Von Babylon nach DeepL Das Europa der Sprachen Eintritt frei Eine Ausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums Ausstellung bis 30. Januar 2022 Dienstag bis Sonntag 10 –18 Uhr Donnerstag 10 –20 Uhr Feiertage 10 –18 Uhr Deutsche Nationalbibliothek Deutscher Platz 1 04103 Leipzig Telefon: 0341 2271- 324 dbsm-info@dnb.de www.dnb.de/dbsm Informationen: dnb.de/uebersetzen Instagram: @buchundschriftmuseum

Knut Elstermann Im Gespräch Knut Elstermann befragt ostdeutsche Filmstars – Mit einem Vorwort von Andreas Dresen 356 Seiten, 14 x 22 cm, geb., 50 Abb., 24,– €, ISBN 978-3-86124-748-7 Moderator und Filmexperte Knut Elstermann im Gespräch mit DEFA-Filmschaf- fenden. Er bettet die Interviews in atmosphärisch dichte Beschreibungen ein, die auch vom Alltag im verschwundenen Land DDR erzählen. | INHALT I E G E Z N A : Inhaltsverzeichnis 03 Editoial 06 Aus dem Maschinenaum: Von frühen Vögeln, Fleißmeisen und Doppelbegabungen – Einblicke ins Entstehen des :logbuch TTELGESCHCHTE 31 »Lissabonleipzi«: Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman von Maria Gabriela Llansol 32 Ein Denkmal setzen: Verlage und der Buchhandel im Exil ermöglichten es emigrierten Autoren, weiterschreiben zu können – ein Kompendium beleuchtet ihre Rolle in der NS-Zeit 08 Leben im Futu : Die Buchbranche 34 »Sie leichen niemand«: Hans-Dieter Schütt Klaus Lederer Die Sterne über Berlin – Mit einem Vorwort von Gregor Gysi 272 Seiten, 13,5 x 21 cm, Pb., 30 Abb., 18,– €, ISBN 978-3-89809-186-2 hat in den vergangenen 14 Pandemiemonaten eine steile Lernkurve absolviert – wir stellen Buchmenschen vor, die über Hygienekonzepte und Livestreams hinausdenken 17 Ecco Fesh: In Hamburg haben fünf Frauen einen neuen Literaturverlag gegründet Klaus Lederer ist derzeit Kultur- und Europa-Senator in Berlin. Er ist ein Linker mit Lebenslust und Nerv für die Tat. Im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt kom- men auch ganz private Themen zur Sprache. 18 Laute Lieblinsbüche: Ein Besuch mit Rundgang in der Druckerei Pöge, einem Familienbetrieb in zweiter Generation mit Sinn fürs Künstlerische Die literarischen Halbgö–er Charles Baudelaire und Gustave Flaubert waren Waffenbrüder im Leben wie im Schreiben – vor 200 Jahren wurden sie geboren 36 Das auseleuchtete ch: Die Lektüre von Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« verlangt Lesenden viel ab – schenkt ihnen aber noch mehr 38 De Liteatuvemile: Er war Herausgeber, Autor und Verleger – Gerhard Wolf hat die Begegnungen, die sein Leben prägten, in einem Erinnerungsbuch festgehalten 39 Kuznachichten: Kurt-Wolff-Preis 2021, der Podcast »Leipzigs neue Seiten« und die Comic-Convention »Snail Eye« 40 Genaue Beobachte: Johny Pi–s erhält den diesjährigen Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sein Reportagebuch »Afropäisch« 41 »De Zufall baucht Raum«: Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse, über schwierige Entscheidungen, das diesjährige Leseprogramm und Zukun‰skonzepte 42 De Antiquaiatsundan 2021 MAGAZN 24 »Gemeinsamkeit und Vebindun«: Jobst Welge, Leipziger Professor für Romanische Literaturwissenscha‰, im Gespräch über portugiesische und portugiesischsprachige Literatur 28 He Kaus und die Nelken: Vier Empfehlungen neuer Bücher von der Direktorin des Portugiesischen Kulturinstituts in Berlin 30 Lissabon in Leipzi: Die »portugiesische Bibliothek« des Leipziger Literaturverlags Andreas Ulrich Die Kinder von der Fischerinsel 224 Seiten, 13 x 19,5 cm, geb./SU, 41 Abb., 20,– €, ISBN 978-3-8148-0250-3 Radiomoderator und Journalist Andreas Ulrich auf Spurensuche: Nach fünf Jahrzehnten begibt er sich auf die Suche nach seinen einstigen Mitschülern. Die Recherche führt ihn weit über die Grenzen Berlins hinaus und offenbaren berührende und bewegende Lebensgeschichten. Manfred Maurenbrecher Der Rest ist Mut Vom Liedermachen in den Achtzigern 272 Seiten, 13 x 19,5 cm, geb./SU, 30 Abb., 22,– €, ISBN 978-3-86124-744-9 Liedermacher und Kabaret- tist Manfred Maurenbrecher beschreibt seinen Weg in die schillernde Welt der professionellen Popmusik Anfang der 1980er Jahre. Er berichtet von seinen oft auch verstörenden Erlebnissen im Zwielicht zwischen Politik und den schrägen Milieus der Musikwelt. | IMPRESSUM kreuzer Spezial die Frühlingsausgabe des :logbuch 2021 erscheint als Beilage im Maiheft des kreuzer und in den Aboauf- lagen von Journal Frankfurt, Sax Dresden und Lift Stugart. Herausgeber: KREUZER Medien GmbH Leipzig Verlagsleiter: Egbert Pietsch, Tel. (0341) 2 69 80 70 Chefredaktion: Juliane Streich (V.i.S.d.P.) Redaktion dieser Beilage: Linn Penelope Micklitz, Benjamin Heine Gestaltung/Satz: DIE WERFT © Kommunikationsdesign, Elisa Merino Vazquez, Tanja Kirmse Produktionsleitung: Andrea Kathrin Kraus, Tel. (0341) 2 69 80 42 Autoren: Lucia Baumann, Josef Braun, Kaśka Bryla, Thorsten Bürgermann, Angelika Corbineau-Hoffmann, Sven Crefeld, Marcel Hartwig, Lea Heilmann, Benjamin Heine, Anna Hoff- meister, Maurus Jacobs, Nils Kahlefendt, Anna Kow, Andrea Kathrin Kraus, Martina Lisa, Maria Gabriela Llansol, Mark Lehmstedt, Petra Mewes, Linn Penelope Micklitz, Egbert Pietsch, Tobias Prüwer, Nele Rebmann, Franziska Reif, Myriel Richter, Sibel Schick, Kay Schier, Bri– Schlehahn, Olaf Schmidt, Hanna Schneck, Joachim Schwend, Patrícia Severi- no, Juliane Streich, Nele Thiemann, Frank Willmann Fotografen: Artis Edition, David Außerhofer, Tobias Bohm, Phil Dera, Nils-Christian Engel, Espaço Llansol, Joachim Gern, Christiane Gundlach, Juliane Henrich, Paul Hildebrand, Leonard Hilzensauer, JaJa Verlag, Tim Jockel, Nils Kahlefendt, Thomas Kunz, Leipziger Messe GmbH/Martin Jehnichen, Carmen Laux, Literaturhaus Berlin, Elisa Merino Vazquez, Andreas Pein/laif, Franziska Reck, Valerie-Siba Rousparast, Gerd Schroff, Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag, Be–ina Theuerkauf, Victoria Tomaschko, Radmila Vankoska, Renate von Mangoldt, Karin Wieckhorst Nicht immer gelingt es, die Rechteinhaber von Fotos zweifelsfrei zu ermieln. Berechtigte Anspruchsinhaber wenden sich bie an den Verlag. Preisänderungen und Irr tümer vorbehalten www.bebraverlag.de 4 www.keuze-leipzi.de

| INTERNES Fühe Voel Der erste fertige Text dieses Heftes war die Rezension von Hanna S c h n e c k zu Daniela Strigls Buch »F a u l h e i t« – ungelogen! Fleißmeisen Tobias Prüwer hat für dieses :logbuch 18 Bücher und 6 Hefte gelesen, Linn Penelope Micklitz 17 und Andrea Kathrin Kraus 11. Vielen Dank – auch an alle anderen Beteiligten! Lobende Ewähnun Andrea Kathrin Kraus – fürs Lesen des 335- seitigen PDFs über Alfonsina Strada, bei dem auf jeder einzelnen Seite ein Wasserzeichen das Lesen jeder einzelnen Textzeile störte. Nele Thiemann – fürs Lesen eines gar 528-sei- tigen PDFs zu einem Buch von Mark Twain, das – wie es der Mare-Verlag fürs Publikum ganz richtig entschieden hat – wun- derschön gebunden in einen Schuber gehört und nicht auf einen Monitor. ANZEIGE Das Damengambit (Netflix) Gefatestes Buch Diese Bücher wollten die meisten unserer Rezensenten und Rezensentinnen lesen: Louis-Ferdinand Céline »Tod auf Raten« (erscheint erst im Juni – und damit erst im Herbst-:logbuch), Nick Cave »Stranger than Kindness« (siehe S. 84), George Orwell »Tage in Burma« (siehe S. 49) und Tamar Tanda- schwili »Als Medea Rache übte und die Liebe fand« (auf Oktober verschoben und hoffentlich im Herbst-:logbuch). Lieblinssatz Nicht mal das moendliche Fisieen seines Sohns will elinen. (Maurus Jacobs, S. 53) Doppelbeabun Falls Sie sich fragen, was eine kreuzer- und :logbuch-Veranstaltungsredakteurin macht, wenn es da draußen keine Veranstaltungen gibt: Sie liest ein Buch – und lässt sich dabei von der kreuzer- und :logbuch-Bildredakteurin fotografieren (im Gasometer Nord übrigens, das die Stadtwerke Leipzig uns freundlicher- weise fürs Titelbild-Shooting zur Verfügung stellten). Die Sonne geht auf: FILMJAHR 2020|2021 Entdeckerfreude auf jeder Seite: Was waren die bedeu- tendsten Filme und Serien des Jahres? Welche Perso- nen und Debatten haben das Filmjahr geprägt? 1500 Besprechungen von Filmen, Interviews und Texte, Blicke hinter die Kulissen, Filmpreise. 544 Seiten prall gefüllt. 544 Seiten | zahlreiche Abb. | € 28,00 ISBN 978-3-7410-0371-4 6 Tenet (Warner Bros.) www.schueren-verlag.de Weathering With You – Das Mädchen, das die Sonne berührte (Leonine) www.keuze-leipzi.de

F O T O : L I T E R A T U R H A U S B E R L N I : Ein Jah (Es eht voan) Nils Kahlefendt hat sich im Liteatubetieb / umehöt und umesehen und jetzt die gute Nachricht: Scheiß auf alle Prachtalleen und Plätze. wir werden einander in Forsten begegnen. der ganze Sauerstoff wird uns richtig high machen. Ulrike Almut Sandig, Anleitung zum Lachen auf Abstand K rise als Chance? Kann man den Spruch noch hören? Mancher wird nach 14 Pande- mie-Monaten beim Blick in die Bilanzen ge- wisse Schwierigkeiten haben, sich diesen Ever- green der Selbstoptimierungsseminare zu eigen zu machen. Die Einbußen aus gefühlt endlosen Lockdowns drücken Buchhandel, Verlage, Autorinnen, Übersetzer, Veranstalte- rinnen und Literaturkritiker. Wir reden hier, alle wissen das, nicht nur von Euro- und Centbeträgen. Nicht selten liegen die Nerven blank. Wie weiter? Doch Corona beschert der oft als konservativ gescholtenen Buchbranche auch einen anderen Umgang mit Alternativen und Möglichkeitsräumen. Genutzt werden sie unter Konzerndächern ebenso wie von kleinen Independents, von Neugründern wie von alten Hasen: Jetzt erst recht! Wir erleben Picknick- Lesungen, Kulturbiergärten und Pop-up-Büh- nen, Buchhändlerinnen auf Lastenfahrrädern und Stammkunden, die vom Sortimenter um die Ecke emi“ierte Büchergutscheine kaufen, als wären es Vorzugsaktien. Dringend gesucht, noch immer: Veranstaltungsformate, die den digitalen Raum so nutzen, dass er nicht wie ein trauriger Abklatsch des bisher Gewohnten wirkt, ebenso intelligente Mischformen zwi- schen digital und analog. Viele scheinen jetzt genau das zu tun, was sie schon immer einmal ausprobieren wollten – frei nach Winston Churchill, der da meinte: »Verschwende nie eine gute Krise!« Weckuf vom Balkon Als Orte, an denen das literarische Feld summt und brummt, sind Literaturhäuser einst er- funden worden. Am Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße, 1986 als erstes seiner Art im deutschsprachigen Raum gegründet, wird dieser Tage überwiegend zwangsentschleu- nigt im Homeoffice weitergearbeitet. Die Kulturangebote sind ins Netz umgezogen, die analoge Öffentlichkeit bleibt draußen. »Wie mag es unserem Publikum gehen, wann darf es wieder zu uns kommen?«, fragt sich Janika Gelinek, die das Haus zusammen mit 8 www.kreuzer-leipzig.de

» Wir sind es einfach gewohnt, unterwegs zu sein, andere Bilder zu haben, anderen Menschen zu begegnen. « | TITEL bereits 2018 geschriebenen Pandemie-Roman ›New York Ghost‹ ins Frühjahr vorgezogen. Die- ses brandaktuelle Buch hä‚en wir nicht gut später bringen können. Aber verschieben, egal ob nach hinten oder vorn, ist immer riskant und ein Kraftakt.« Nicht verschoben wurde Becks im letzten Juni erschienener Thriller »Pa- radise City«. Zum Glück: Die Dystopie über ein Deutschland der nahen Zukunft, als schöne neue Welt mit sehr gesunden Menschen und hässlichen Wahrheiten entworfen, wird – wie- wohl lange vor Corona geschrieben – immer noch als Buch der Stunde gelesen und hat mehrere Preise erhalten, unter anderem den Deutschen Krimipreis 2020. Viele Lesungen sind ausgefallen oder mussten ins Digitale ausgelagert werden. Im Sommer gab es aller- dings einige glückliche Wochen mit Live-Veran- staltungen: »Auf Einladung der Berliner Tu- cholsky-Buchhandlung habe ich zum Beispiel neben einem Fußballplatz gelesen, der Trai- ningsbetrieb lief weiter. Das Publikum war mit Funk-Kopfhörern ausgerüstet und konnte so, unter Wahrung der Abstände, in den Text ein- tauchen.« Das Leben in den Büchen Am vorletzten Verkaufstag vor dem für Sach- sen verhängten neuerlichen Lockdown trom- melt es lange vor zehn Uhr an die Ladentür der Dresdner Buchhandlung Lese-Zeichen: Kun- den, die auf dem Weg zur Arbeit ihre Bestel- lungen abholen möchten. Jörg Scholz-Nollau, der Chef, lässt sich erweichen, obwohl er ei- gentlich noch letzte Bibliothekslieferungen packen wollte. Double your time! Das Telefon hört derweil kaum auf zu klingeln. »Lebens- wege sind oft Kreuzwege«, weiß Scholz-Nollau. Um ein Haar wäre der Dresdner, dem das Werk des Dichters Johannes Bobrowski (1917–1965) in der Enge der letzten DDR-Jahre die Tür zur Literatur aufgestoßen ha‚e, Architekt gewor- den. Doch 1998 hängt er sein Studium an den Nagel und eröffnet am Rand der Dresdner Neustadt seine Buchhandlung Lese-Zeichen. Als Mann vom Fach erkennt er das Potenzial des kleinen Altbaus in der Prießnitzstraße: Geschickte Durchbrüche sorgen für mehr Licht und Raumwirkung, die alte Hausdurchfahrt ist heute mit deckenhohen Regalen Teil der Verkaufsfläche, der ehemalige Hinterhof wird sommers als Lesegärtchen genutzt. Die grauen Metallregale erweisen sich als überaus praktisch, als die Prießnitz während der Elbe- fluten 2002 und 2013 zum reißenden Strom wird und das Wasser im Laden steht. Dass das Lese-Zeichen nun ausgerechnet im irren Co- rona-Jahr 2020 beim Deutschen Buchhand- lungspreis unter den besten Acht der Republik rangiert, empfindet Scholz-Nollau zuallererst als Bestätigung seiner Arbeit. Mancher, der in den Nullerjahren im bunten Szene-Viertel schwungvoll durchstartete, hat es nicht ge- schafft. Das Prinzip der Buchhandlung als Kulturort – im Lese-Zeichen ist es mit Händen zu greifen. Lesungen sind ein wichtiger Bau- stein; die allererste fand im noch leeren Laden sta‚. Autoren, die heute einen Namen haben, gingen dort ihre ersten Schri‚e, »Pionierarbeit« nennt es Scholz-Nollau: Uwe Tellkamps Debüt »Nautilus« feierte in der Prießnitzstraße Pre- miere, vom Dichter Thilo Krause gab es noch kein Buch, als er hier auftrat. Dazu kommen quartalsweise Ausstellungen; eben kann man frühe Skizzenbuchblä‚er des Dresdner Malers Hubertus Giebe bewundern. Flankiert wird das Ganze von einer Dauerwerbefläche auf weni- gen Zentimetern Pappe: Die Lesezeichen der Buchhandlung, immer mit einem Gedicht und der Einladung zum Kaffee bedruckt, sind längst Kult. Manchmal wächst sich der for- cierte Kaffeeklatsch zur Jazz-Improvisation am hinter der Ladenkasse wartenden Klavier aus. Klar, dass ein Geschäft, das eine einzige Feier der spontanen Begegnung zu sein scheint, be- sonders unter den Schließungen ächzt. Doch 10 www.keuze-leipzi.de www.keuze-leipzi.de T D N E F E L H A K S L N I : O T O F

| TITEL F O T O : I N L S K A H L E F E N D T feste Termine lassen sich nicht per Wimpern- schlag verschieben. Regina Vogel ist zuver- sichtlich: »Wenn wir alle miteinander beson- nen handeln, kommen wir da durch.« Kisenoutinen Als der Logistikdienstleister Zeiracht im Au- gust 2019 die insolvente KNV-Gruppe über- nommen ha‡e – und damit den vielleicht größ- ten Branchen-GAU der jüngeren Geschichte abwendete –, sprach der damalige Zeiracht- CFO und frischgebackene KNV-Geschäftsfüh- rer Frank Schulze vor 700 Beschäftigten in Erfurt-Mi‡elhausen. Nach der Ruck-Rede, für die, wegen zahlreicher Saisonkräfte, extra eine polnische Simultan-Dolmetscherin engagiert wurde, düste Schulze ins rund 140 Kilometer enernte Rötha. Er hielt seine Rede noch ein- mal, diesmal vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der seit 1995 hier ansässigen Leipziger Kommissions- und Großbuchhan- delsgesellschaft, kurz LKG. Nun brauchte er keine Übersetzung, bei der Belegschaft stieß er sogar auf Sympathie: »Gut möglich, dass das an meinem Outing als Leipziger lag«, erinnert sich Schulze. »Außerdem habe ich, anders als die Stu‡garter, von der LKG gesprochen. Auf solche Nuancen achten die Leute.« Dass der durch das KNV-Engagement von Zeiracht zum Buchbranchen-Quereinsteiger gewordene Schulze vier Monate später recht geräuschlos die LKG übernahm, hat auch eine sentimentale Unterfü‡erung: Von seiner Wohnung im Leipziger Grafischen Viertel aus kann er die inzwischen restaurierte Siebziger-Jahre- Leuchtreklame am einstigen LKG-Stammsitz in der Prager Straße sehen (»Mehr lesen, wis- sen, können«). Nach zwei reibungslos verlau- fenden Monaten bescherte Corona dem neuen Chef eine Vollbremsung mit quietschenden Reifen: »Wir haben über zwei, drei Wochen in den Abgrund geschaut. Innerhalb kürzester Zeit waren wir bei Tagesumsätzen von 30.000 Euro angekommen«, sagt Schulze. »Das war ein Einbruch auf ein Fünftel des Üb- lichen.« Als gelernter Banker, der die Finanz- krise 2008 miterlebt hat, weiß er, wie sich das anfühlt. Krisenroutinen. Glücklicherweise hat sich das Buch innerhalb kurzer Zeit neue Wege zum Kunden gesucht, für die LKG ging es relativ zügig wieder bergauf: »Die Kurve be- schrieb ein V ansta‡ eines U, das von man- chen befürchtet worden war.« Dass man mit Ravensburger einen potenten Kinderbuch- verlag und Spieleanbieter im Kundenporolio hat, einen also, der in der Pandemie enorm zulegte, war hilfreich. Nach teilweiser Kurzar- beit im April und Mai lief es im Sommer be- reits besser als 2019; der Oktober wurde dann zum umsatzstärksten Monat seit 1990. Als es mi‡en in der Corona-Krise des Frühjahrs zu einem teilweisen Verkaufsstopp von Büchern bei Amazon kam, begann die LKG, mit der Online-Pla‡form lkg24.de einen Marktplatz für Endkunden aufzubauen – inzwischen fir- miert man unter: buchwasgutes.de. »Schon vorher konnten nicht alle Bücher unserer Ver- lage gekauft werden. Die Barsortimente schränken ihre Auswahl ein, der Buchhandel kauft, was sich schnell dreht. Auf buchwasgu- 12 www.keuze-leipzi.de

