Journées du cinéma français Leipzig E E H H C C S S S S Ö Ö Z Z E E G G A A T T M M L L F F I I I I I I G G Z Z P P E E L L I I N N A A R R F F EDITORIAL »Das sind die Ruinen von morgen. Morgen ist das alles Archäologie.« – 10 Jahre Gruppe Reitler, am 23.11. im Horns Erben Ein Freund sagte mir mal, er sei schon im- mer alt gewesen. Was wohl heißen sollte: nie Teil einer Jugendbewegung. Wenn ich jung wäre, würde ich antworten: Ich fühl’s, Mi- chael. Ich bin aber nicht jung, was ich schon lange wusste. Aber neulich dann der Beweis, will heißen: erstes Klassentreff en. Wovon ich hier Zeugnis ablege, weil es in unserer Ti- telgeschichte (S. 20) ums Erinnern geht, um den Umgang mit der eigenen Geschichte, um die Zugehörigkeit zu einem Wir. Mit an- deren Worten: Nostalgie und Peinlichkeiten. »Scheiße, seid ihr alle alt geworden«, sagt einer, den ich fast gesiezt hätt e, weil er ge- nauso aussieht wie sein Vater damals, vor 25 Jahren oder wann das war, als wir, Freun- de waren. Jetzt stehen wir vor unserer al- ten Schule. Kahlköpfi ge, zehn bis zwanzig Kilo älter Gewordene, richtige Erwachsene. Zwanzig Jahre haben wir uns nicht gesehen. Die Türe geht auf, wir die Treppen hoch, staunend, feixend, kopfschütt elnd. In der Aula, die wir auch zwanzig Jahre nicht ge- sehen haben, berichtet die 80-jährige Ethik- lehrerin, die wir zwanzig Jahre nicht gesehen haben, wann welcher Teil des Gebäudes sa- niert wurde, was wann neu gebaut wurde. Sehr undankbar, so ein Vortrag, wenn da Leute sitzen, die sich – wir erinnern uns – zwanzig Jahre nicht gesehen und also einiges zu erzählen haben. Eine neue Mensa sei gebaut worden. »Was? Es gibt nicht mehr die alte Essenküche mit der Durchreiche und den Tischen auf dem Gang?«, fl üstert mein Sitznachbar. »… mit dem Automaten, wo man Kakao und Pul- vercappuccino kaufen konnte. Und Pilz- cremesuppe, aus derselben Düse!« Wir ki- chern wie 14-Jährige, wie man nur kichern kann, wenn man still sein soll und einem das Lachen nicht rauspusten darf. »Ruhe da hinten!« – der Anschiss kommt nicht von der 80-jährigen Ethiklehrerin, sondern von meinem nach wie vor besten Freund, der irgendwo vorn in der Aula sitzt, per Whats- app. Es sind eben ganz andere Zeiten. Beim Rundgang durch die Schule dann der unangenehme Teil, also der, der den Meckerrentner in mir weckt. Auf jedem alten Geländer wurde ein weiteres – sicher TÜV-genormtes – aufgeschweißt, was ich erst mal ganz furchtbar fi nde (»Gab es bei uns nicht. Und hat es uns geschadet!?«), nur um dann noch furchtbarer zu fi nden, dass ich das aufgeschweißte Geländer »handwerklich okay« fi nde. Zu welchen Gedanken man fähig ist! Wir gehen weiter in die Turnhalle – ein hässliches Edelstahl- geländer sichert die neue Generation vor den drei, vier Stufen, die wir damals unbe- dacht freihändig rauf und runter durft en. Wir müssen unsere Straßenschuhe nicht ausziehen, niemanden interessiert die Far- be ihrer Sohlen. Die 80-jährige Ethiklehre- rin spricht über die neuen Türen und den neuen Bodenbelag – das schöne Parkett ist grauem PVC oder so was gewichen. Und die Fußbodenheizung sorge dafür, dass man die Halle das ganze Jahr nutzen könne. Wie bitt e? Bei welcher Sportart bekommt man noch mal kalte Füße? – Was ist denn mit mir los. Scheiße, bin ich alt geworden! Vor zehn Jahren hat es schon mal ein Klas- sen- bzw. Jahrgangstreff en gegeben. Hat mich nicht interessiert damals, zu ein paar Leuten hatt e ich noch Kontakt, den Rest vermisste ich nicht. Diesmal war ich aber ziemlich vorfreudig – weil ich in der Zwi- schenzeit zwei oder drei Menschen getrof- fen hatt e, die ich aus der Schulzeit oder vom Fußball ein bisschen kannte, aber nie meine Freunde genannt hätt e. Sie führten ganz andere Leben als ich in ganz anderen Städten als Leipzig. Ich hasse Smalltalk, aber mit diesen Randfi guren der eigenen Geschichte ergab sich ziemlich schnell so was wie das Gegenteil von Smalltalk. Eine schöne Erfahrung, eine erwachsene. Das Klassentreff en jetzt ist ebenfalls von diesem Vibe geprägt. »Ich hätt e gewett et, dass du was mit Sport machst!«, sagt einer, der andere: »Ich habe seit zwanzig Jahren keinen Sport mehr gemacht.« Alle wohnen entweder in Baden-Württ emberg oder wie- der hier in der sächsischen Provinz, in der Nähe der Eltern, nun Großeltern. Auf jeden Fall im Eigenheim und nicht in der Groß- stadt. Der, den ich früher aus unerfi ndlichen Gründen nicht leiden konnte, prahlt den ganzen Abend mit dümmsten Oberfl äch- lichkeiten. Der Mathe- und Informatikcrack von damals arbeitet bei IBM, okay, trägt jetzt aber zwei verschiedenfarbige Schuhe und hört nur noch klassische Musik. In all dem Gewusel im furchtbar Jugendweihe-artigen, vertäfelten Saal, für den wir das Schulgebäu- de vor Stunden verlassen haben, entdecke ich fünf Tische weiter meine große Liebe von damals. Ich bin sofort wieder verliebt. Gut, dass wir geheiratet haben, denke ich. BENJAMIN HEINE chefredaktion@kreuzer-leipzig.de A N Z E G E I KREUZER 1124 3 Passage Kinos & Schaubühne Lindenfels 20 20 –– 27 27 NOV 2024 NOV 2024 CINÉFÊTE CINÉFÊTE Französisches Jugendfilmfestival franzoesische-filmtage.de franzfilm.leipzig