währungsunion 1990 war eine neoli- berale Schockstrategie, um die Wirtschaft in Westdeutschland anzukurbeln. Die soge- nannte Wiedervereinigung, also der Beitritt der DDR zur BRD, ist eine neoliberale Landnahme gewesen, mithilfe der ebenso neoliberalen Taktik des »Regime Change«. Die letzte Volkskammerwahl am 18. März 1990, bei der das Ende der DDR praktisch besiegelt wurde, war völkerrechtswidrig, weil der Wahlkampf des späteren Siegers, der »Allianz für Deutschland« auf dem Gebiet der DDR aus dem Ausland (BRD) gesteuert und von dort massiv fi nanziert und beeinfl usst wurde. Die Folgen dieser Vorgänge im Jahr 1990 hatt en kriegsähn- liche Auswirkungen auf die Bevölkerung der DDR: ein Ausbluten durch massive Ab- wanderung, Zerstörung der industriellen Infrastruktur, nahezu komplett er Aus- tausch der Eliten in Justiz, Verwaltung, Kultur, Medien und Bildung, weitgehende Verarmung durch Arbeitslosigkeit, niedri- gere Löhne, tarifl ose Arbeit; verbreitete Traumatisierung einer ganzen Bevölke- rung, die sich in einem Geburtenschock, dauerhaft erhöhter Sterberate, stillen Selbstmorden und erhöhtem Substanz- missbrauch bis heute äußern. Das alles sind Thesen der Soziologin Yana Milev, die – in Leipzig geboren und aufgewachsen – inzwi- schen an der schweizerischen Universität St. Gallen zum Thema Ostdeutschland forscht. Es sind teilweise harte Worte und eine wahre Liste des Schreckens, die Milev in unserem Titeltext zum Jahr 1990 und sei- nen Folgen ab Seite 14 auspackt. Aber es gibt eben auch eine Menge ver- rückter Geschichten zu erzählen über die- se Wiedervereinigung. Man sollte neben dem Jubel und allem Schönen, das mit ihr kam, in Zukunft noch einmal neu auf das blicken, was schiefgelaufen ist, und sich auch nicht scheuen, die dafür verantwort- lichen Mechanismen und Personen zu benennen. Das wird hart für die alte Bun- desrepublik und ihren Mythos der »Deut- schen Einheit«, aber eine schonungslose Aufarbeitung ist vielleicht eine große Chan- ce für die Zukunft . Denn was die Macher der 89er-Revolution in der DDR vor allem umtrieb, war der Traum von einer besse- ren Welt. Und den muss man ja auch heute nicht unbedingt ad acta legen. Ich jedenfalls war 1990 elf Jahre alt und habe mich tierisch darüber gefreut, end- lich Haribos, Coladosen und Lustige Taschenbücher kaufen zu können. Dass es noch einen anderen Weg gab, hat mich damals wenig interessiert. Die Alternative zur Wiedervereinigung war aber nicht das Fortbestehen des Stasi- und SED-Staates DDR. Sondern es war die Idee von einem demokratischen Industrieland mit starker sozialer Grundströmung und einem hohen Anteil gemeinschaft lichen Eigentums, vol- ler gebildeter Menschen. Und das, so war es beispielsweise der Plan des französischen Präsidenten François Mitt errand, als Mus- terland in die Europäische Union (damals noch EG) aufgenommen werden würde. In EDITORIAL einem Interview in dem – übrigens sehr empfehlenswerten – Buch »Das Jahr 1990 freilegen« aus dem Leipziger Verlag Spector Books befragt der Autor Alexander Kluge den an der Organisation des Beitritt s betei- ligten Unternehmensberater Roland Berger zum Thema unabhängige DDR als Teil Europas. Berger: »Man hätt e mit Sicherheit profi tiert von Subventionen aus Brüssel, wie es auch Polen, Tschechien und Ungarn tun.« Kluge: »Man hätt e wahrscheinlich sogar mehr bekommen als Vorzeigeland.« Berger: »Natürlich. Schon allein, weil die ganzen europäischen Staatsmänner froh gewesen wären, nicht mit diesem großen, wiedervereinigten Deutschland konfron- tiert zu sein.« Kluge: »Da hätt en sie viel dafür bezahlt.« Berger: »Da hätt en sie viel für bezahlt, das ist so.« Wenn Sie Milevs Text geschafft haben, empfehle ich einen Blick in unser Interview des Monats, wo Aiko Kempen und Edgar Lopez den Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze befragen. Und gucken Sie unbedingt auch in unsere beiden Beila- gen hinein: das kreuzer-Uni-Heft u:boot und die Spezialausgabe unseres Gastro-Guides Leipzig Tag & Nacht, die beide diesem kreuzer gratis beiliegen. Eine spannende Lektüre wünscht ANDREAS RAABE chefredaktion@kreuzer-leipzig.de g g n n a a g g d d n n u u R R m m o o p p D D - - i i l l 0 2 0 2 . 0 1 . 1 1 – . 8 n n e e t t i i e e b b r r a a s s s s u u l l h h c c s s b b A A r r e e l l l l a a e e d d . . g g i i z z p p e e i i l l - - b b g g h h . . w w w w w w r r e e t t n n u u n n o o i i t t a a t t n n e e s s ä ä r r P P e e l l a a t t i i g g D D i i r r h h U U 1 1 2 2 – – 4 4 1 1 , , . . 0 0 1 1 . . 8 8 , , h h c c o o w w t t t t i i M M ) ) g g n n i i n n e e p p o o t t f f o o s s ( ( g g n n u u n n f f f f ö ö r r E E r r h h U U 0 0 0 0 : : 1 1 2 2 – 0 0 0 0 : : 4 4 1 1 g g a a t t n n n n o o S S r r h h U U 0 0 0 0 : : 8 8 1 1 – 0 0 0 0 : : 2 2 1 1 g g a a t t s s m m a a S S – g g a a t t s s r r e e n n n n o o D D 1 1 2 2 : : 0 0 0 0 – 1 1 8 8 : : 0 0 0 0 U U h h r r M M i i t t t t w w o o c c h h , , 1 1 4 4 . . 1 1 0 0 . . , , 1 1 5 5 – – 1 1 9 9 U U h h r r E E r r ö ö f f f f n n u u n n g g ( ( s s o o f f t t o o p p e e n n i i n n g g : : i i g g i i z z p p e e L L B B G G H H S S a a m m s s t t a a g g & S S o o n n n n t t a a g g D D o o n n n n e e r r s s t t a a g g – F F r r e e i i t t a a g g 1 1 5 5 : : 0 0 0 0 – 1 1 9 9 : : 0 0 0 0 U U h h r r 1 4 . 1 0 – 1 . 1 1 . 2 0 2 0 ANZEIGE a a a & & & o o o K K K u u u n n n s s s t t t h h h a a a l l l l e i i i i M M M M e e e e s s s s t t t t e e e e r r r r s s s s c c c c h h h h ü ü ü ü e e e e r r r r * * * * i i i i n n n n n e n l l l l t s n u k h c u B d n u k fi a r G r ü f e l u h c s h c o H g i z p i e L s t r A e n i F f o y m e d a c A H G B