| TITEL G A L R E V A J A J : O T O F Velaswesen Wer wie Anne e Köhn in Erlangen, der Stadt des Comic-Salons, geboren wird und dazu noch visuelle Kommunikation in Nürnberg und Berlin-Weißensee studiert, muss früher oder später vermutlich Comic-Verlegerin wer- den. 2006 eröffnet Köhn, die sich nach ihrer Ausbildung »nicht in einer Werbeagentur be- werben« will, mit weiteren Gestalterinnen in einem Neuköllner Ladenlokal die Atelierge- meinschaft Musenstube. 2011 gründet sie eben dort ihren Jaja Verlag – die ISBN-Nummer des ersten Titels, »Alltag in Berlin« von Maki Shimizu, kann sie noch immer im Schlaf her- sagen. Über die Jahre mausert sich der kleine Verlag zu einer Pla” form für den Comic-Nach- wuchs. »Über die Hälfte aller hier erschienenen Bücher und Hefte sind Abschlussarbeiten von Hochschulabsolventinnen.« In der Musen- stube wird es jedoch immer enger. Ein kom- pliziertes System von selbstgezimmerten Re- galen und Hochebenen schöpft letzte Platz- reserven aus, so dass Köhn schon Witze über ihre »Tetris-Stube« macht. Im Corona-Sommer zieht die Verlegerin die Reißleine, bi” et ihre Mitmieterinnen freundlich zu gehen – und re- noviert das neue, nunmehr allein bespielte Jaja-Headquarter: »Mit der Absage aller Aktivi- täten, die im Sommer hä” en sta” finden können, war plötzlich Zeit, etwas zu tun. Und ich ha” e verdammte Lust, mal wieder selbst etwas zu entscheiden – und nicht alles von Co- rona entscheiden zu lassen.« Bis 2020 haben die Kochbücher, die ebenfalls bei Jaja erschienen, die Comics miœ inanziert. »Bei mir zuhause« von Paulina Stulin ändert alles. Die mitreißend erzählte weibliche Er- mächtigungsgeschichte ist mit über 600 Seiten nicht nur das dickste Buch, das der Verlag je herausgebracht hat, es ist auch das erfolg- reichste: »Die ersten 700 Exemplare waren in- nerhalb eines Monats weg«, erinnert sich Köhn, »im Januar habe ich die dri” e Auflage drucken müssen.« Ihre eigene Arbeit als Zeichnerin kommt dabei oft zu kurz. »Verlags- wesen« soll der nächste Comic heißen. Wer Köhns gezeichnetes Selbst-Interview im aktu- ellen Jaja-Magazin liest, bekommt eine Ahnung, wohin es mit diesem mehrdeutigen Titel gehen wird. Erscheinen soll das Buch am 10. Septem- ber – dem zehnten Verlagsgeburtstag. Im Taininscamp de Kitik An einem Freitag im März 2021 tut sich Wun- derliches im großen Veranstaltungssaal des Li- terarischen Colloquiums Berlin (LCB), in dem man durchs weit geöffnete Fenster den Wann- see im Blick hat: An sieben weit voneinander enœ ernt stehenden Tischen sitzen sieben Da- men und Herren vor Kalt- und Heißgetränken, in Griffweite Notizkladden, Table” s, Bücher- stapel und ein wenig Knabberei gegen Unterzu- ckerung. Ein Gesprächsballe” , eine Perfor- mance? Alles falsch. Es ist die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, die hier tagt – nicht als virtuelle Gruppe, sondern ganz real, phy- sisch, im richtigen Leben. Ein wunderbarer ANZEIGE Hanno Rinke Eine Reise. Ein Leben. Ein Buch. Hanno Rinke, Schriftsteller, Komponist und Regisseur, ist noch immer nicht am Ziel. Noch einmal ährt er nach Süden. Dorthin, wo er die Lösung des Rätsels vermutet. Sein Weg führt durch scheinbar vertraute Städte und Länder. Zeit zum Denken, Zeit zum Schreiben: über Vergan- genheit und Gegenwart, über Jugend und Alter. Ans Ziel? g a l r e v r e h c s t u e d l e t t i m Hanno Rinke über sein Buch! 14 Hanno Rinke Fast am Ziel. 99 Umwege 428 S. s/w-Abb. ISBN 978-3-96311-379-6 20,00 € www.keuze-leipzi.de

» Ich glaube im Gegenteil, dass die Kapazitäten, die jetzt in digitale Formate fließen, nur das schöne Gefühl simulieren, etwas zu tun. « der Buchhandlungen, der Literaturhäuser, der kleinen und großen Festivals. Und, ja: der physischen Buchmesse, die die Systeme Buchmarkt und Literaturbetrieb immer so ver- lässlich verlinkt hat. Kurz, er glaubt an »die Fantasie der Leute, die den Laden am Ende zusammenhalten«. Besse scheiten Eigentlich schön, dass das jetzt gegen Ende ein bisschen nach Samuel Beckes wunderli- chem Mantra klingt: »Ever tried. Ever failed. No maer. Try again. Fail again. Fail beer.« Die notorisch klammen unabhängigen Klei- nen, die, wenn überhaupt, auch auf einer virtu- ellen Buchmesse nur die Mini-Koje ohne Ext- ras buchen, tanzen gern auch digital aus der Reihe. Dann greift Dietrich zu Klampen aus Springe zur Ukulele und schmeert nach der Melodie von »Sloop John B« ein eigenes Lied in die Handykamera: »Wir vermissen die Auto- ren so / wir vermissen das Publikum so / wir vermissen die Kollegen so / deshalb woll’n wir dahin … ohne Buchmesse hat das Verlagsleben keinen Sinn!« Nicht hinfahren und gar nichts machen? Geht gar nicht! Als der Frankfurt- Blues viral geht, schlägt Wagenbach-Vertriebs- leiter Jörg Englbrecht den Kollegen in der Emser Straße vor, Buchmesse zu spielen. Vom Standaufbau über die Messeparty bis zum Tag nach der Messeparty. Die fünf Filmchen mit »Ersatzhandlungen«, in je fünf Minuten auf- genommen und auf Instagram und Facebook geteilt, haben vermutlich kein Wagenbach- Buch extra verkauft. Oder doch gerade? Die Evaluationsphase ist eröffnet. NILS KAHLEFENDT | TITEL I F A L / N E P I S A E R D N A : O T O F Übeall ist Wundeland »Die Technik wird uns reen«, singt Peter Licht auf seinem neuen Album »Beton und Ibu- profen«. Das hoffen womöglich auch die Kon- zernverlage, die im Oktober 2020 ihre schö- nen, neuen Digitalkonzepte feiern. Begann in Frankfurt am Main womöglich das Zeitalter der hybriden Buchmessen? An den faustischen Geist, der hier mit kühner Geste eine giganti- sche zielgruppenoptimierte digitale Kirmes mit Lifehacks und Lesungen, Meets & Greets, Previews, Aftershow-Partys und Gewinnspie- len entwirft, mag Tom Kraushaar nicht recht glauben. Deshalb hat der Kle-Coa-Verlags- leiter, der mit den Kollegen von C. H. Beck, Suhrkamp und Aufbau lange an einer analogen Kernmesse festgehalten hat, auch nicht auf ein digitales Gemeinschaftslabel oder den coo- len Markenauftri im Netz gesetzt. Mit dem Argument, dass das lange Festhalten an der Präsenzmesse Denkkapazitäten fürs Digitale gebunden habe, kann er nichts anfangen. »Ich glaube im Gegenteil, dass die Kapazitäten, die jetzt in digitale Formate f ließen, nur das schöne Gefühl simulieren, etwas zu tun.« Kraushaar glaubt eher an die Graswurzelarbeit T D N E F E L H A K S L N I : O T O F 16 www.keuze-leipzi.de

| TITEL : Die Fabe de Hoff nun Ein Besuch in de Kunstbuch-Duckeei Pöe am Stadtand von Leipzi Die Off setduckmaschine Heidelbe Speedmaste --LX ist , Mete lan, , Mete beit und , Mete hoch. Ein Monste, das bis zu . Papieböen in de Stunde ausspuckt. Abe das Monste schlummet, als wi auf ihm stehen und duch die eine ode andee eöff nete Klappe auf die eine ode andee Rolle im Innen blicken. Es ist still in de Poduktionshalle de Duckeei Pöe – im »Ducksaal«, wie es an de Tü steht –, wo sonst bis zu zwölf Menschen abeiten, das heißt alles ducken, was das Viefabmonste und seine kleineen Kolleinnen heeben. Von de Visitenkate bis zum oßfomatien Kunstband ist so ziemlich alles dabei.

| TITEL ◀ Andeas Pöge ist seit nhabe de Duckeei, die sein Vate in Leipzig gegündet hat. De -jähige Leipzige ist veheiatet und hat zwei Söhne. Die aktuelle Situation S ehr durchwachsen« sei die Lage derzeit. »Das Positive ist, dass es uns noch gibt. Das muss man so knallhart sagen. Es ist nicht existenzbedrohend, aber es gibt sehr viele Herausforderungen für uns, nicht nur Co- rona.« Andreas Pöge nimmt im »Besprechungs- raum 1« in einem grünen Sessel Platz. Hinter ihm versucht eine riesige Pflanze das ganze Fenster zu verdecken. Neben ihm stehen ein Pla… enspieler und ein Telefon mit Wähl- scheibe sowie eine grüne Couch. Die Bücher- wand versammelt zahlreiche der hier gedruck- ten – genau – Bücher: »Der kleine Spatz« von Böhm, Olivia Goldes »Karstadt Waren Wir«, viele Bände der Tippgemeinschaft des Deut- schen Literatur-Instituts Leipzig und des Poetenladens sowie der Connewitzer Verlags- buchhandlung. Vorn am Konferenztisch ste- hen auf alten Holzschränken bleierne Le… ern, die aber bi… e nicht groß thematisiert (oder gar fotografiert) werden sollen, weil das mit Offsetdruck ja nichts zu tun hat. Aber schön sehen sie aus! Die Mitarbeiterzahl in der Druckerei ist seit Jahren konstant. Viele Kollegen bleiben bis zur Rente. »Wir arbeiten zusammen, wir leben zusammen«, sagt der Chef und es klingt nach dem, was er auch über seinen Vorgänger, seinen »Vati« erzählt hat. Zur »Firmenphilo- sophie« würde das hier vermutlich niemand aufblasen. Aber klar, die zwölf Mitarbeiter sind fünf Tage die Woche von halb acht bis um vier (freitags etwas kürzer) gemeinsam hier. Bei guter Auftragslage läuft die große Druckmaschine sogar in zwei Schichten, 6 bis 14 und 14 bis 22 Uhr. Bis vor wenigen Jahren habe man auch Drucker ausgebildet, aber jetzt sei die Situation zu kritisch, könne er den jungen Menschen keine gute Perspek- tive bieten. »Alles, was einen Termin drauf hat«, wurde im März 2020 gecancelt, aber es sei »nicht ganz so krass gekommen wie befürchtet«. Al- lerdings ist nicht nur der Druck von Werbe- mi… eln eingebrochen, auch der Bereich Bü- cher und Broschuren ging zurück. Das Thema Buch sei aber immerhin in den Fokus gerückt, »was dazu geführt hat, dass es im letzten Jahr auch öfter mal zu einer Nachauflage kam«, sagt Pöge. Ein allgemeiner Trend sei das nicht, aber es gäbe zumindest Beispiele. Bisher hät- ten Institutionen, Museen und Universitäten auch Bücher und Kataloge zu ausgefallenen Ausstellungen gedruckt. Die große Frage sei aber, wie es mit der Förderung von Kunst- und Kulturprojekten weitergehe – Kürzungen und Streichungen sind aber natürlich mög- lich und: »Das wäre für viele fatal.« »Wir haben sehr engen Kontakt zu unse- ren Kunden«, erzählt Pöge, und das bedeute bei einem Ausstellungskatalog eben auch, dass der Künstler oder die Künstlerin beim Druck selbst mit an der Maschine steht, um zusammen mit dem Drucker für den letzten Feinschliff zu sorgen. Manchmal sind dann auch zwei Künstler zeitgleich im Haus und das ist corona-technisch natürlich schwierig: »Da ist Kreativität gefragt.« Der Maler Hart- wig Ebersbach saß also im letzten Jahr hinter der Halle an der frischen Luft und bekam seine Bögen zur Inspektion rausgereicht. Ge- rade laufen drei Aufträge, bei denen Pöge von Woche zu Woche die Zusammenarbeit den aktuellen Sicherheitsbestimmungen anpasst: »Man möchte ja auch nicht die Kund- schaft bei Minusgraden auf dem Parkplatz sitzen lassen.« Ungefähr zwei Bücher druckt Pöge pro Monat, außerdem zahlreiche Broschuren, größtenteils im Offsetverfahren und in Auf- lagen von 200 bis 3.000 Stück. Viele seiner Kunden sind langjährige Partner, auch das hat sicher viel mit dem Miteinander zu tun. Zwei Dri… el der Kundschaft kommen aus Leip- zig und direkter Umgebung. Berlin und Ham- burg spielen eine Rolle, einzelne Kunden gäbe es auch in der Schweiz und in Österreich: »Es hängt viel an Personen und an Empfehlungen. Manchmal kommt eine Anfrage aus dem Nichts und dann sitzt man mit dem Künstler hier, und es stellt sich heraus, dass er mal an einer Gruppenausstellung oder Ähnlichem in Leipzig beteiligt und von unserer Arbeit über- zeugt war.« 20 www.keuze-leipzi.de

| TITEL und sieht aus wie neu, auch weil der Druck- prozess so feingliederig und das Natur- material Papier so empfindlich ist, dass alles ständig und gewissenhaft geputzt werden muss. In einem aus Kleingärten bekannten Wassertank wird mit Lack verunreinigtes Wasser gesammelt, das beim Reinigen der Maschinen entsteht und zweimal im Jahr abgeholt und fachgerecht entsorgt wird. Auf einer Pale e liegen die Druckbögen von »Die letzten Stunden Walter Benjamins«, Marcel Raabes neuem Tro oir-Noir-Buch. »Für ’ne große Druckerei ist das ein Witz, aber für uns ist das ein ganz wichtiger Auftrag«, sagt Pöge – und tri an den Planschneider. »Auch eine Lieblingsmaschine: die Perfecta aus Baut- zen.« Pöge schaltet den Planschneider ein. »Oh, Go !«, erschrickt sich die Fotografin. »Das ist doch nicht laut!«, beschwichtigt Pöge. »Ich hol mal ein bisschen Material, und dann schneiden wir mal was!« Im Nebengelass stehen »so ein paar Klein- geräte: Papierbohrmaschine, Ecken-abrunde- Maschine – was man eben so braucht.« Auf ei- nem Tisch liegt ein Formular, so eins habe ich schon mal ausgefüllt. »Auf Ihrem Papier, Herr Pöge. Hä ich das gewusst!« – »Bei den Stadtwerken, ja? Das ist gut«, sagt der Drucker und öffnet schon die Tür zum nächsten Raum. »Es riecht ein bisschen eigen, ist aber nicht gefährlich.« Hier werden pro Stunde bis zu 21 jener Aluminiumdruckpla en mit ei- nem Laser belichtet, die in der Druckma- schine auf Zylinder gespannt fürs Bedrucken der Papierbögen sorgen. Für einen vierfarbi- gen Druckbogen braucht es vier Druckpla en – die nach dem Druck recycelt werden. »Theo- retisch kann man sie einlagern, aber die Reinigung ist sehr aufwendig, und die Pla en müssen gummiert werden, damit sie nicht oxidieren. Das lohnt sich nur, wenn ich weiß, dass der Kunde nach einer Woche wieder- kommt.« Heißt: Für die Nachauflage eines Buches ist fast derselbe Aufwand zu betreiben wie für die erste Auflage, was bedeutet, dass sie ähnlich teuer ist – falls Sie sich mal gefragt haben, warum ein vergriffenes Buch manch- mal ewig nicht neu gedruckt wird. » Es riecht ein bisschen eigen, ist aber nicht gefährlich.« Andreas Pöge ist sich sicher: »Die Men- schen brauchen Abwechslung vom Monitor, von dem, was sie im Homeoffice und auf Ar- beit machen. Ein gedrucktes Buch kann da helfen. Wo es dann gedruckt wird, ist natür- lich eine andere Frage – in der kleinen Drucke- rei vor Ort oder in den baltischen Staaten.« Oder in einer der vielen großen Internetdru- ckereien. Die Konkurrenz ist groß, der Markt wird kleiner, weil so manches – ob Formular oder wissenschaftliche Studie – gar nicht mehr gedruckt wird und weil Auflagen sin- ken infolge von stetigen Portoerhöhungen und anderen Verbreitungsschwierigkeiten für Druckerzeugnisse. »Die großen Druckereien sind ja alle weg aus Leipzig: Jü e, Messe- druck, Klingenberg, Offizin Andersen Nexö konnten sich leider nicht am Markt halten. Mir wäre es lieber, wenn es noch so viele Auf- träge gäbe, dass es die Großen und auch uns Kleine noch geben würde. Im Bereich des Bogenoffsetdrucks sind hier nur noch wenige Unternehmen tätig, die größer sind als wir, zum Beispiel der Herr Löhnert und der Herr Fritsch«, sagt der Herr Pöge. »Wir versuchen das kleine Bisschen, das vom Buchdruck in der ›Buchstadt‹ Leipzig noch da ist, hochzu- halten, wenngleich mir klar ist, dass wir den Großen dieser Branche nicht das Wasser rei- chen können.« Im kleinen Eingangsbereich der Druckerei, der mehr Türen als Quadratmeter hat, stehen eine alte Lithografie-Presse und das Fahrrad von Andreas Pöge, samt am Lenker baumeln- dem Helm. Es ist kurz vor acht. Bevor er Feier- abend mache, schaue er noch mal in seine Mails, sagt der Drucker zum Abschied. Viel- leicht ist ja ein neuer Auftrag reingekommen. BENJAMIN HEINE ▼ Ducken, schneiden, legen: Bis zu zwölf Menschen abeiten im Ducksaal, um so ziemlich alles von de Visitenkate bis zum Kunstbuch hezustellen 22 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN F O T O : I I C H R S T A N E G U N D L A C H : »Einneun an den veloenen Status als Welteich« Jobst Wele, Pofesso ƒ Romanische Liteatuwissenscha… in Leipzi, im Gespäch übe potuiesische Liteatu D ie Allgemeine und Vergleichende Litera- turwissenschaft ist vermutlich der schönste Studiengang der Welt, schaut sie doch einerseits ganz genau auf Literatur sowie deren Theorie und Geschichte und be- schränkt sich dabei andererseits nicht auf eine Sprache oder Nation. Der 1969 in Braun- schweig geborene Jobst Welge hat sie in Konstanz, L’Aquila und Toronto studiert. Seine Promotion drehte sich um Petrarca, Luther, Montaigne und Milton. In den letzten zwanzig Jahren arbeitete er an den Universi- täten in Berkeley, Stanford, Berlin, Tübingen und Stockholm. Unter anderem! Seit April 2018 ist Welge an der Uni Leipzig Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Kul- turstudien mit den Schwerpunkten Hispanis- tik und Lusitanistik, also spanisch- und por- tugiesischsprachige Literatur. Ein Gespräch über Weltliteratur, Phantomschmerzen und einen ganz besonderen Feiertag. :lobuch: He Wele, was wa Ih estes potuiesisches Buch, und wie kamen Sie von da zu Lusitanistik? JOBST WELGE: Das war »Das Buch der Un- ruhe« von Fernando Pessoa, in der Überset- zung von Georg Rudolf Lind. Die erste Lektüre im Original war wohl »O primo Basílio« (»Vet- ter Basilio«), von Eça de Queirós. Die zweite Frage ist schon schwieriger … Im Rahmen meiner Ausbildung und Tätigkeit als Kompara- tist hat das Portugiesische mit der Zeit einen immer größeren Stellenwert eingenommen. Der Weg zur Profession führt ja manchmal über Passionen, die nicht immer so zielgerich- tet sind. Bei mir waren das mein vorheriges Studium einer anderen romanischen Literatur, der italienischen; Aufenthalte in Lissabon; mein Interesse an dem brasilianischen Musiker Caetano Veloso und an dem brasilianischen Autor Machado de Assis; meine Freundschaft mit einem brasilianischen Kollegen oder mit dem Übersetzer Berthold Zilly. :lobuch: Was macht die potuiesische Lite- atu in Ihen Auen so besondes? WELGE: Im europäischen Kontext ist sie si- cher eine eher kleinere Literatur. Das Beson- dere ist aber, dass eine enge Beziehung zu den Ländern und Literaturen der ehemaligen Ko- lonien besteht – angefangen vom portugiesi- schen Nationalepos der Lusiaden (1572) von Luís de Camões, das von Vasco da Gamas In- dienreise handelt. Deswegen würde ich auch sagen, dass ich mich für die portugiesischspra- chigen, die »lusophonen« Literaturen insge- samt interessiere – und das ist dann doch ein ziemlich großer, vielfältiger Bereich. Darunter ist vor allem die brasilianische Literatur be- deutsam, es ist auch eine der wichtigsten Li- teraturen Lateinamerikas, auch wenn das aufgrund der Sprachbarriere nicht immer so gewürdigt wird. :lobuch: Welche Vebindunen ibt es zu andeen Liteatuen? WELGE: Nehmen wir die zur spanischen Li- teratur, die waren zeitweise sehr eng. Der spa- nische Barockdichter Góngora wurde im 17. Jahrhundert in Portugal fast mehr gelesen und nachgeahmt als in Spanien selbst. Im 19. Jahr- hundert verteidigte Eça de Queirós seinen Ro- man »Ve± er Basilio« gegen die Kritik von Machado de Assis aus Brasilien, der ihn – irr- tümlicherweise – für einen bloßen Schüler Émile Zolas hielt. Eça de Queirós war in der Tat stark durch die zeitgenössische französi- sche Literatur beeinflusst, die er aber originell transformierte – das fanden viele damals auch in Portugal aber »französiert«, nicht por- tugiesisch genug. Im 20. Jahrhundert ist das Werk von António Lobo Antunes nicht denk- bar ohne das von Joseph Conrad und William Faulkner. Die Dichterin Sophia de Mello Breyner Andresen (1919–2004) war stark durch die griechische Literatur der Antike geprägt. Die deutschsprachige Literatur wurde lange nur sehr punktuell rezipiert. Aber zu den wich- tigen Vorbildern für Portugals einzigen Nobel- preisträger José Saramago zählt Franz Kafka. :lobuch: Potuiesisch wid in Euopa, Ba- silien, Afika und Asien espochen. Wie stak untescheiden sich die Spache und Liteatu auf den veschiedenen Kontinenten? WELGE: Das Portugiesische hat in den ge- nannten Gegenden unterschiedliche Varietä- ten ausgebildet, die zum Beispiel auch von meinem Leipziger Kollegen in der Sprachwis- senschaft, Benjamin Meisnitzer, untersucht werden. Es gibt Unterschiede bei der Ausspra- che: Ob jemand aus Rio de Janeiro kommt oder aus Porto, das hört man sofort. Auch beim Wortschatz gibt es ein paar Unter- schiede: »Ananas« heißt »ananás« in Portugal, »abacaxi« in Brasilien. Und natürlich gibt es Unterschiede in den jeweiligen Literaturen, zum Beispiel eine stärkere Anbindung ans mündliche Erzählen in der lusophonen Litera- tur Afrikas oder eine besonders ausgeprägte 24 www.keuze-leipzi.de

dão nennen. Das ist auch so ein heimlicher Klassiker, aber absolut unklassifizierbar. Es ist eine Mischung aus fragmentarischem Ro- man, Essay und Tagebuch. Dieses Werk war seiner Zeit voraus, es hat den Modernismus mit eingeleitet. Bei seinem ersten Erscheinen wurde es nicht unbedingt gefeiert, kein Wunder, es hat weder Plot noch Charaktere, nur zwei Stimmen in einer traumartigen, verlassenen Dorflandschaft. Der Einfluss des Buches ist aber stetig gewachsen, viele große Autoren sind davon beeinflusst, bis heute. Es wurde oft als expressionistisch, als prä-exis- tenzialistisch bezeichnet, aber das sind nur Etikeen. Seine offene Struktur, obsessive Sprache und die universelle Thematik machen es zu einem sehr hypnotischen Text, dessen weltliterarischer Status sicher dadurch einge- schränkt wurde, dass er auf Portugiesisch verfasst ist. :lobuch: Apopos Weltan: Ist Cistiano Ronaldo de ößte potuiesische Poet de Geenwat? WELGE: Das fragen Sie dann doch lieber einen Fußballfan. Ich kann Ihnen nur die größte Dichterin der Gegenwart nennen: Ana Luísa Amaral. INTERVIEW: BENJAMIN HEINE ▶ Vom ”•. bis ”–. September ˜™˜” findet an der Universität Leipzig der ”ž. Deutsche Lusitanistentag staŸ. Neben den wissenscha¡lichen Vorträgen ist ein Konzert mit der Berliner Band A Panda do Sol sowie eine Lesung mit den Lyrikerinnen Filipa Leal und Conçeição Lima zusammen mit dem Übersetzer Michael Kegler geplant. Infos zum Programm: www.lusitanistentag˜™˜”-leipzig.de | MAGAZIN preisträger Derek Walco – aber beide sind auch Teil einer globalen World Literature, eine Kategorie, die in den Diskussionen über mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede diejenige des Postkolonialen zunehmend ergänzt. :lobuch: De potuiesische Nationalfeie- ta ist de Todesta von Luís de Camões, des wohl bedeutendsten Dichtes Potuals. Das haben wede Shakespeae noch Goethe escha ! WELGE: Richtig, der 10. Juni 1580 gilt als To- destag von Camões. Sein Werk »Os Lusíadas« ist ein imperiales Epos im Geiste von Vergils »Aeneis«. Es ist eher rückblickend und skep- tisch, enthält auch anti-imperiale Töne. Das hat natürlich die nationalistische Vereinnah- mung im frühen 20. Jahrhundert nicht behin- dert. Während der Diktatur des Estado Novo hat Salazar den Feiertag als »Tag von Camões, Portugal und der Rasse« umbenannt und mit Militärparaden garniert. Und seit der Nelken- revolution von 1974 heißt es nun inklusiver »Tag von Portugal, Camões und der portugie- sischen Communities«. Sie haben jedenfalls recht: Das ist ein ziemlich singulärer Fall, dass das kulturelle Gedächtnis einer Nation so stark mit dem Werk eines Dichters verknüpft ist. Es ist auch eine Art Phantomschmerz, eine Erinnerung an den verlorenen Status als Weltreich. »Es ist sehr besonders, dass das kulturelle Gedächtnis einer Nation so stark mit dem Werk eines Dichters verknüp ist.« :lobuch: Welche Autoen und Autoinnen elten außedem als »Klassike« de potu- iesischspachien Liteatu? WELGE: Sagen wir so: Im 19. Jahrhundert ist Eça de Queirós das unbestriene Zentrum, sein Roman »Die Maias« ist sein bedeutends- tes Werk. Es gibt die modernen Klassiker, die auch international etabliert sind: Fernando Pessoa, José Saramago, António Lobo Antunes. Dann gibt es eine Reihe von klassi- schen Autoren, die zentrale literaturgeschicht- liche Bedeutung haben, die aber wohl eher weniger interessant für das allgemeine Publi- kum sind: der mielalterliche Dramatiker Gil Vicente, der barocke Prediger Antonio Viera, der Romantiker Almeida Garre. Und dann gibt es immer wieder neu zu entdeckende Au- toren, die auch aus der Vergangenheit zu uns sprechen: den Reiseschriftsteller Fernão Men- des Pinto aus dem 16. Jahrhundert, den Mo- dernisten Mário de Sá-Carneiro, den existen- zialistischen Romancier Vergílio Ferreira, die große Lyrikerin Sophia de Mello Breyner Andresen, den vor allem für seine Erzählun- gen aus dem Hinterland berühmten Miguel Torga, die unvergleichliche Prosa-Autorin Maria Gabriela Llansol. :lobuch: Welche davon wüden Sie deut- schen Leseinnen und Lesen besondes ans Hez leen und waum? WELGE: Einiges liegt leider nicht in Überset- zung vor, so gut wie nichts von Ferreira. Für Lyrik-Interessierte empfehle ich die Gedichte von Álvaro de Campos, das ist ein Alter Ego von Pessoa, der unter mehreren sogenannten Heteronymen schrieb. Álvaro de Campos ist ein faszinierender Dichter der portugiesischen Moderne, mit einer ganz eigenen Dichterbio- grafie. Wer Pessoa auch als pointierten Erzäh- ler entdecken möchte, dem empfehle ich den Band »Ein anarchistischer Bankier«. Und wer sich für ungewöhnliche Prosa mit europäi- scher Ausrichtung interessiert, dem empfehle ich Llansols Romanessay »Lissabonleipzig«, passenderweise im Leipziger Literaturverlag erschienen [siehe S. 31, Anm. d. Red.]. Llan- sols zentrale poetische Novellentrilogie »Geo- grafia de rebeldes« (1974–79) gibt es nicht auf Deutsch, aber ist vor Kurzem erstmals in eng- lischer Übersetzung erschienen (»Geography of Rebels«). :lobuch: Und welche zeitenössischen po- tuiesischspachien Autoinnen und Autoen sind in Ihen Auen besondes inteessant? WELGE: Lange Zeit wurde die portugiesi- sche Literaturszene ja durch das Zweigestirn Saramago/Antunes quasi dominiert, da war anderes kaum sichtbar, vor allem nicht außer- halb Portugals. Ein schon älterer Autor, der die portugiesische Romanliteratur erneuert hat, ist Almeida Faria. Bei den jüngeren Auto- rinnen und Autoren ist auffällig, dass sie neue Zugänge zur Tradition suchen, dass sie inter- nationaler orientiert sind und auch ganz neue Themen und Formate ausprobieren, auch un- bequeme Dinge zur Sprache bringen, wie etwa die Erfahrungen der sogenannten »retorna- dos«, der nach Portugal aus den Kolonien »zu- rückgekehrten« Siedler und ihrer Kinder. Ge- nau diese neue Generation wollte ja auch die nun leider nicht stafindende Leipziger Buch- messe ins Rampenlicht rücken. Besonders in- teressant scheinen mir darunter der versierte Romancier José Luís Peixoto, der vielseitige Gonçales M. Tavares, die Welten überschrei- tende Djaimilia Pereira de Almeida (mit ango- lanischen Wurzeln) und der noch sehr junge, vielversprechende Afonso Reis Cabral. Und da Sie ja nach portugiesischsprachigen Namen fragten, würde ich besonders auch zwei der schon genannten lusophonen Afrikaner her- vorheben: Mia Couto und José Eduardo Agua- lusa sind beide hochkarätige Erzähler, die ihre jeweiligen Länder, Mosambik und Angola, ganz neu auf die Karte der Weltliteraur gesetzt haben. Und unter den jüngeren brasiliani- schen Autoren finde ich Julian Fuks besonders interessant; er häe eigentlich auch zur Leipziger Buchmesse kommen sollen … und ist noch nicht übersetzt. :lobuch: Bei welchem potuiesischen Buch, das noch nicht ins Deutsche übesetzt wude, sollte das schleunist nacheholt weden? WELGE: Da gäbe es wie gesagt viele, zumal portugiesischsprachige. Ich würde aber vor allem das Buch »Húmus« (1917) von Raul Bran- 26 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN D N A R B E D L H L U A P I : O T O F : Herr Kraus und die Nelken Patícia Seveino, Diektoin des Potuiesischen Kultuinstituts in Belin, empfi ehlt vie potuiesischspachie Neuescheinunen Zweispachie Univesalien Zehn Bände übe das »Das Vietel« Flucht aus den veloenen Kolonien Die angolanische Dichterin Ana Paula Tavares hat in Deutschland bis zu diesem Frühjahr nur ein Buch veröffentlicht, »Fieberbaum« aus dem Jahr 2010. Ihre ersten Gedichte publi- zierte sie nach der Unabhängigkeit Angolas – wie Conceição Lima aus São Tomé und Príncipe, die in diesem Jahr ebenfalls bei der Edition Delta erschienen ist, gehört sie zu den wichtigsten afrikanischen Dichterinnen. Ihre Lyrik wurde ins Französische, Schwedi- sche und Spanische übersetzt und war bereits auf zahlreichen internationalen Poesiefestivals zu hören. In »Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser« sind die thematischen Bezüge zwar afrikanisch, aber sie werden universell behandelt. Inocência Mata, Essayistin, Lehre- rin und Forscherin auf dem Gebiet der post- kolonialen Studien und eine der Gründerinnen des Nationalen Schriftsteller- und Künstler- verbandes von São Tomé und Príncipe, bezeich- net das Schreiben von Ana Paula Tavares als »ethnografisch rituell«, als eine »Lyrik in dem Sinne, dass sie eine individuelle Erfahrung und eine subjektive geistige Haltung gegenüber der Realität der Welt enthält«. Tavares stu- dierte Geschichte in Luanda und Lissabon, sie promovierte mit einer Arbeit zum Thema »Geschichte, Erinnerung und Identität: Eine Studie über die Lunda- und Cokwe-Gesell- schaften in Angola« und ist Koordinatorin der Forschungsgruppe Kulturen der portugiesi- schen Sprache des Zentrums für lusophone und europäische Literaturen und Kulturen der Fakultät der Künste der Universität Lissabon. ▶ Ana Paula Tavares: Como Veias Finas na Terra & Água Selva- gem – Wie feine Adern in der Erde & Wildes Wasser. Filder- stadt: Edition Delta ‹Œ‹Ž. »Herr Kraus und die Politik«, der fünfte Band von Gonçalo M. Tavares’ »O Bairro«, zu Deutsch »Das Viertel«, ist in diesem Frühjahr in der Edition Korrespondenzen erschienen. Das kleine 120-seitige Buch wurde von Michael Kegler übersetzt und von Rachel Caiano illus- triert. »O Bairro« ist ein umfangreiches und kre- atives literarisches Projekt, bestehend aus insgesamt zehn Bänden, das der 1970 in Luanda geborene portugiesische Schriftsteller zwi- schen 2002 und 2010 auf baute. Jedes der Bü- cher ist einem anderen Herrn gewidmet, der für einen großen Schriftsteller steht. Die Ankunft von Herrn Kraus im Viertel ist eine Quelle der Genugtuung für die früheren Bewoh- ner: Brecht, Valéry, Juarroz und Henri. »Herr Kraus« ist der Fünfte im Bunde, der dem deut- schen Publikum vorgestellt wird, das nun auf die Veröffentlichung der übrigen fünf Herren warten muss: Calvino, Walser, Breton, Swedenborg und Eliot. Gonçalo M. Tavares wurde mehrfach ausge- zeichnet und von der internationalen Kritik gefeiert. Seine Werke wurden in über 50 Spra- chen übersetzt und für Theaterstücke, Kunst- objekte und Opern adaptiert. Der Professor für Erkenntnistheorie an der Universität Lissabon gilt seit seinem Debüt im Jahr 2001 als einer der wichtigsten portugiesischen Autoren seiner Generation. ▶ Gonçalo M. Tavares: Herr Kraus und die Politik. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Mit Zeichnungen von Rachel Caiano. Wien: Edition Korrespondenzen ‹Œ‹Ž. Ž‹Œ S., Ž› œ Im Jahr 1975, nach der Nelkenrevolution und im Zuge der Entkolonialisierung, erreichten innerhalb weniger Monate über eine halbe Mil- lion Menschen Portugal. Mehr als die Hälfte von ihnen kam aus Angola und ha¨ e buch- stäblich alles verloren. Bei der Ankunft in Por- tugal wurden viele in Hotels untergebracht, sie besaßen nur die Kleidung, die sie am Leib trugen – eine Tragödie, die auch Dulce Maria Cardoso und ihre Familie erlebten. Inspiriert von ihrer persönlichen Geschichte, bringt uns Cardoso in ihrem Roman »Die Rückkehr« diesen historischen Moment durch die Stimme eines Teenagers nahe: Rui muss zunächst mit seiner Mu¨ er und seiner Schwester in einem Hotel in Estoril wohnen. Hier warten sie auf die Rückkehr des mit Verspätung aus Angola eintreffenden Vaters – inmi¨ en von anderen Familien, die dem gleichen Elend ausgesetzt sind. In Portugal ist der revolutionäre Prozess auf seinem Höhepunkt, die sogenannten Rück- kehrer werden mit Misstrauen empfangen und sind Diskriminierungen ausgesetzt. Ob- wohl die Mehrheit der aus den Kolonien stammenden Bevölkerung in Portugal geboren wurde, gab es auch einen erheblichen Prozent- satz, der in den kolonisierten Gebieten geboren wurde. Daher war der Begriff »Rückkehrer« nicht nur ungenau, sondern für viele auch ab- wertend. Cardosos gleichnamiger Roman ist eine Geschichte über Verlust und die Möglich- keit des Neuanfangs, über das Ende des Impe- riums und den Auf bau einer neuen Identität. Das Buch wurde aufgrund seiner »außerge- wöhnlichen literarischen Qualität« mit dem English Pen Translate Award ausgezeichnet und ist bereits in mehr als ein Dutzend 28 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN : »Ein Lebenspojekt« Übesetze Makus Sah und Velee Vikto Kalinke im Ge- späch übe die Abeit an de »potuiesischen Bibliothek« L O S N A L L O Ç A P S E : O T O F D er Leipziger Literaturverlag versteht sich als »Ort für Begegnungen und Grenzüber- schreitungen« und übersetzt in dieser Rolle seit 1998 vor allem Literatur vom Rand Europas. Verleger Viktor Kalinke und Übersetzer Markus Sahr erzählen über die »portugiesische Biblio- thek« des Verlags und warum gute Übersetzun- gen aus dem Portugiesischen in ihren Augen so wichtig sind. :logbuch: Was ist »Lissabonleipzig«, aus dem wir hier einen Auszug abdrucken dürfen, r ein Buch? MARKUS SAHR: »Lissabonleipzig« ist ein Le- bensprojekt. Jede Genrebezeichnung wäre wohl auch irreführend. Auch die Typografie der Texte von Llansol ist unkonventionell. Das Schriftbild zeichnet sich aus durch Zeilen- brüche, Leerzeilen, den langgezogenen Un- terstrich und einen zuweilen an Konkrete Poesie erinnernden Abstand zwischen einzel- nen Worten. VIKTOR KALINKE: Maria Gabriela Llansol ist eine völlig eigenständige, singuläre Auto- rin, die im belgischen Exil lebte. Für Llansol wurde ihre Flucht zu einer lebenslangen Su- che nach neuen Formen des Schreibens, das Zeit und Raum transzendiert, ohne den Pro- zess, in dem Gedanken gedacht werden, zu verstecken. SAHR: »Lissabonleipzig« entstand zunächst aus Tagebüchern. Von dort gelangte sie zu Jo- hannes vom Kreuz, Thomas Müntzer, den Bauernkriegen, der Reformation, Münster und Frankenhausen, Kopernikus, Giordano Bruno und Hölderlin. KALINKE: Und führt schließlich den portugie- sischen Nationaldichter Fernando Pessoa an den Esstisch im Hause Bach in Leipzig zu sei- ner philosophischen Musikprobe. SAHR: Ziel ist es, den Musiker um eine Kompo- sition für ein Gedicht zu bewegen: eine sinfo- nische »Ode an den umherirrenden Go›«. :lobuch: Wie kam de Leipzie Liteatuve- la zu seinem Potual-Schwepunkt? KALINKE: Es war Markus Sahr, den es nach Aufenthalten in Berlin, Bristol und Lissabon nach Leipzig verschlagen hat, der uns seine Übersetzung des Buchs »Im Garten der Nuß- bäume« ans Herz legte. 1974 stellt mit der Nel- kenrevolution die entscheidende Zäsur in der neueren Geschichte Portugals und der portu- giesischen Gegenwartsliteratur dar. Eins der ausdauerndsten und letzten faschistischen Regimes in Europa wurde überwunden. Zahl- reiche namhafte Schriftsteller waren in den Jahren zuvor ins Ausland gegangen, nicht nur um zu schreiben, sondern auch um den Wi- derstand mitzutragen und mitzuorganisieren. Ich bin mit Markus Sahr, nachdem wir den »Garten der Nußbäume« herausgebracht ha- ben, nach Lissabon gereist, um Yve›e Centeno zu interviewen und in einem kurzen Film zu porträtieren. Zurückgekehrt sind wir mit einem Konzept für die »portugiesische Bibliothek«, die vornehmlich Texte von Autoren beinhaltet, die aus dem Exil heraus gegen die Diktatur angeschrieben haben. SAHR: Die Exilliteratur bereichert den Blick noch einmal um Eindrücke aus Frankreich, Holland, Belgien, Algerien oder Brasilien. KALINKE: Da ist zum Beispiel »Rafael«, der autobiografische Roman von Manuel Alegre, der im Untergrundradio von Algerien und Paris aus so etwas wie die Stimme der Opposition gegen Salazar war. 2007 haben wir ihn nach Leipzig ins Haus des Buches eingeladen. Oder Herberto Helder, der in Holland in einem Zim- mer über einem Bordell Zuflucht fand und das reale Leben auf kafkaeske Weise schilderte. :lobuch: Wie wählen Sie Ihe Autoinnen und Autoen aus? KALINKE: Wir haben den Fokus später über die Exilliteratur hinaus erweitert. Zu den neu- eren portugiesischen Autorinnen von europä- ischem Rang gehört Hélia Correia. Sie schil- dert nicht nur Konflikte zum Beispiel hin- sichtlich des Geschlechterverhältnisses im heutigen Portugal, sondern kontrastiert in ihrem Poem »Das dri›e Elend«, übertragen von Michael Kegler, die Idee der Demokratie als Teilhabe im alten Griechenland mit dem büro- kratisch verwalteten Europa von heute und beschämt mit ihrem Prosawerk »Tänzer im Taumel«, das Dania Schüürmann übersetzt hat. Darin beschreibt sie die Flucht einer Gruppe von Migranten durch die Sahara und die Sahelzone, bei der sich die Frauen als die- jenigen erweisen, die das Überleben in unwirt- lichen und lebensfeindlichen Umwelten er- möglichen, aber dennoch zum Scheitern an der Mi›elmeerküste verdammt sind. SAHR: Die Übersetzungsförderung von Sei- ten Portugals ist sehr gut und zuverlässig. Das »kleine Land« lässt sich seine Literatur etwas kosten. :lobuch: Haben Sie auch Abeitsbeziehun- en in andee potuiesischspachien Länden? KALINKE: Mi›lerweile genießt die »portugie- sische Bibliothek« in Portugal den Ruf einer guten Adresse für Übersetzungen in die deut- sche Sprache. Dazu hat unter anderem eine Anthologie beigetragen, die im Rahmen eines Projekts von Studierenden der Translations- wissenschaft an der Uni Germersheim erarbei- tet wurde, das Markus Sahr als Lektor beglei- tet hat. Daraus ergab sich in der Nachfolge eine Reihe weiterer Übersetzungen, zum Beispiel »Die Andere«, ein szenischer Text der brasilia- nischen Autorin Izabela Leal, übersetzt von dem aus Moldawien stammenden Timur Stein. Hier gerät eine junge Frau mit ihrem weiblichen Alter Ego in Konflikt, das sie wie ein Scha›en verfolgt und ihre Identität fortlaufend in Frage stellt. Im Buch »Die letzte Tragödie« von Ab- dulai Sila, übersetzt von Rosa Rodrigues, geht es wiederum um eine junge Frau in Guinea- Bissau, die ihrem archaischen Heimatdorf ent- flieht, in der Stadt als Hausangestellte einer portugiesischen Familie mit der fremdartigen europäischen Kultur konfrontiert wird, die Befreiung von der Kolonialherrschaft erlebt, zu- gleich aber unter den männerdominierten Strukturen der afrikanischen Befreiungsbewe- gung leidet. INTERVIEW: LINN PENELOPE MICKLITZ 30 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN Q U E L L E : I B E T T N A B A L T S C H E V , H Ö L L E U N D P A R A D E S I Emanuel Queido und sein Velashaus in Amstedam : Fenab vom »Leipzie Platz« Enst Fische widmet sich dem deutschen Exilbuchhandel in de Zeit des Nationalsozialismus I m Sommer 1816 verfasste der Hamburger Verleger Friedrich Christoph Perthes die Programmschrift »Der deutsche Buchhandel als Bedin- gung des Daseins einer deutschen Literatur«. Unter Buchhandel ver- stand er das gesamte System der Herstellung und Verbreitung von Druckschriften aller Art, Buch-, Musik- und Zeitungsverlage ebenso wie Sortiments- und Antiquariatsbuchhandlungen und unter Literatur die Gesamtheit des im Druck Vervielfältigten. Der berühmt gewordene Titel umreißt in kürzestmöglicher Formulierung die Leistung eines ganzen Wirtschaftszweigs – ohne Buchwirtschaft keine Literatur, keine Wissen- schaft, keine Bildung, in letzter Instanz: keine Kultur. Perthes’ großes – und natürlich provokativ zugespitztes – Wort markiert aber zugleich auch einen Anspruch an die Verleger und Buchhändler als Schöpfer und Bewahrer der Bedingungen einer Möglichkeit von Literatur. Nie sind Leistung und Anspruch des deutschen Buchhandels so radi- kal auf die Probe gestellt worden wie in der Zeit des Nationalsozialismus, als nicht nur Tausende Schriftsteller aller Art und jeglichen Ranges aus politischen oder »rassischen« Gründen ins Exil getrieben wurden, son- dern ebenso auch Hunderte Inhaber und Mitarbeiter von Buch-, Musik- und Zeitungsverlagen, von Buch- und Musikalienhandlungen, von Leihbibliotheken und Antiquariaten. Wie die Autoren liœen sie unter der kulturellen Entwurzelung, unter dem Verlust der Muœersprache und nicht zuletzt unter teils gewaltigen materiellen Einbußen. Wer aber im Exil wieder als Verleger oder Buchhändler tätig werden wollte, sah sich noch ganz anderen Hindernissen gegenüber. Über mehrere Jahrhunderte hinweg haœe sich der deutsche Buchhan- del zu einem perfekt austarierten System entwickelt. Von diesem Sys- tem waren Exilverlage, Exilbuchhandlungen und im Exil entstandene Bücher weitgehend ausgesperrt. Wer wie sie nicht im Leipziger »Adress- buch des deutschen Buchhandels« gelistet war, keine Anzeigen im Leip- ziger »Börsenblaœ für den Deutschen Buchhandel« schalten, in Leipzig keine Lagerung und Auslieferung seiner Bücher unterhalten und keinen Leipziger Zwischenbuchhändler mit der Abwicklung der Geschäfte be- auftragen durfte, der war ganz auf sich gestellt. Die weltweit bewunderte Effizienz des »Leipziger Platzes« erwies sich für die neuen Machthaber als spielend einfach zu handhabendes Miœel der Unterdrückung. Doch auch im Ausland gab es Widerstände und Hindernisse vieler Art, die von simpler Konkurrenzangst über Einreisebeschränkungen und ge- werbe- und devisenrechtliche Restriktionen bis hin zu Bedenken außen- politischer Art (insbesondere in den auf ihre Neutralität bedachten Staa- ten wie der Schweiz und Schweden) reichten. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch der zeitliche Faktor. Zu- mindest in den ersten Jahren der NS-Diktatur glaubten viele an deren baldiges Ende und damit an eine schnelle Rückkehr. Unter diesen Um- ständen ein doch recht komplexes Wirtschaftsunternehmen wie einen Verlag oder eine Buchhandlung aufzubauen, bedurfte einer starken Motivation. Wer es dennoch wagte, musste sehr schnell feststellen, dass alles auf Sand gebaut war, denn mit dem »Anschluss« Österreichs und der Besetzung der Tschechischen Republik (beide 1938) sowie mit der Annexion der Niederlande und von Teilen Frankreichs (beide 1940) waren auch die Zentren des Exilbuchhandels – Wien, Prag, Amsterdam und Paris – in die Hände des Feindes gefallen. Wem die erneute Flucht gelang – und sie gelang nicht jedem –, war abermals um alles gebracht, fand sich nun aber in Gegenden der Welt wieder, die mit dem deutschen oder wenigstens europäischen System des Verlagswesens und Buchhan- dels kaum noch etwas gemein haœen. Es ist das außerordentliche Verdienst der mehr als 2.000 Druckseiten umfassenden Darstellung von Ernst Fischer, emeritierter Professor am Institut für Buchwissenschaft der Universität Mainz, die mehrere Konti- nente umspannende und weit über das Ende der Hitler-Diktatur hin- ausreichende Geschichte des Exilbuchhandels mit all ihren Aspekten nachzuzeichnen. Er macht deutlich, auf welchen oft genug verworrenen, nur mit Mühe noch zu rekonstruierenden Pfaden es deutschen Verle- gern, Buchhändlern, Antiquaren, Lektoren und Buchgestaltern gelang, den Werken der vertriebenen Autoren eine Öffentlichkeit zu verschaf- fen, und sei sie noch so klein und fragmentiert. In der kaum zu über- schauenden, stark literaturwissenschaftlich geprägten Exilforschung erscheint ihre mühevolle Tätigkeit bis heute, wenn überhaupt, als mehr oder minder lästiges Beiwerk. Tatsächlich waren es aber sie, die es den Schriftstellern ermöglichten, in ihrer Muœersprache weiterzuarbeiten und sich so gut als möglich den Lebensunterhalt zu finanzieren, etwa durch monatliche Zahlungen, die mit dem Honorar verrechnet wurden. Allein die Tatsache, dass die Bücher gedruckt wurden, sicherte in Zeiten extremer Krisen und fortwährender Fluchten die dauerhafte Existenz der Texte – nicht nur von Walter Benjamin ist bekannt, dass Manu- skripte oder Typoskripte für immer verloren gegangen sind. Fischers Grundlagenwerk fasst die Arbeit von vier Jahrzehnten zusam- men. Er kann sich nicht nur auf eine inzwischen recht beachtliche Zahl von Spezialstudien, Bibliografien, Briefeditionen und autobiografischen Texten stützen, sondern ebenso auf eigene Recherchen in Archiven wie auf eine Fülle von Interviews und Korrespondenzen mit den einstigen Akteuren oder deren Nachfahren. Während er die rein biografischen Informationen zu den etwa 900 ermiœelten Personen in einen eigenen Band ausgelagert hat, der hier in zweiter, erweiterter Auflage als Supple- ment erscheint, besteht seine Darstellung im Kern aus mehreren hun- dert Firmengeschichten, die thematisch nach Geschäftsfeldern geord- net werden. Auf diese Weise entsteht zum ersten Mal überhaupt ein 32 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN : »Als ob mein Gehin das Ihe wäe« Zwei Ahnheen de modenen Liteatu, Chales Baudelaie und Gustave Flaubet, wuden vo Jahen eboen S ie sind für ihre Verehrer die Halbgöer, mindestens aber – für den Rest von uns – die Zwillingsbrüder der literarischen Moderne. Platzsparend gesagt: Flo und Bo. Wie Romulus und Remus dazu be- stimmt, auf neuem Land ein Imperium zu begründen. Eigentlich zwei Imperien, den modernen Roman und die moderne Lyrik. Aber in guter Nachbarschaft. Gleich nach ihrer Geburt 1821 getrennt, aufgewachsen in Paris und Rouen, finden sie erst 30 Jahre später zueinander – an Sonntagen im Salon einer Dame, die sie beide anbeten. Als Flo und Bo endlich, nach langem Sammeln und Ausprobieren, fast zur gleichen Zeit ihr erstes Buch vorlegen, ist die Freude doppelt an den Ufern der Seine. Erschla- gen (wie Remus) wird keiner dieser Brüder, es sei denn mit Lob. Flaubet ist vezaubet Der aus der Normandie schreibt: »Mein lieber Freund, ich habe Ihren Band zuerst von Anfang bis Ende verschlungen wie eine Köchin einen Feuilletonroman, und nun lese ich ihn seit acht Tagen Vers für Vers und Wort für Wort noch einmal; ja, er gefällt mir und bezaubert mich. Sie haben einen Weg gefunden, die Romantik zu verjüngen.« Dann bringt Flaubert einen Satz, der Baudelaire in Euphorie versetzen Beide hassten die bürgerliche Familie, den plaen Fortschrisglau- ben, die gut verkäufliche Literatur, banales Gerede. Beide beschlossen früh, nicht zu heiraten und sich nicht fortzupflanzen. Beide standen vor Gericht wegen Verletzung der Silichkeit: Flaubert wurde in Sachen Bovary freigesprochen, Baudelaire musste sechs Gedichte aus den »Fleurs du Mal« streichen und eine Geldstrafe zahlen. Was hat es mit ihe Modenität auf sich? Modern ist die Entscheidung, Künstler zu sein und nichts anderes. Alles auf eine Karte zu setzen – auf ein makelloses Buch, das »einschlagen« muss. Sich von der Gesellschaft abzuspalten, von jeder Bindung zu be- freien. Dazu kommen Weltekel, Melancholie, Verdruss, Verweigerung, der schillernde »Ennui«, der mehr ist als Langeweile. Ihre Biografen se- hen Krankheiten als Wendepunkt an: bei Flaubert die Epilepsie, bei Baudelaire die Syphilis. Und worüber wird geschrieben? Auf diese Frage geben sie neue, das Publikum schockierende Antworten. Baudelaire findet seinen düste- ren Stoff in der Großstadt, in flüchtigen Momenten auf der Straße, bei Huren und Kreaturen, in den »künstlichen Paradiesen« des Rausch- gifts. Das Hässliche und Grässliche wechselt mit Bildern reinster An- mut – der Romanist Hugo Friedrich sprach von der »Spannung zwischen Satanismus und Idealität«. Aus dem Schlamm des Bösen wächst die Blume der Schönheit: alles in erlesenen Satzfolgen und vollen- deten Reimen. Flaubert hat ein verwandtes Programm. Für ihn ist jedes Sujet gleich brauchbar, es gibt keine Hierarchie der Romanstoffe. Er hat triviale Plots und den Zeitgenossen vertraute Orte ebenso verwendet wie antike, mielalterliche oder mystische Ge- schichten. Entscheidend ist, was der Künstler daraus macht. Die Form ist wichtiger als der Inhalt. Daraus folgte seine besessene Arbeit am Satzbau und Rhythmus, am Klang, am Detail, am einzig richtigen Wort – die »Schrecken des Stils«. Der Zeichner Hans Traxler ließ in einem Cartoon die erleichterte Nachbarschaft ein Feuerwerk veranstalten, nachdem Monsieur Flau- bert endlich den ersten Satz der »Bovary« zu Papier gebracht hae. Ein Feuerwerk für den Spätvollendenden zünden französische Medien schon viele Monate vor dem Geburtstag am 12.12. Die Zeitschriften glänzen mit üppigen Sondernummern; das 114-seitige Heft des Figaro schlägt dabei mit wunderbarer Optik das früher maßgebliche, heute verkrautete Magazine liéraire. Und der Auslandssender TV5 berichtet in einem Video, dass Flaubert auch im Lockdown war: Auf seiner Orient- reise musste er in Beirut in Quarantäne, wegen der Cholera auf Malta. könnte: »Sie gleichen niemand.« Darauf kommt es an! Er lobt die Originalität des Stils, sprachliche Köstlich- keiten und »dass die Kunst den Vorrang hat«. Freilich, den Dichter mit Marmor und englischem Nebel zu ver- gleichen, ist etwas – nebulös. »Wie Sie arbeiten! – und wie gut! « Der Ältere sendet auch brüderliche Zuneigung bald flussabwärts. Dem Roman der Stunde über eine Ehe- brecherin widmet er eine tiefsinnige Betrachtung. Er nennt ihn vor- trefflich und eine »wahre Wee, eine Herausforderung, wie jedes Kunstwerk«. Ihr Autor sei »ein reich genährter Geist, voller Begeiste- rung für das Schöne, doch geschult als ein kräftiger Fechter«. Flo dankt Bo so: »Ihr Artikel hat mir das allergrößte Vergnügen bereitet. Sie sind in die Geheimnisse des Werkes eingedrungen, als ob mein Gehirn das Ihre wäre. Das ist von Grund auf verstanden und empfunden.« An weiteren Geheimnissen fehlt es nicht in dem Roman. Auch nicht an riesigen Meilensteinen, welche die zwei Franzosen hinterließen. Deshalb ist ihre Zweihundertjahrfeier ein Ereignis. Im April ging Charles Baudelaire voraus, der verfluchte Poet, der Bohemien und Flaneur, der unerhört Grauenhaftes in klassischer Gedich¥orm er- zählte. Sein Wahlspruch: »Das Schöne ist immer bizarr.« Im Dezember folgt Gustave Flaubert, der Eremit, der Wortmetz, der Stilfanatiker. Seine Parole: »Die Handlung ist völlig belanglos.« 34 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN : Die innee Welt, die mit de äußeen kollidiet Waum die Lektüe Macel Pousts keine veloene Zeit ist W er den Plan fasst, Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« zu lesen, braucht für die Realisierung einen lan- gen Atem: Vor ihm liegen mehrere Bände mit einigen tausend Seiten. Deren Lektüre benö- tigt etwas, das aktuell immer seltener verfüg- bar ist, nämlich Zeit und Konzentration. Der Detailreichtum des Geschilderten und die kunstvoll konstruierte Prosa erfordern ein wa- ches Auge und eine hohe Sensibilität. Also: Proust verlangt viel. Doch was bietet er? Man muss etwas ausholen, wenn man zeigen will, was die Lektüre lohnend macht, und zu- nächst einen Blick auf die Literaturgeschichte Frankreichs werfen. Um die Miˆ e des 19. Jahr- hunderts setzt mit Macht die Moderne ein, al- lerdings fast ausschließlich in der Lyrik, bei Baudelaire und den Symbolisten. Der Roman dagegen steht noch im Zeichen des Realismus eines Balzac und des Naturalismus bei Zola; allenfalls bei Flaubert kündigen sich Verände- rungen an. Es ist Marcel Proust, der die Er- neuerung des Romans vollzieht, indem er, wie es in der Lyrik geschieht, die erste Person Sin- gular verwendet und das Geschehen konse- quent in den Innenraum verlegt. Ein »Ich« er- innert sich an sein vergangenes Leben, das freilich unter einem unguten Stern steht: Der Protagonist, jenes Ich, möchte unbedingt ei- nen Roman schreiben, findet aber kein Thema, so dass sein Lebensplan zu scheitern droht. Am Ende indes sieht er sich in der Lage, seinen Roman zu schreiben, und dessen Thematik bildet nichts anderes als das eigene Leben. Diese projizierte Erfüllung des Lebens- plans wurde, so möchte man meinen, bereits durch den Text realisiert, den man soeben las: Der Roman ist »modern« im Sinne von selbst- reflexiv. So wie die Suche nach der verlorenen Zeit, die am Ende wiedergefunden wird, ist auch der Roman als solcher eine Suche – Suche nach einer neuen, nunmehr dezidiert moder- nen Form, und er ist die schließlich an ihr Ziel gelangende Suche nach dem eigenen Ich. Mochte Flaubert auch von einem »Buch über nichts« träumen, so ist Schreiben doch immer Schreiben »über etwas«; deshalb bleibt zu klä- ren, worum es in Prousts Roman geht. Der Ich- Erzähler entwirft das Bild der »Belle Époque«, also der Zeit zwischen 1870 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, erweitert aber diesen Rahmen bis in die ersten Jahre nach dem Krieg. Es handelt sich somit um die Lebens- zeit des Autors, der 1871 (noch im Deutsch- Französischen Krieg) geboren wurde und 1922 starb: Wir begehen also in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag, und für nächstes Jahr steht sein 100. Todestag an. Marcel Proust schrieb seinen Roman in strengster Isolation (bedingt durch seine Asthma-Erkrankung im »Innen- raum« seines Schlafzimmers) zumeist nachts und versuchte bis zu seinem Tod, ihn zu Ende zu führen. Das gelang; er habe, so berichtet seine Haushälterin, eines Tages gesagt, nun könne er sterben, denn er habe unter seinen Roman das Wort »Ende« gesetzt. Wenige Wo- chen später war er tot und musste die letzten Teile seines Romans unredigiert hinterlassen. Der Roman zeigt Glanz und Untergang einer Adelsgesellschaft auf, verfolgt deren Genealo- gie bis in die Tiefe der Zeiten und konfrontiert hiermit den Ersten Weltkrieg und den durch ihn bedingten Untergang einer ganzen Kultur. In all dies ist das Ich beobachtend und kom- mentierend eingebunden. Was sich sonst in seinem Leben noch ereignet, ist in gewisser Weise menschlich-allzumenschlich: Es verliert geliebte Menschen durch den Tod, verliebt sich mehrfach und leidet immer auf dieselbe Weise, indem seine innere Welt mit der äuße- ren kollidiert. Man begleitet jenes Ich durch sein Leben und hat teil an seinen Erlebnissen, aber auch, und das leistet das Erzählen in der ersten Person Singular, an seinen psychischen Reaktionen und seinen oftmals ins Allgemeine zielenden Überlegungen. Bis in die hintersten Winkel seiner Seele wird dieses Ich ausge- leuchtet. Prousts Analysen, Beschreibungen und Reflexionen gehören zum Subtilsten, was Prosa überhaupt zum Ausdruck bringen kann, und haben in ihrer Präzision und Poesie in der Literatur kaum ihresgleichen. Der Innenraum dieses Ichs umfasst eine ganze Welt. Notwen- digerweise vergangenheitsbezogen durch seine Erinnerungsthematik, berühmt geworden durch die sogenannte Madeleine-Episode, umfasst Prousts Roman freilich auch die sich erst bildenden Positionen der Avantgarden. Ebenso gehen die anderen Künste, real wie im Falle Beethovens und Wagners oder fiktiv wie bei der Figur des Komponisten Vinteuil, in den Roman ein und lassen ihn zu einem Gesamt- kunstwerk werden. 36 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN : Hezenssache Liteatu Über den großen Literaturvermi†ler Gerhard Wolf W ie kann man einer heute jungen Genera- tion Rolle und Bedeutung Gerhard Wolfs in der DDR und danach klarmachen? Wir wol- len es hier versuchen. Vor allem war und ist er ein Vermiler von Literatur – als Herausgeber, Autor, nach 1990 auch mit seiner Janus-Press als erfolgreicher Verleger. Er hat Bücher unter anderem über Bobrowski und Hölderlin ver- fasst, dazu eine Unmenge an Vor- und Nach- worten, Gesprächen und Vorträgen über Dichtung und Literatur. Sie halten allesamt der Zeit stand. Er war Herausgeber des Mär- kischen Dichtergartens, zusammen mit dem Idealpreußen Günter de Bruyn. Die Reihe er- schien in der DDR beim Buchverlag Der Mor- gen, im Westen als Fischer-Taschenbuch. Man findet die zeitlosen Bände in gut sortier- ten Antiquariaten auch heute noch. Gerhard Wolf, der immer ein wenig aus dem Schaen seiner Frau Christa, die spätestens seit »Nachdenken über Christa T.« eine internatio- nale Berühmtheit war, agierte, avancierte in den späten Jahren der DDR zu einer Art Vater- figur der jungen wilden Dichter, der zwischen dem Untergrund und dem offiziösen Kulturbe- trieb glaubwürdig vermieln konnte. Bei Auf- bau gab er die jungen Unangepassten heraus, die mit der DDR nicht mehr allzu viel anfan- gen konnten und wollten. In seiner »Außer der Reihe« erschienen erstmals Bert Papenfuß-Go- rek, Gabi Kachold, Rainer Schedlinski, auch Gerhard Wolfs Schwiegersohn Jan Faktor. Da- mals, als der Prenzlauer Berg noch ein völlig heruntergekommenes Viertel einer ziemlich wilden Boheme war (was heute kaum noch vorstellbar ist). Und erst nach dem Ende der DDR stellte sich heraus, dass die Stasi ziem- lich gut Bescheid wusste. Der Berliner Aufbau Verlag brachte nun im Herbst 2020 unter dem Titel »Herzenssache. Memorial – Unvergessliche Begegnungen« ein ordentlich gebundenes Buch der Erinnerungen heraus. Sorgfältig ausgewählt lebt hier noch einmal die Welt der beiden Deutschlands auf, die Zeit des Kalten Krieges, besonders von den Sechzigern bis zum Ende der DDR, aber auch über diesen Zeitenbruch hinaus. Denn für Gerhard Wolf muss es auch eine Befreiung gewesen sein, er zögerte nicht lange und grün- dete mit der Janus-Press seinen eigenen Verlag, wo er alte Freunde wie den Typografen und Designer Otl Aicher oder den Annaberg-Buch- holzer Carlfriedrich Claus verlegte. Insgesamt 27 Stücke verschiedenen Typs, vom Nachwort über Gespräche – diese auch gern zu dri mit Christa – bis zu Abschieden von Weggefährten am Grab. Es ist nur natürlich, dass die Texte eines heute 92-Jährigen einen häufig rückbli- ckenden Charakter haben. Der längste und stärkste Text dieser neuen Zusammenstellung, zugleich der einzige, der bislang noch nir- gends erschien, ist der über Franci Faktorova (1926–1997). Die Böhmin mit jüdischen Wur- zeln überlebte mit Schwester und Muer The- resienstadt und Auschwitz als junge Frau. Die Wolfs lernten sie in der Auf bruchsphase der sechziger Jahre kennen, der Zeit des Prager Frühlings, als Faktorova Redakteurin bei den Literární noviny in Prag war. Seitdem war sie eine Freundin der Familie, später heirateten die Kinder sich sogar. Von einer lebenslängli- chen Freundschaft legt Gerhard Wolf hier sehr persönlich Zeugnis ab. EGBERT PIETSCH ▶ Gerhard Wolf: Herzenssache. Memorial – Unvergessliche Begegnungen. Berlin: Auau . S., F O T O : I I K A R N W E C K H O R S T Leipzig-Besuch im Herbst ‰ŠŠ‰: Das Ehepaar Wolf war neugierig auf diese jungen Buchhändler von der Connewitzer Verlagsbuchhandlung und kam am ‰•. November ‰ŠŠ‰ zu einer Lesung in die Fritz-Austel-Straße •‰ nach Leipzig, wo es im Hinterhaus einen größeren Raum gab, den die Galerie Eigen + Art bis zum Sommer ‰ŠŠ bespielt ha†e. (Galerist Gerd-Harry »Judy« Lybke war schon zur nächsten Station auf seinem Weg zum Ruhm in die Zentralstraße weitergezogen.) Natürlich war auch dieser Raum viel zu klein, um die zahlreich erschienenen Verehrer der weltberühmten Autorin zu fassen. Peter Hinke und ich waren vor allem damit beschä¦igt, den überwiegenden Teil der Leute mit zahlreichen Gesten des Bedauerns wieder nach Hause zu schicken. Nicht überall traf man auf Verständnis. Die Lesung dann war ein denkwürdiger Abend, sowohl Christa als auch Gerhard lasen Texte, die in jenen Herbst Š‰ passten, als sich schon klar abzeichnete, dass die großmäulig angekündigten blühenden Landscha¦en wohl noch etwas länger auf sich warten lassen würden. 38 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN : Ein andees Euopa Johny Pis erhält den Preis r Europäische Verständigung D ie Leipziger Buchmesse findet in diesem Jahr nicht sta, den Preis für Europäi- sche Verständigung gibt es trotzdem. Er geht 2021 an den britischen Schriftsteller Johny Pis, und selten haben ein Preisträger und ein Preis so gut zusammengepasst. Johny Pis ist in Firth Park aufgewachsen, dem Arbeiterviertel der englischen Großstadt Sheffield. Als Sohn einer weißen Muer und eines afroamerikanischen Vaters passte er gut hinein in eine Gegend, in der Kinder engli- scher Arbeiter mit den Kindern der Arbeiter aus den Kolonien spielten, die gekommen waren, um das kriegsversehrte Großbritan- nien mit aufzubauen. In Interviews redet der Autor gerne darüber, wie ihn der Multikulturalismus seiner Jugend im Prolog so beschreibt: »Ich reiste im Na- men derer, die nicht reisen konnten oder woll- ten: der Community schwarzer Arbeiter und Kinder von Immigranten, und machte mich auf die Suche nach einem Europa, das sie und ich womöglich als unser eigenes erken- nen könnten.« Als Autor ist Pis ein genauer Beobachter, der sich selbst immer wieder kritisch befragt und auch Ambivalenzen aushält. Der Leser folgt ihm durch verschiedene Metropolen, lernt dabei Aktivisten und ihre Projekte, wie die Black Archives in Amsterdam, kennen. Deren Arbeit fängt Pis auch in Fotos ein, die das Buch zu einer der schönsten Reportagen der letzten Jahre machen. Seine Bilder zeigen schwarze Europäer in ihrem Alltag, viele sind in der Metro aufgenommen oder bei Spazier- gängen durch den Pariser Vorort Clichy-sous- Bois oder Matongé in Brüssel. Eine »von Hoffnung und Melancholie getra- gene Bricolage« nennt die Leipziger Preis-Jury »Afropäisch«. Ihr Autor begreift die Arbeit daran als Teil eines größeren Projektes, in dem schwarze Europäer ihre eigenen Lebensge- schichten erzählen und damit das Narrativ eines Kontinents stärken können, der diver- ser ist, als er von vielen wahrgenommen wird. Zu diesem Zweck hat er eine eigene Website kreiert, geplant sind außerdem ein Podcast so- wie eine Dokumentation. Pis’ Reise, die vor einigen Jahren mit dem Interrail-Ticket und einem Rucksack begann, ist längst nicht zu Ende. Der Leipziger Preis wirkt da wie ein wohlverdienter Etappensieg für ein grandio- ses Buch, dem hoffentlich viele weitere fol- gen werden. JOSEF BRAUN prägte, der im Gegensatz stand zu den rassis- tischen Strukturen, die ihm sonst in seinem Alltag begegneten, beispielsweise in seiner Schule, die in einem Jahr zur schlechtesten des ganzen Landes gewählt wurde. Wenn Pis dort sagte, dass er gerne schreiben wolle, be- gegneten ihm seine Lehrer vor allem mit Un- verständnis. Den Zugang zur Literatur eröff- nete ihm der Hiphop, etwa das Duo Black Star, das in dem Song »Thieves of the Night« Toni Morrisons Roman »Sehr blaue Augen« feierte. Nach der Schule nahm Pis verschiedene journalistische Aufträge an, arbeitete für die BBC und beobachtete gleichzeitig, wie sich die Gesellschaft um ihn veränderte. Auf Podiumsdiskussionen betont er häufig, wie die New-Labour-Jahre unter Tony Blair Großbritannien dem globalen Markt überant- worteten. Gewerkschaften verloren zuneh- mend an Einfluss und die alte Arbeiterklasse wurde zu einem Relikt, über das man selbst in sogenannten linken Kreisen zunehmend spoete. Die Auswirkungen zeigten sich auch in Pis’ Bekanntenkreis: Einer seiner Freunde wandte sich dem Islam zu, einer wurde während des Brexit-Referendums glü- hender Anhänger von Nigel Farages Ukip- Partei, ein anderer landete im Gefängnis. Sta Solidarität zu zeigen, verschwand plötzlich jeder in seiner eigenen Welt. »Afropäisch« heißt das Buch, das Pis ge- schrieben hat, auch als Protest gegen die Entwicklungen in seinem Land. Der Begriff »Afropäisch« wurde von Talking-Heads- Sänger David Byrne und Marie Daulne, Front- sängerin der belgisch-kongolesischen Band Zap Mama geprägt. Die beiden versuchten, damit Musik zu beschreiben, in der afrikani- sche und europäische Einflüsse zusammen- finden. Eine Musik, wie sie in den schwarzen Communitys entsteht, die sich über Jahr- zehnte in Europa gebildet haben. Ebensolche Communitys suchte Pis für sein Buchprojekt auf, dessen Zweck er gleich ANZEIGE Im Kulturreiseführer Das schlesische Elysium präsentiert der Kunsthistoriker und Denkmalpfl eger Arne Franke 45 Burgen, Schlösser, Herrenhäuser und Parks im Hirschberger Tal. Das Buch ist nicht nur ein erprobter Reisebegleiter, sondern sorgt auch dafür, dass man, wie ein Rezensent des Saarländischen Rundfunks es formulierte, schon während der Lektüre ein wenig dort ist, bevor man vielleicht wirklich hinfährt. Die im April 2021 erschienene fünfte Aufl age trägt den Veränderungen in der Region Rechnung und bietet ein neu- es Themenkapitel mit bedeutenden Anlagen in der näheren Umgebung. Arne Franke: Das schlesische Elysium. Burgen, Schlös- ser, Herrenhäuser und Parks im Hirschberger Tal. 5. Aufl ., Potsdam 2021 ISBN 978-3-936168-90-7, € [D] 19,80; [A] 20,40 Weitere Publikationen und Angebote: www.kulturforum.info Gefördert von 40 www.keuze-leipzi.de

| MAGAZIN H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F : De Leipzie Antiquaiatsundan D as Jahr 2020 war für das Leipziger Antiquariatswesen naturgemäß ein außerordentliches. Die ständigen Schließungen vertrieben viele Kunden. Und 2021 begann ebenso durchwachsen. Größte Neuigkeit ist, dass die Bücherinsel ihr Ladengeschäft zum 31. März schloss, was doch einen herben Verlust für die Riˆ erstraße bedeutet. Aber die Inhaberfa- milie Förster (siehe Foto) wird ihr Geschäft aus den heimischen Räu- men weiterführen. Außerdem ist eine Weltreise geplant. büchern ist erstklassig. Von hier begeben wir uns an den Markt und da- mit an die absolute Spitze des Antiquariatswesens in Leipzig: das Säch- sische Auktionshaus und Antiquariat unter den Rathausarkaden – der richtige Ort für das bibliophile Trüffelschwein. Ein gehobenes An- gebot erwartet uns hier: mit signierten Erstausgaben und den besten Klassikerausgaben. Inhaber Christian Wend veranstaltet in jedem No- vember eine Buch- und Kunstauktion. Auch die Leipziger Antiquariatsmesse 2020 konnte mit der kurz- Um den wirklichen Leipziger Überblick zu gewinnen, muss der Buch- fristigen Absage der Buchmesse nicht staˆ finden, was sich 2021 wieder- holte. Veranstalter Detlev Thursch erwägt dieses Jahr eine Herbst- veranstaltung in Leipzig, die aber zum Redaktionsschluss noch nicht feststand. Wir starten wie immer in der Riˆ erstraße, dem Herz des Leipziger Antiquariatswesens. Zunächst erreichen wir vom Hauptbahnhof kom- mend das geräumige Leipziger Antiquariat mit den großen Fenster- fronten. Hier erfreut Henry Rietdorf mit einem reichhaltigen Angebot aller Gebiete. Und in den Glasschränken verbergen sich die wirklich raren Schätze. Hundert Meter weiter die Riˆ erstraße aufwärts führt Nicoline Thieme ihr Fachbuchantiquariat. Bei ihr gibt es in den Natur- wissenschaften, für Technik und Medizin, aber auch in geisteswissen- schaftlichen Richtungen Sachbücher fast jeder Disziplin. Im Keller findet sich aber auch eine große Auswahl Belletristik. Ein paar Meter weiter hinauf erreichen wir das Antiquariat an der Nikolaikirche von André Brauer. Sein Angebot an Erstausgaben, Klassikern und Kinder- freund nun in den Westen unserer Stadt, der sich weiterhin gut entwi- ckelt. Wir flanieren auf der Karl-Heine-Straße – unterdessen ein pulsie- render Boulevard – zur Nummer 85, dem sogenannten Westwerk. Das Bücherlager, geführt von Familie Ahrens, ist zwar kein Antiquariat im klassischen Sinne, aber eine riesige Fundgrube – fast jedes Buch für einen Euro. Es gibt eine leidliche Ordnung, aber auch die Anarchie hat ja ihren Reiz! Und wer sucht, der findet auch hier. Gewissermaßen als die Endstation Sehnsucht bildet dieses Gewölbe ein durchaus verdienst- volles Fundament unseres Gebietes. Ein funktionierender Umschlag- platz, auf dem schon so mancher Antiquar sein Lager auffüllte. Ein finaler Schlenker führt nach Nordwest, auf die Georg-Schwarz- Straße. Hier betreibt Henry Rietdorf das Leipziger Antiquariat W33 für die geistige Grundversorgung. Die Auswahl in Leutzsch ist groß, überraschend ist außerdem, dass eine junge Generation das Zepter führt. Rietdorf war zuletzt der einzige Antiquar in Leipzig, der Lehr- linge ausbildet. EGBERT PIETSCH ANTIQUARIAT AN DER NIKOLAIKIRCHE Rittest. 8–10 (Zentum), Tel. 2 11 20 13, Mo–F 10–19, Sa 10–16 Uh, www.antiquaiat-baue.de, info@antiquaiat-baue.de BÜCHERINSEL Besuche nur nach Vereinbarung. Tel. 9 90 40 81, buecheinsel.lpz@feenet.de BÜCHERLAGER Kal-Heine-St. 85 (Westwek), Tel. 0 15 77/4 71 42 96, Mi–Sa 14–18 Uh, keine Website, keine E-Mail FACHBUCHANTIQUARIAT THIEME Rittest. 8–10 (Zentum), Tel. 2 12 74 24, Mo–F 10–19, Sa 10–16 Uh, www.antiquaiat-thieme.de, sevice@antiquaiat-thieme.de GRAPHIKANTIQUARIAT UND GALERIE KOENITZ Antiquaiat: Makt 1/Altes Rathaus (Zentum), Tel. 2 11 10 24, Mo–F 10–19, Sa 10–16 Uh Galeie: Dittichin 16 (Zentum), Tel. 9 99 96 58, Mo–F 10–19, Sa 10–16 Uh, www.antiquaiat-koenitz.de, leipzi@antiquaiat-koenitz.de LEIPZIGER ANTIQUARIAT Rittest. 16 (Zentum), Tel. 2 11 81 88, Mo–F 11–18, Sa 11–14 Uh, www.leipzieantiquaiat.de, sevice@leipzieantiquaiat.de LEIPZIGER ANTIQUARIAT W Geo-Schwaz-St. 12 (Leutzsch), Mo–F 12–18 Uh, www.cental-antiquaiat.de info@cental-antiquaiat.de SÄCHSISCHES AUKTIONSHAUS UND ANTIQUARIAT Makt 1/Altes Rathaus (Zentum), Tel. 9 83 20 15, Mo 10–18, Di–F 10–19, Sa 10–16 Uh, www.antiquaiat-wend.de, antiquaiat-wend@t-online.de 42 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : »Liebe Go , soll das ein Schnitzel sein« In ihrem jüngsten Werk erzählt Helga Schubert pointierte Szenen ihres Lebens »Das Schönste am Winter ist eigentlich, dass die Bäume keine Blätter haben.« E in Leben in Geschichten« verspricht der Untertitel des Buches, in das Helga Schu- bert, inzwischen achtzigjährig, Erinnerungen packt: an Orte wie die Hängema e in Omas Garten oder den 1941 vor Moskau von einer Handgranate zerrissenen Vater, an Kindheit und Flucht im Zweiten Weltkrieg, vor allem aber an ihre distanzierte Beziehung zur Mut- ihr Privileg, dass sie bereits zu DDR-Zeiten ohne SED-Parteibuch ins westliche Ausland reisen durfte. Und dieses »dürfen!« beschreibt sie als Teil der Unfreiheit, mit der das »Zwer- genland« seine Bewohner belauerte. Dass sie im Westen verlegt und gelesen wurde, dafür Auszeichnungen und Anerkennung erhielt, wird ihrem Gesamtwerk absolut gerecht. Auch, dass sie im vergangenen Jahr den Inge- borg-Bachmann-Preis in Klagenfurt erhielt. PETRA MEWES ▶ Hela Schubet: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. München: dtv . S., € ter, die 101 Jahre alt wurde. Die ungeliebte Schwiegermu er und eiskalt berechnende Tanten kommen ebenfalls nicht gut weg. Je- der erste Satz zieht sofort in die 29 Geschich- ten hinein. Absurditäten aus dem DDR-Alltag beschreibt sie ebenso ohne Pathos wie die Er- eignisse im Os eil Berlins am 9. November 1989. Typisch DDR, denkt man unweigerlich, als ihr 14-jähriger Sohn Förster werden will, beim Eignungsgespräch aber zuerst die Frage nach Blutsverwandten im westlichen Ausland beantworten muss. Ihr sprunghaftes Pendeln zwischen Zeiten und Ereignissen macht es nicht immer leicht, jene Sippschaft zu über- blicken, die mehr oder weniger lange ihr Le- ben begleitet hat, zumal auch ihr inzwischen pflegebedürftiger Mann einen Platz in diesem Spätwerk erhält. Zwischendurch fragt die Au- torin: »Heimat, was ist das eigentlich?« oder sie zitiert – eher hungrig nach Leben sta nach Essen – jenen Satz über das Schnitzel. Helga Schubert wundert sich noch heute über : Ein Jahhundet, eine Stadt, eine Familie Patricia Holland Moritz legt mit »Kaßbergen« einen meisterha en Roman vor E s soll ja Menschen geben, die die Seiten- zahlen im Buch beim Lesen völlig außer Acht lassen – ich könnte das nicht. Selbst beim besten Buch der Welt (Raten Sie mal!) habe ich im Hinterkopf: »Ah, ungefähr die Hälfte«, »30 Seiten schaff ich heute noch«, »Mist, letztes Kapitel!« und so weiter. Patricia Holland Moritz’ erster »richtiger« Roman (nach einigen Krimis, die für uns Feuilleton- Snobs ja nicht zählen) hat 376 Seiten, und also werde ich auf Seite 375 immer unruhiger und l e s e i m m e r l a a n g s a a a m e e e e r, um nur nicht umblä ern zu müssen. Denn da auf der anderen Seite wartet ja nur noch eine halbe und das ist doch Mist, weil es doch egal ist, wie es endet, wenn es sta dessen doch besser gar nicht enden würde. Was für ein Buch! Ein Jahrhundert, eine Stadt, eine Familie – und überall sind Namen Schall und Rauch. Kaßbergen, Karl-Marx-Stadt, Chemnitz – wie Sie wollen. Und warum sollte man seine Großeltern »Oma« und »Opa« nennen, wenn sie doch »der Minister« und »der Häuptling« heißen? Wo war denn diese 1964 geborene Patricia Holland-Moritz, die sich das ziemlich lässige Pseudonym Patricia Holland Moritz zugelegt hat, bisher? Geboren in Karl-Marx-Stadt, war sie Buchhändlerin in Leipzig, Speditionskauf- frau in Paris (vor der Wende) sowie Studentin und Bookerin in Berlin, wo sie heute für einen Verlag arbeitet – steht auf dem Buchumschlag (der leider sehr hässlich ist, vielleicht aber so manche nostalgische Zielgruppe abgreift). Aber das können Sie alles gleich wieder ver- gessen, denn wenn es ein bisschen Gerechtig- keit in der Welt gibt, wird Patricia Holland Moritz von nun an überall diejenige sein, die »Kaßbergen« geschrieben hat. Also jenen Roman, der in alltagsfreundlich kurzen Kapi- teln vom ersten Haus auf dem Kaßberg im 19. Jahrhundert erzählt, von einer Kindheit in der DDR, von den Chemnitzern Stefan Heym und Stephan Hermlin, vom »sächsischen Manchester« und vom ewigen Tagebau, vom Bombardement 1945 und von der aufgezwun- genen Umbenennung 1953, vom Scheidungs- kind-Sein und vom Punk-Sein, vom Schreiben und von den »Holzgschnitztn«. Und vom Bier- trinken, immer wieder auch vom Biertrinken. Ki elschürze, nicht zu verwechseln mit Frau Sassi, der »schönsten Klassenlehrerin der Welt«) die kleine Ulrike mit nach Hause, weil der schon etwas wunderlich gewordene Opa – genau: »der Häuptling« – mal wieder verges- sen hat, seine Enkelin abzuholen: »Sie nahm meinen Anorak vom Haken. Ich zog ihn an, band meine Schuhe, hängte mir meine Brot- tasche um und winkte den Puppen.« Und winkte den Puppen! Kein Wort zu viel, keine Erklärung, nicht ein Adjektiv im ganzen Satz – und doch ist das Bild ganz klar; ein Kind winkt seinen Puppen, wenn es geht, fertig, aus. Man möchte jedem, der in den letzten 80 Jahren in Ostdeutschland geboren ist, die- ses Buch ans Herz legen. Und all jenen, die dieses Glück nicht ha en, erst recht. BENJAMIN HEINE ▶ Paticia Holland Moitz: Kaßbeen. Belin: Au† au . »Durch Kaßbergen liefen allerlei wunderli- ‡ˆ‰ S., € che Leute« heißt es zu Beginn, und, mein lieber Scholli, das ist nicht untertrieben. Und wie Holland Moritz von ihnen erzählt! Wie sie sie sprechen lässt! Da reden an vielen Stellen keine Figuren, sondern echte Menschen, keine Frage. Und da ist so viel Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, so viel Witz und Sprachgefühl, und so rein gar kein krampfhaf- tes Bemühen um Bedeutung, wie man es aus anderen Romanen über sächsische Städte leider kennt. Ein Kapitel in »Kaßbergen« heißt übrigens »Der Turm«, keine Ahnung, warum mir das jetzt einfällt. An einer Stelle ziemlich zu Beginn nimmt die Kindergärtnerin (Frau Richter in der »Drei Männer tanzten verträumt Rücken an Rücken zwischen den T ischen im Klub der Intelligenz Pablo Neruda.« 44 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Sächsische Allta Vom ostdeutschen Meinungsspektrum B ekannt als Chronist deutscher Geschichte, beschreibt Christoph Hein in seiner Prosa seit über 40 Jahren soziale Zustände und die Gefühlswelten der Menschen, die in ihnen leben müssen. Wie so oft wird es auch in sei- nem neuen Roman auf besonders ostige Weise niederschme ernd. Als in der fiktiven sächsischen Kleinstadt Bad Guldenberg eine kleine Gruppe minderjähriger Flüchtlinge in einem alten Seglerheim untergebracht wird, gerät die vermeintlich heile Welt aus den Fu- gen. Obwohl teilweise schwer traumati siert, sind die Flüchtlinge draußen überall Miss- trauen, verbalen und körperlichen Angriffen ausgesetzt, bis die Lage nach einer angeb- lichen Vergewaltigung eskaliert und es einen Brandanschlag auf die Unterkunft gibt. »So ist Guldenberg, und darum muss ich hier weg.« Meisterhaft ist hierbei die Sensibilität und Nuanciertheit, mit der Hein verschiedene Mi- lieus und ihre Meinungsspektren beschreibt. Die Leser erfahren von den Rissen zwischen Lokalpolitik und Bürgern, Problemen eines mi elständischen Unternehmers, dem Ärger in einer kapu gesparten Polizei. Ebenso ist man auch bei Gerüchten am Kiosk oder in kruden Diskussionsrunden beim Skat dabei. Kontrastiert wird das allgemeine Unbehagen mit Reflexionen der wenigen, die anders den- ken: Eine Betreuerin aus dem Flüchtlings- heim wertet mit ihrer Oma die aktuellen Er- eignisse aus, ein Priester ärgert sich mit seiner kauzigen Haushälterin über die Frem- denfeindlichkeit in seiner Gemeinde. Realistisch und ohne zu moralisieren schildert Hein das politische Den- ken in der ost deutschen Provinz, das in weiten Teilen von rassistischen Klischees bestimmt ist, dem Gefühl, von »denen da oben« nicht ge- hört zu werden und auch mit Gewalt im Recht zu sein. Damit zeigt er gleichzeitig auch auf, warum Guldenberg für viele – wie für einen der Betreuer, der nach den Ereignissen be- schließt, wegzuziehen – ein Ort ist, an dem man nicht mehr leben möchte. THORSTEN BÜRGERMANN ▶ Chistoph Hein: Guldenbe. Belin: Suhkamp . S., . Escheint am .. »Jedes Ende ist ein vor- läufiges, eines, an dem sich anknüpfen, an dem sich weiterspinnen lässt.« D ie Gerissene« – der Titel von Eva Schörk- hubers neuem Roman ist doppeldeutig. Er verweist auf die Findigkeit, aber auch auf das zwischen- mensch liche Abgetrennt- sein ihrer Protagonistin. Beides passt. Mira ist eine Außenseiterin in ihrem kleinen öster- reichischen Dorf. Schon als Kind spürt sie eine fremde Saite in sich erklingen, die sie hinaus in die Welt zieht und dazu bringt, einmal geknüpfte Verbindungen aufzulösen. Mit siebzehn strandet sie in Marseille, ge- trieben von Unruhe, Abenteuerlust und dem Wunsch, das Ankommen zu studieren – bei : Geissene Entdeckein Eva Schörkhuber führt uns mit einer sperrigen Heldin durch die Welt anderen. Sie selbst tut sich schwer damit, ihren Platz zu finden. Auch auf ihrem weiteren Weg – nach Oran, durch die alge rische Wüste und später nach Havanna – ist ihre Ankunft immer von En äuschung begleitet. Doch sie schwingt sich auf die Melodien der unterschiedlichen Orte ein, lernt ihre Bewohner kennen und die eigene Aufgabe: Mira will den Menschen eine hoffnungsvolle Zukunft bringen. Dazu dienen ihr selbstgenähte Taschen ebenso wie neu bemalte Revolutionsfahnen. In der jungen, entschlossenen Frau scheint sich brennpunktartig die Energie eines Lan- des und einer Zeit zu bündeln, die Verän- derung bringt. Doch Mira ist zwar eine Sehe- rin und Aufrührerin, aber keine, die bleibt, um etwas aufzubauen. So verhält sie sich auch in ihren Liebesbeziehungen, die trotz al- ler Intensität und Zartheit flüchtig bleiben. Eva Schörkhuber hat eine Figur geschaffen, die für die Leserin sperrig bleibt, sich nicht durch Sympathie vereinnahmen lässt. Eine, deren Freiheitsdrang enorm ist, ebenso wie ihr Empfindungsreichtum. Die Welt, die sie durchreist, ist bunt, ungeordnet, sinnlich. Mira sieht Dinge und Ereignisse kommen, sie träumt sie, während sie durch fremde Straßen läuft. Eine wie sie lehrt das Entdecken, das Ankommen lernen wir von anderen. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Eva Schökhube: Die Geissene. Wien: Edition Atelie . … S., : Zwischen zwei Leben Dmitrij Kapitelman erzählt vom Gestern und vom Heute, vom Hier und vom Da D ima kommt als achtjähriges Kind mit seinen Eltern nach Deutschland, als »jü- dische Kontingenž lüchtlinge« landen er und seine Familie im Sachsen der neunziger Jahre; ein Vierteljahrhundert später entschei det er, sich in Deutschland einbürgern zu lassen. Da- für braucht er unter anderem eine beglaubigte Geburtsurkunde, die er nur in seiner Geburts- stadt bekommt. Ein Bla Papier. Bloß eine Formalie in Kiew? Die Überforderung reist mit. Nah und greifbar, sanft und frech, humorvoll und herzerwärmend erzählt Dmitrij Kapitel- man in seinem zweiten Roman von seiner eige- n en Zerrissenheit und der seiner Familie, sei- nem Umgang mit den Eltern, der Distanz zu der Stadt, in der er geboren wurde, zu seiner Vergangenheit und sogar seiner Gegenwart. Mit einem scheinbar schlechten Gewissen liefert er den Lesenden die Gründe für seine Entscheidung, sich in Deutschland einbürgern zu lassen: »mit einem deutschen Pass ließe sich Deutschland nož alls sogar mit mehr Opti- onen verlassen«, heißt es dazu unter anderem. Die Gefahr scheint sein Leben in Deutschland zu begleiten. Er blickt in die Vergangenheit, in der er von Leipziger Nazis gequält, schika- niert, bedroht und gejagt wurde, und von ei- ner deutschen Polizei, die nie etwas dagegen tat. Von rassistischen Kontrollen an der Grenze, von einer Normalität, die ihn ständig zum »Anderen« macht. Geschickt wechselt Kapitelman zwischen heute und gestern, wenn er von der Heute- Mama und dem Damals-Papa erzählt, und zeigt auf die Grube zwischen zwei Leben – vor und nach der Migration. Klug und reflek- tiert nimmt er uns mit auf eine komische und zugleich melancholische Reise. Mal spaziert, mal rast er durch Zeit und Raum und wird da- bei von ganz vielen Katzen begleitet. Seine Reise nach Kiew ist der Be- ginn eines persönlichen und familiären Mauerfalls. SIBEL SCHICK ▶ Dmitij Kapitelman: Eine Fomalie in Kiew. München: Cal Hanse . ŒŽ S., »Was für ein wunderbarer Tag, um das Justizministerium abzufackeln, finden Sie nicht?« 46 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Plädoye analoe Schutzäume »Alles, was ich mir als Kind für mein Erwachsenenleben erträumt habe, ist mir heute völlig gleichgültig, stattdessen sehne ich mich danach, wieder ein Kind zu sein.« Jochen Schmidts »Ich weiß noch, wie Kin Kon stab« ist ein -teilies Allelei J ochen Schmidt hat in etwa das gleiche Problem wie Max Müller. Ständig wird er verwechselt, bei Lesungen schiebt man ihm Bücher seiner Namensve er zum Signieren über den Tisch. Doch er nimmt es mit Humor und einer großen Portion Selbstironie – zusam- men mit all den anderen Jochen Schmidts ar- beitet er an ihrem gemeinsamen Werk. Sein neuester Beitrag dazu versammelt unter dem Buchtitel »Ich weiß noch, wie King Kong starb« Anekdoten und Alltagsbeobachtungen, die bei Taxifahrtgesprächen, Fußball, Mut- proben, Reisen und familiären Beziehungen ansetzen, um immer wieder zum Konsum- und Kommunikationsverhalten der Menschen überzuleiten. Es sind Situationen, wie wir alle sie mehr oder weniger kennen, doch wenn Schmidt sie in Worte, Sätze und viele Fragen fasst, kommt die Absurdität unreflektierter Gewohnheiten zum Vorschein. Als hä e der Erzähler in einer Kiste mit Er- innerungsstücken gekramt oder bei seinen Eltern zu Hause endlich sein Kinderzimmer entrümpelt, geben Geburtstagstelegramme, veraltete Programmierbücher, Reisefotogra fien, Scherzartikel und vertrocknete Lebens mi el Anstoß zu gedanklichen Ausschweifungen. Gezeichnete Wortwitzeleien, die sich auch gut auf Postkarten drucken ließen, untermalen das Ganze von Zeit zu Zeit. Mit seiner Achtung vor scheinbar wertlosen Objekten trotzt der Erzähler einer schnelllebigen, reizüberfluteten Welt, in der sich jeder stets weiter optimieren muss. Die Episoden, die Schmidt hier in ironi- schem oder naiv staunen- schem oder naiv staunen- dem Tonfall wiedergibt, sind mitunter nicht neu, folgerichtig wird die Sammlung im Untertitel als »Florilegium« be- zeichnet. Aus früheren Zeiten stammt zum Beispiel auch der Text »In der Videothek«. Vi- deotheken?! Die sind mi lerweile leider aus- gestorben und so wirkt Schmidts Verteidigung »analoger Schutzräume« gegen die allmäch- tige Digitalisierung ein wenig wie ein Kampf gegen Windmühlen. HANNA SCHNECK ▶ Jochen Schmidt: Ich weiß noch, wie Kin Kon stab. Ein Floileium. München: C.H. Beck . “” S., ‚ : Nicht einfach »Das Kind wollte einen Vogel haben.« Eva Schmidts »Die Welt eenübe« ezählt vom Leben de andeen L akonie ist eine schöne Sache. Im Gespräch ebenso wie in der Literatur. Der Duden de- finiert sie, die Lakonie, als »Kürze, Einfach- heit«. Erzählungen eignen sich schon auf- grund ihrer Form ausgezeichnet dafür. Und Eva Schmidt, die 2019 in »Die untalentierte Lügnerin« gezeigt hat, dass sie die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt bringen kann, hat man als passende Autorin für diese Form auf dem Ze el. Leider geht diese Erwartungshal- tung bei ihrem neuen Erzählband »Die Welt gegenüber« nicht ganz auf. Die Welt gegenüber: Das ist die Welt der Nach- barn und der Menschen, die sich im eigenen Umkreis bewegen. Denen man begegnet, die man aber doch zu wenig kennt. In diesen an- deren spiegelt sich das Leben der Protago- nisten wider: Was schiefgeht, was geglückt ist – überwiegend jedoch Ersteres. Da spinnt sich eine Frau am Fenster die Beziehung des Paares in der Wohnung gegenüber aus. Ein äl- terer Mann en¤ ührt einen Jungen, um ihn von seiner verwahrlosten, drogenabhängigen Mu er zu befreien. Eine junge, umherzie- hende Frau quartiert sich bei einem taub- stummen Mann im Wohnwagen ein und be- stiehlt ihn. Einige Geschichten werfen den Leser kraft- voll hinein in den kurzen Lebensausschni ei- ner Figur, andere lassen gleichgültig. Schmidts Erzählungen en¤ alten immer dann einen Sog, wenn eine emotionale Bindung zwischen den Figuren entsteht. Bleibt es bei Fantasien oder kreist eine Figur nur um sich selbst, wirken die Geschichten blass. ANDREA KATHRIN KRAUS : Zeitzwischenäume Maica Bodožić scheibt das Buch des Jahes A uf dem Balkon trage ich nun jeden Abend um 20 Uhr Rilkes Panthergedicht laut vor, als hä e ich früher nie etwas anderes um diese Uhrzeit getan.« Früher: Das ist vor der Pandemie. Jetzt: Das ist die Pantherzeit. Später: Ungewiss. Gedichte lesen ist ja an sich schon entschleunigend. Jeden Abend dasselbe Ge- dicht immer und immer wieder zu lesen, muss also die Zeit beinahe rückwärts laufen lassen. Eine Reise in die Vergangenheit, an den Ur- sprung des Echos. Marica Bodrožić hat in die- ser Pandemie ihr Innerstes nach außen ge- kehrt, ist freigiebig mit ihrem Wissen und, ja, man muss das so sagen: ihrer Weisheit. Ihre Reflexionen sparen nichts aus. Von den Tränen, die ihr kommen, als sie für den Nachbarsjun- gen ein Geburtstagslied singt – von Wohnung zu Wohnung. Wie sie geht, um diese Tränen für sich zu behalten. »Ich glaube, das Wahre, das Tiefempfundene, das Echte wächst auf allen Ebenen unseres Seins gerade neu nach.« Wo andere sich noch scheuen, eine Sprache zu wäh- len und ihre Gedanken zu teilen, zu einer Zeit, da Corona-Bücher geschrieben werden, die nichts zu erzählen wissen, da ist Bodrožić’ Es- say ein wahrer Anker. Man will von jeder Seite zitieren, die Klebeze elchen fliegen nur so herum. Die Rezensentin lässt sich zum ersten Mal und vielleicht nie wieder zum Ich hinrei- ßen: Das ist das beste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe. Und es ist egal, dass es noch nicht mal zur Hälfte vorbei ist. Wenn Sie dieses Heft lesen, dann lesen Sie im Idealfall vielleicht sogar Bücher. Ich kann Ihnen nur ▶ Eva Schmidt: Die Welt eenübe. Ezählunen. Salzbu: Jun und Jun . S., ‚ »Seitdem die Hortensie da ist, fühle ich mich wieder mit der Welt verbunden.« raten: Lesen Sie dieses! Den besten Grund liefert die Autorin selbst: »Lek- türe, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander bündelt und in ein Bild führt, ist mehr, als ein äußerer Ort je sein kann.« LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Maica Bodožić: Panthezeit. Vom Innenmaß de Dine. Salzbu: O o Mülle . S., ‚ 48 www.keuze-leipzi.de www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK I E G E Z N A : Schlimme ehts imme Mary Shelley führt ins England des Jahres , wo die Pest beinahe die Menschheit ausro et I n der Einleitung zu »Der letzte Mensch« be- schreibt Mary Shelley einen Besuch in der Höhle der Sibylle, wo sie »sibyllinische Blä er« mit »Prophe zeiungen« findet. Damit ist die Basis für den vierten Roman der »Franken- stein«-Autorin geschaffen. Thomas Gsella GENUSS- GEDICHTE in der Box Mit Zeichnungen von Rudi Hurzlmeier AB SOFORT IM BUCHHANDEL Der Erzähler, Lionel Verney, Sohn eines ver- armten Höflings, wächst mit seiner Schwester in Cumber land auf, einer Region Englands, die durch den romantischen Dichter William Wordsworth berühmt wurde. Adrian, der ehemalige Prince of Wales, nimmt sich der beiden an. Seine Mu er, Gräfin von Windsor, versucht als finstere Eminenz Ehen zu ar- rangieren, um so die Monarchie wieder einzu- füh ren. Aber die romantische Liebe siegt, Liebesehen werden geschlossen, die Familien genießen in Schloss Windsor ein sorgloses Dasein. Der Lordpro tektor, Lord Raymond, will zum Wohle des Landes eine National- galerie bauen lassen und im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung trifft er erneut auf die Griechin Evadne, die einst in ihn un- glücklich verliebt war. Als eine Art Kassandra sagt sie später in Griechenland das Ende der Menschheit voraus. »Der Tod saß an den Tischen der Großen, dehnte sich auf die Pritsche des Häuslers aus, ergriff den f liehenden Feigling und schlug den tapferen Mann, der sich widersetzte, nieder.« Lord Raymond zieht nach Griechenland in den Krieg gegen die Türken; die Zweiteilung ist klar: hier die Kultur Griechenlands und da die Barbarei der Türken. Raymond stirbt im Kampf wie Lord Byron. Dann taucht die Pest aus dem Osten kommend auf, wütet erst unter den Türken und breitet sich weiter aus durch Europa. Viele Engländer kehren auf die Insel zurück und bringen die Pest nach London und ins ganze Land. Schloss Windsor wird ein Zufluchtsort für Lionel und seine Familie und auch für viele Familien aus der Umgebung. Prediger verkün- den als einziges Heilmi el die Buße und erinnern an die Geißler bei der Pestepidemie in den 1340er Jahren. Neben der Pest toben noch schlimme Unwe er und Naturka tas tro- phen. Aus Nordamerika strömen über Irland Flüchtlinge nach Scho land und ziehen von dort plündernd und brandschatzend nach England. Adrian wirkt als Friedensstifter, der die Menschen be schwichtigt und zwischen ihnen vermi elt. Die Pest, die große Gleich- macherin, trifft alle in der Gesellschaft, die Paläste und Hü en sind verwaist. Die Lage in England ist so hoffnungslos, dass nur noch die Emigration in den Süden bleibt – eine Art Gelobtes Land. Adrian führt wie seinerzeit Moses die rund 2.000 Überlebenden via Dover nach Paris, dann weiter über Dijon in die Schweiz. Aber die Pest fordert auch unter den Migranten ihre Opfer. Schließlich sind nur noch eine Handvoll Flüchtlinge übrig, und auf Wunsch der Tochter von Raymond, die noch einmal das Grab ihrer Eltern in Athen sehen möchte, segeln sie von Venedig Richtung Athen. Und dann ist Lionel der letzte Mensch. Aber er gibt nicht auf: Wie Noah nach der Sin¢ lut macht er sich auf den Weg, doch im Gegensatz zu Noah ist er eben der letzte Mensch, wenn auch auf der Suche nach vielleicht doch noch irgendwo lebenden Mitmen schen. – Das ist vielleicht der versöhnliche Schluss dieses dys- topischen Dramas der Endzeitstimmung, in dem so vieles an das Hier und Jetzt erinnert. Soll man sich so einen Roman antun in diesen unseren Pest-und-Corona-Zeiten? Ich denke schon. Mary Shelley ist eine begnadete Erzählerin und Leser mit ein bisschen Interesse an der literarischen Tradition der Romantik, an verklärten Schilderun gen eines glücklichen Familienlebens, an glorreichen Helden und eindringlichen Naturbeschreibun- gen kommen voll auf ihre Kosten. Und für die Kenner der Literatur jener Zeit, nicht nur der englischen, sind die intertextuellen Be- züge eine ebensolche Freude und bewirken häufig einen Aha-Effekt. Vielleicht führt die Lek türe dazu, mal wieder in die europä ische Literatur der Zeit zu schauen: von den engli- schen Romantikern bis zu Goethe – alle haben sich gekannt und geschätzt, haben Italien und Griechenland als Wiege der Kultur ge- achtet und sich irgendwie gegenseitig beein- flusst. 600 Seiten spannende Literatur sind genau richtig für den nächsten Lockdown. JOACHIM SCHWEND ▶ May Shelley: De letzte Mensch. Aus dem Enlischen von Iina Philippi. Mit einem Nachwot von Rebekka Rohlede und einem Essay von Dietma Dath. Ditzinen: Philipp Reclam jun. €‚. ƒ„… S., ‡ ˆ 50 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK »Er nahm sein Selbst- gespräch wieder auf.« : Don Juan und das Doma de Junfäulichkeit Claude Anets Roman »Aiane – Liebe am Nachmi a« ezählt von Nomen und Rollenbilden D er 1868 (als Jean Schopfer) geborene Claude Anet war 1892 französischer Ten- nismeister, im Folgejahr verlor er leider das Finale. Wir wollen das hier festhalten, weil man es dem Roman, von dem die Rede ist, nicht anmerkt. Dass Anet während der Okto- berrevolution in St. Petersburg war, brauchen wir hier hingegen nicht zu erwähnen, weil der 1920 erschienene Roman, der in Russland spielt, davon zeugt, dass sein Autor weiß, wo(von) er erzählt. Und so hieß das Buch im Original: »Ariane, jeune fille russe«, während Billy Wilders Verfilmung mit Audrey Hepburn und Cary Grant 1957 unter »Love in the After- noon« firmierte. Beides findet sich nun im Titel der Neuübersetzung von Kristian Wachinger »Ariane – Liebe am Nachmi¡ ag« wieder, die auch dank der top ondulierten Audrey Hepburn auf dem zartrosa Leinencover vielleicht ja wirklich ein Erfolg werden könnte. Aber blä¡ ern wir doch mal rein. Die Gymnasiastin Ariane Nikolajewna lebt bei ihrer Tante, die von sich behauptet, »sie habe der Liebe genau den Platz zugewiesen, die sie einnehmen darf. Sie komme nicht höher als bis zur Körpermi¡ e.« Betrogen habe sie nie jemanden, sie »war stets die Frau eines ein- zigen Mannes; nur wechselte sie den oft.« Wie die Tante, so die Nichte. Ariane liegt die (Männer-)Welt zu Füßen, sie genießt und nutzt das – »ich ha¡ e geglaubt, ich könnte mir meine Unabhängigkeit erkaufen, indem ich nichts von mir verschenke und meinen Kör- per verleihe. Der Zweck schien mir alle Mi¡ el zu heiligen …«, erklärt sie an einer Stelle. Und überhaupt: »Wer kann von außen abschätzen, wo Ehre und wo Schande herrscht?« Vor al- lem, da überall mit dem berühmten zweierlei Maß gemessen wird. Don Juan wird für seine »Leistungen« gefeiert, während für eine Frau das Dogma der Jungfräulichkeit gilt. Leider gilt diese Maxime auch in der Liebesgeschichte von Ariane Nikolajewna und Konstantin Michail, der von der »Vergangenheit« seiner Geliebten partout nichts wissen will und erst als sie – aber verraten wir nicht zu viel über die im Nachwort sogenannte »intellektuell-erotische Versuchsanordnung«. BENJAMIN HEINE ▶ Claude Anet: Aiane – Liebe am Nachmi a. Aus dem Fanzösischen von Kistian Wachine. Züich: Dölemann Ž€Ž . Ž‘Ž S., Ž” • »Der glücklichste Mensch ist der, dessen Wünsche sich niemals er f üllen. Ihm bleibt immer etwas zu hof fen.« : Ein austalische Leipzi-Roman – abe nicht nu Heny Handel Richadsons »Mauice Guest« von €‚ ist estaunlich moden M aurice Guest« ist ein Leipzig-Ro- man, gar keine Frage – die Stadt bildet darin die lebendige, scharf beobachtete und zuweilen romantisierte Kulisse der Studienzeit des jungen englischen Pianisten Maurice, der schnell Teil der inter- nationalen Commu- nity aus Musikvirtuo- sen wird. Diese Gemeinde aus Engländern, Australiern und Amerikanern beeindruckte auch Verleger Peter Hinke, und »dass Leute, wie im Falle der Autorin, ihr Geld zusammenkratzten, um ihren Kindern das Studium in Leipzig zu er- möglichen«. Die 1870 in Melbourne geborene Ethel Flo- rence Lindesay Richardson zieht in den 1890er Jahren nach Leipzig, wo sie mit Mu¡ er und Schwester in der Mozartstraße im Musikvier- tel lebt und Klavier am Konservatorium studiert. »Zur Zeit der Handlung war die Stadt noch relativ provinziell«, sagt der Leipziger Verleger Peter Hinke, »auf dem Sprung zur In dustrialisierung.« Direkt hinter dem Musik- viertel mit dem damaligen Gewandhaus und dem Konservatorium beginnt der Wald. Über- all wird gebaut, werden Straßen hochgezogen. Plagwitz und Connewitz sind nicht mehr als dörfliche Vororte, zu denen die Studierenden in kleinen Wanderungen aufbrechen, um sich vom Alltag zu erholen. Richardson veröffentlichte das Buch unter anderem Namen, und es blieb nicht ihr ein- ziges. Mi¡ lerweile zählt man ihre Romane zu den wichtigsten Werken der australischen Literatur. Dass sich dieser über hundert Jahre alte Text so modern liest, hängt auch mit der neuen Übersetzung zusammen. Auf Deutsch erschien er erstmals 1912 im S. Fischer Verlag – die Ausgabe ist heute nur noch schwer zu bekommen. Auch deshalb begann Peter Hinke bereits vor drei Jahrzehnten darüber nachzu- denken, das Buch wieder auf den Markt zu bringen. Dass er sich für den steinigeren Weg entschieden und das Buch nicht nur neu auf- gelegt hat, sondern neu übersetzen ließ, ist ein großes Glück. Seit 2012 arbeiteten der Leipzi- ger Lektor und Übersetzer Fabian Dellemann und Literaturwissenschaftler Stefan Welz an der Übertragung ins Deutsche. Diese neue Version ist näher am Original, weil weniger stark gekürzt. Außerdem sollte das neue Buch »nicht ganz so steif wie die alte Fassung« sein, sagt Dellemann. »Fast alle Personen siezen sich in der Übersetzung von 1912. Wir haben versucht, die Beziehungen im Laufe der Ge- schichte privater zu gestalten, dass innige Freunde auch anfangen, sich zu duzen.« Delle- mann zeigt sich beeindruckt vom »Zusam- menstoß der anglo-sächsischen und sächsi- schen Kultur«, und Hinke ergänzt: »Ich liebe die Eingangsszene. Das Flirren um das Ge- wandhaus, diese jungen Menschen, die Musik. Aber das ist ja nur die eine, lokale Ebene. Es gibt auch noch andere Ebenen, den Gesell- schafts- und Liebesroman, der steckt da auch drin. Wir hoffen, dass das Buch deshalb auch überregional Aufmerksamkeit bekommt.« Das Nachwort von Welz beleuchtet das Leben der Schriftstellerin, die in ihrem Roman nicht nur den fundamentalen Wandel im Musik- verständnis der Zeit verarbeitet, sondern auch ungewöhnliche weibliche Figuren entwirft, die einen Kontrapunkt zum frauenverachten- den Alltag der damaligen Zeit bilden und sich an den herrschenden Normen aufreiben. Wie auch die meisten anderen Bücher der Connewitzer Verlagsbuchhandlung gestaltete der Grafiker André Göhlich die neue Ausgabe in zwei Bänden. »Wir sind jetzt darauf an- gewiesen, dass das Ergebnis die Leute über- zeugt«, so Hinke. Denn im Vorfeld gab es kaum Finanzierung, bis auf einen Zuschuss von der Universität. »Außerdem ist es durch und durch ein Leipziger Projekt. Übersetzer, Korrektorat, Gestalter, Druckerei – alles hat was mit Leipzig zu tun.« Eigentlich hä¡ e er gern das dreißigjährige Verlagsjubiläum gefei- ert, doch die Party musste ausfallen. Damit ist »Maurice Guest« auch ein Geschenk, das sich der Verleger selbst macht – und natürlich seinen Leserinnen und Lesern. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Heny Handel Richadson: Mauice Guest. Aus dem Enlischen von Fabian Dellemann und Stefan Welz. Leipzi: Connewitze Velasbuchhandlun Ž€Ž€. ‚›€ S., œ€ • ANZEIGE n l o r u e e g z n e r 52 h c ä i s s p o Die kulturelle Vielfalt der Donauländer vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer! w w w . d a n u b e - b o o k s . e u www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Toxische Feundscha Ein schonungsloser Roman über die Angst vor dem Verlust »Das Recht zu schweigen war in unserer Freundschaft immer schon wichtiger gewesen als das Recht zu fragen.« S chuldgefühle, schwelende Aggressionen, Überheblichkeit, eine ordentliche Prise Eifersucht und emotionale Abhängigkeit be- inhaltet die Giftmischung der Freundschaft zweier Frauen, die Lana Bastašić in ihrem Ro- mandebüt beschreibt. Die nun vorliegende deutsche Übersetzung zieht die Leser wohl ebenso qualvoll in ihren Bann wie der Origi- naltext, der 2018 in Belgrad erschien. Als »gewaltsames Einfügen von Sinn« be- zeichnet die allwissende Erzählerin in dem Buch die an Bedeutung bewusst überladenen, teilweise bissigen Sequenzen über Sara und Lajla – zwei Mädchen, die sich in der Grund- schule kennenlernen und bis zum Studium beste Freundinnen bleiben, um danach ge- trennte Wege zu gehen. Sie wachsen in Banja Luka auf; als der Friedensvertrag zwischen Bosnien und Herzegowina, Serbien und Kroa- tien unterzeichnet wird, sind sie 15 Jahre alt. Die Ungleichbehandlung und der Gruppen- zwang auf dem Schulhof spiegeln den ethni- schen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien der neunziger Jahre wider. Zwölf Jahre nach ihrem letzten Treffen begegnen die beiden er- wachsenen Frauen einander in ihrer gespalte- nen Heimat wieder, um von dort aus gemein- sam in einem weißen Opel Astra nach Wien zu fahren. Doch einen lockeren, humorigen Roadtrip darf man hier nicht erwarten. So detailreich wie das Fell des Feldhasen von Albrecht Dürer zeichnet Bastašić das Bild dieser komplizierten Beziehung. Sie entwirft Szenen, die sich in schonungsloser Intensität aneinanderreihen und die emotionsgeladene Dynamik zwischen den beiden Charakteren spürbar machen. Der Konflikt von Nähe und Distanz manifestiert sich in der Strategie zweier Erzählstränge, von denen einer in der Gegenwart liegt, wäh- rend der andere Erinnerungsstücke aus der Kindheit beleuchtet. Der Roman wird da- durch auch zu einer Reflexion über das trüge- rische Wesen der Erinnerung und ihre wider- sprüchlichen Auslegungsmöglichkeiten. HANNA SCHNECK ▶ Lana Bastašić: Fan den Hasen. Roman. Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzine. Fankfut/Main: S. Fische €. ‚‚ƒ S., … : Mildes Denken Pola Oloixaracs »Wilde Theorie« bietet lustige lose Fäden I rgendwie erscheint die- ses Debüt für den schienenes zweites Buch »Kryptozän« (2016) bekannt. Auch im Akademikermilieu gibt es Macker, lautet eine These des Debüts. Auch Linksliberale sind schwanzgesteuert. Das ist aber nur eines von vielen Themen, die Oloixa- rac im Buch verpackt. Einiges bleibt schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil dem Le- ser, der noch nie Buenos Aires besuchte, die Ortskenntnis fehlt. Und mit Ortsbeschrei- bung wiederum hat es Oloixarac nicht so. Dafür hat sie ein Gespür für lebendige und skurrile Figuren. Diese lässt sie – gern als Pärchen – durch mäandernde Szenen wan- dern, die sich zu keiner ganzen Geschichte fü- gen. Da ist die kleine Kamtchowsky, die sich mit dem Blogger Pabst zusammentut, um zu philosophieren, Gruppensex mit einem Pär- chen zu haben und schließlich durchs Inter- deutschsprachigen Zeit- geist viel zu spät – oder es kommt einfach nicht richtig an, weil man hier vieles nicht versteht. Aber Spaß macht der Erstling von Pola Oloixarac, weil er so hübsch spielerisch ist. Die Autorin scheut kein Fremdwort, macht sich um Hermeneu- tik keinen Kopf und denkt sich einfach mal lustige Theorien aus. Und als Kritik des Ma- chismo kann man ihr Buch auch verstehen. Letztere jedenfalls war ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit, die es damals mit Erscheinen 2008 in Argentinien erregte. Oloixarac ist für ihr hierzulande zuerst er- : Kein Platz am Stammtisch de Euenike »Die Nase« von Bruno Jasieński schlägt dem Antisemitismus mi en ins Gesicht L äuft eigentlich gut für Dr. O¦ o Kallen- bruck. Sein Fachgebiet, die vergleichende Rassenkunde, ist jetzt Staatsdoktrin. Seine Studie zu Schädeln, Haaren und Nasen der Juden verkauft sich bombig. Doch aus der Partei kommt Kritik an solchen Äußerlichkei- ten. Man redet lieber vom nordischen Geist, von soldatischer Haltung. Und der Führer hat keine Zeit, Kallenbrucks Buch zu lesen! Am schlimmsten aber – der Blick in den Spiegel. Denn plötzlich plagt den Berliner Forscher eine riesige Hakennase. »Schamlos-semi- tisch« erscheint sie ihm. Solch eine Nase defi- niert bekanntlich den Mann. Schon spürt Kallenbruck, wie germanischer Edelmut aus ihm weicht und sein Gesicht einen verschla- genen Ausdruck erhält. Das unerwünschte Rassemerkmal missbilligt auch ein herbeige- eilter Freund: Im Dienst der Volksgesundheit und des Dri¦ en Reiches möge der Doktor da- für sorgen, in der Spree zu ertrinken. Anders als in Gogols Groteske »Die Nase« geht das Zentralorgan keine eigenen Wege. Aber es zerrt seinen Träger in dunkle Ecken der Stadt, wo die Schrecken des Nazitums mal hautnah, mal metaphorisch erlebt wer- den. Bruno Jasieński, ein Kommunist polni- scher Herkunft, baute in seiner »Nase« von 1936 einen originellen Parcours: Kallenbruck muss im »Genealogischen Garten« lernen, dass sein Stammbaum jüdische Äste haben soll; die Kollegen Eugeniker lassen ihn (Ein- tri¦ für Juden verboten) nicht zum professo- ralen Saufen ins Gasthaus, dafür gerät Kal- lenbruck an den Tisch der zwölf Weisen von Zion und wird zum 13. ernannt für Mitarbeit net die Welt zu verändern. Da sind die Noti- zen eines verschollenen niederländischen Anthropologen. Und da ist die Zwischen- durch-Ich-Erzählerin Rosa Ostreech, die die Theorie der Egoistischen Übertragungen vollenden will. Und diese Fragmente gehen wild durcheinander. Das ist enigmatisch, aber unterhaltsam. Weil Pola Oloixarac so scheinbar unbeküm- mert ihre Sprachspiele einwirft und Lust am Schreiben hat, gewinnt das Buch komödian- tische Züge. Und daran kann sich der milde Leser erfreuen. Frei nach Wi¦ genstein: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.« TOBIAS PRÜWER ▶ Pola Oloixaac: Wilde Theoien. Aus dem aentinischen Spanisch von Ma‘ hias Stobel. Belin: Waenbach €. ’ S., … an der Weltherrschaft. Wie zwischen der sa- tirisch-surrealen Fantasie die kalten Realien »volkstreuer« Verrohung aufragen, ist herzer- greifend und pointiert erzählt. Diese siebzig Seiten Jasieński machen Appetit auf mehr. SVEN CREFELD ▶ Buno Jasieński: Die Nase. Aus dem Russischen von Elisabeth Namda. Mit einem Nachwot von Vladimi Vetlib. Wien: Bahoe Books €. šƒ S., €ƒ … D I E N A S E »›Ich hatte eine wunderschöne arische Nase, und sie haben mir dafür diesen Kürbis untergejubelt.‹«‹ BRUNO JASIEŃSKI DIE NASE bahoe books 54 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Inseln mi en in Iland Donal Ryan führt vier Schicksale zum nachdenklichen Höhepunkt in einer irischen Kleinstadt D er Roman ist unterteilt in vier Großkapi- tel, drei davon tragen die Namen der zen- tralen Charaktere, das vierte die Überschrift »Seeinseln«, und damit wird die Symbolik der Geschichte deutlich gemacht: Alle Charaktere tragen schwer an ihren Erinnerungen, sie sind Inseln, allein leiden sie an den Folgen ihrer ganz persönlichen Erfahrungen. Da ist der syrische Arzt Farouk, seine Frau und Tochter ertrinken auf der Flucht, er über- lebt und landet irgendwann in Nenagh mi‡ en in Irland. Dort trifft er auf die anderen Cha- raktere, die alle ihre traumatischen Erfahrun- gen und ihr eigenes Leid mit sich schleppen. John leidet unter dem frühen unerwarteten Tod seines älteren Bruders, wird gequält und entwickelt sich zum Misanthropen, die Liebe zu einer jungen Frau endet unglücklich und zeichnet sein weiteres Leben vor. Lampy, der uneheliche Sohn von Florence, lebt mit seiner Mu‡ er und seinem Großvater zusammen. Er weiß mit seinem Leben nicht so recht was anzufangen, bleibt trotz Abitur in einem Hilfsarbeiterjob und einer unglück- lichen Liebe verhaftet. Verletzte Seelen im Meer des Lebens treffen aufeinander, auf verschiedene Art und Weise finden sie zueinander und vielleicht zeichnet sich für einige doch ein Neuanfang ab. Ryan macht seine Figuren lebendig durch ihre persönliche Sprache, eine Mischung aus innerem Monolog und Deskription, Andeu- tungen und Anspielungen halten die Span- nung aufrecht, so langsam zeigen sich die Zusammenhänge. Das Zeitgeschehen – Fremdenhass, Bigo‡ erie und Fake News – bildet den Hintergrund. Die Leser fragen sich: Wo führt das hin? Wie hängt alles zu- sammen? Vieles bleibt im Unklaren, aber so ist das Leben, das verläuft auch nicht immer geradlinig und letzten Endes sind wir alle In- seln mi‡ en im Meer des Lebens. JOACHIM SCHWEND ▶ Donal Ryan: Die Stille des Meees. Aus dem Enlischen von Anna-Nina Koll. Züich: Dioenes . €‚ S., „. Escheint am .. : Die Leichen im Schuppen Goran Ferčec sucht das Trauma der Grenzgebiete H eute sei Mama verschwunden oder viel- leicht gestern, er wisse es nicht – als Echo eines anderen »Fremden« (dem von Ca- mus) könnte der Bericht auch beginnen. Al- lerdings muss, bevor man familiär wird, die Umgebung auf jede Gefahr hin gescannt wer- den. Das ist die Obsession von Bender: 39 Jahre, Migrant, allein lebend, arbeitslos. Er weiß, dass hinter seinem Rücken seltsame Dinge passieren, heißt es. Wer klingelt da? Wann erfolgt der Angriff? Woher stammt dieser Schmerz? In seinem Kopf, in seinen Träumen und Ängsten ist immer noch Krieg. Vor 15 Jahren ist Bender in ein anderes Land geflohen, aber die Gewalt findet sein Versteck. Kaum wagt er sich, vom Begehren getrieben, in den nächtlichen Stadtpark, wird er wortlos verprügelt. Der Kamerablick eines passiv trudelnden Mannes, der eine chaotische Welt durch ihre Beschreibung sortieren und befrieden will, ist in formbewusster Manier durchgehalten. Keine Dialoge, keine Erklärungen. Doch der kroatische Autor Goran Ferčec streut diskret die Hinweise auf Benders katastrophische Verfassung – mit Gedankenspli‡ ern, verstö- renden Leitmotiven und Spiegelungen aller Art. Einmal wird die Diagnose beim Namen genannt, nur will Bender die »Pos‡ raumati- sche Belastungsstörung« nicht auf dem Au- ßenseiterkonto haben. War er Soldat, hat er getötet? Was seine Familie erlebte, wird erst spät verraten. Nach einem Anruf seines Vaters reist Ben- der in ein nicht situiertes »Grenzgebiet«. Die Begrüßung findet als Ringkampf sta‡ , Bender besiegt den Alten. Das Dorf ist von allen Menschen verlassen; auch die Mu‡ er ist nun gegangen, sie habe nichts zum Abschied ge- sagt, behauptet der Vater. Als die Spannung und das Beschweigen kaum auszuhalten sind, kommt die Wahrheit in einem heftigen Mono- log ans Licht. Der Vater erzählt, wie im Krieg von 1995 die Serben des Dorfes von der kroati- »Jede Bewegung droht eine Niederlage nach sich zu ziehen.« schen Armee vertrieben wurden – ihre ge- raubten Wertsachen stehen in seinem Schup- pen. In einer großartigen Szene versuchen Vater und Sohn, die ehemaligen Nachbarn mit einem imaginären Hausbau zu würdigen. Ein unvergessliches Finale, ein beeindru- ckender Roman. SVEN CREFELD ▶ Goan Fečec: Wunde wid es hie keine eben. Aus dem Koatischen von Mascha Dabić. Salzbu und Wien: Residenz . ŽŽ S., „ ANZEIGE Tippgemeinschaft www.dll-tippgemeinschaft.de instagram: tippgemeinschaft ↪ 2021 16€ Jahresanthologie der Studierenden des Deutschen Literaturinstituts Leipzig 56 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Gatwanden Von Wahrheit und Wildsein: Claudia Durastantis Autofi ktion »Die Fremde« C laudia Durastanti hält alle Optionen of- fen. »Die Fremde« beginnt mit zwei Versi- onen des Kennenlernens ihrer Eltern. Laut den Erzählungen ihrer Muž er lernten ihre Eltern sich »an dem Tag kennen, als er ver- suchte, sich in Trastevere vom Ponte Sisto zu stürzen«. Ihr Vater berichtet anderes: Seinen Geschich ten nach trafen die beiden aufeinan- der, »als er sie vor einem Überfall vor dem Bahnhof Trastevere rež ete«. Welche Version stimmt, bleibt ungeklärt – wie so einiges in dem auto fiktionalen Roman. Hat ihr Vater sie wirklich en— ührt, um ihre Muž er zu erpressen? Tauchte ihre Muž er tatsächlich öfter mal für ein paar Tage unter und überließ die Kinder sich selbst? – Die Grenzen zwischen Biografie und Fiktion ver- schwimmen. Dabei hat Claudia Durastantis Leben schon viel Romanhaftes: Geboren als Tochter gehörloser, italienischer Eltern in Brooklyn, zog sie als junges Mädchen mit ihrem Bruder und ihrer Muž er in deren Hei- mat dorf nach Süditalien. Der Vater ist häufig abwesend und gewalt- tätig, die Muž er rebellisch – die Kommuni- kation in der dysfunktionalen Familie gelingt nicht oder nur schwer. Die gehörlosen Eltern sprechen vor allem laut sowie mit einer be- grenzten, oft fehlerhaften Auswahl an Wör- tern. Durastanti lernt nie die Gebärden- sprache und schwänzt als Kind die Schule, um zu lesen. Mit Büchern bringt sie sich die Feinheiten und Vielfalt der Sprache bei. Und während sie studiert und anspruchsvoll- poetische Bücher schreibt, sind Ironie und Metaphern den Eltern fremd. Durastanti beschreibt eine Gratwanderung zwischen verschiedenen Welten, der Titel des Buches ist Programm. Sie analysiert die unterschiedlichsten Nuancen des Gefühls, »fremd« zu sein – fremd im Dorf als Tochter gehörloser Eltern, fremd in der eigenen Fa- milie, fremd als junge Erwachsene. Und dar- über, warum die Selbstbezeichnung als »Fremde« auch ermächtigend sein kann. NELE REBMANN ▶Claudia Duastanti: Die Femde. Aus dem Italienischen von Annež e Kopetzki. Wien: Paul Zsolnay . „ S., „ ‰ »Dich selbst aufzuschreiben, heißt, dich zu erinnern, dass du im Zorn geboren wurdest und ein dichter, andauernder Lavastrom warst, bevor deine Kruste verhärtete und sich spaltete, um eine Art Liebe au lühen zu lassen, oder dass die nutzlose Kra des Vergebens dafür sorgte, dich zu glä€ en und all deine Untiefen zu ebnen.« »Wer lange denkt, kommt nicht vom Fleck.« : Eine beweende Reise volle Hoff nun Tove Ditlevsen seziert und poetisiert ihr eigenes Leben in der »Kopenhagen-Trilogie« : Auf dem Schli en des Lebens Mit Anna Nerkagis »Weiße Rentier- fl echte« erscheint erstmals eine nenzische Autorin auf Deutsch D er hohe russische Norden mit seinem Per- mafrostboden ist die Heimat der letzten Rentiernomaden, der Nenzen. Sie und ihr Le- bensraum sind aufgrund der verheerenden Einwirkungen des Klimawandels seit einigen Jahren in den Blick der restlichen Welt ge- rückt. Die Zeit läuft für die Nenzen. Deren traditioneller Lebensweise setzt Anna Nerkagi in ihrer Novelle »Weiße Rentierflechte« ein Denkmal. Doch nicht die akute äußere Bedrohung steht im Miž elpunkt der Geschichte, der Konflikt liegt im Inneren der Gemeinschaft. Ein wenig fühlt sich die Rezensentin an Tschingis Ait- matov erinnert – nur geht es bei Nerkagi eben nicht um die Überwindung des Alten und Rückständigen, sondern um den Erhalt, das Überleben des Traditionellen. Vergessen wir den Feminismus, die Emanzi- pation und das Ideal eines selbstbestimmten Lebens: Ein traditionelles Leben im Einklang mit der Natur bedeutet zwangsläufig auch sehr traditionelle Rollenverteilung. Der Mann, Ernährer und Entscheider, die Frau, die Herr- scherin über den Tschum (die Spitzjurte der Nenzen), hat zu gehorchen. Und die Liebe? »… ach Liebe … pfui! Für das Leben braucht man keine Liebe. Wichtig ist nur, dass man kein Hund ist.« Doch der junge Aljoschka sperrt sich dagegen. Mit ihm tauchen wir in die Schicksale einer kleinen Nomadengruppe ein, in die alten Geschichten und die Tradi- tion. Und nach und nach offenbart sich nicht der Zauber, sondern die Notwendigkeit dieses kargen Lebens inmiž en von Rentieren und Schnee, wo nur selten und kurz gesprochen wird, viel Tee getrunken, manchmal Wodka und zwischendurch Tabak geschnupft. Die gelungene Übersetzung führt die Leserin schon mit den ersten Sätzen in die nenzische Welt hinein. Sebastião Salgados überwälti- gende Schwarz-Weiß-Bilder sowie das kleine ABC der Nenzen runden diese kleine Zeitreise in eine verschwindende Welt ab – deren Reiz etwas mehr im Ethnologischen als im Litera- rischen liegt. MARTINA LISA ▶Anna Nekai: Weiße Rentiefl echte. Aus dem Russischen von Rolf Junhanns. Mit Fotos von Sebastião Salado. Leipzi: Fabe & Fabe . ™ S., ‰ D ie Wirklichkeit hat mich noch nie interes- siert, und ich dichte nie über sie.« So selbstbewusst verkündet Tove Ditlevsen als Mädchen ihre schriftstellerischen Ambitio- nen. Sie liebt Worte und Gedichte, schreibt heim lich selbst welche. Ihre Familie weiß nichts davon. Im Schweden der 1920er Jahre hat die Kunst in der Arbeiterklasse nichts verloren. Die kleine Tove wird erwachsen und schließ lich doch Schriftstellerin. Und was passiert? Sie schreibt Gedichte und auto- biografische Romane. Drei dieser Romane sind in diesem Jahr als mehrbändiges auto- fiktionales Werk unter dem Titel »Kopenha- gen-Trilogie« neu übersetzt worden. Wir folgen dem Mädchen Tove also in seine kleine Wohnung, in der es das Schlafzimmer mit Eltern und Bruder teilt. Nah sind sie sich nur räumlich, es gibt keine Privatsphäre und keine echte Nähe. Welchen Stellenwert Toves Schreibversuche haben, zeigt sich, als der Bruder ihr Poesie- album findet. Er gesteht später, »die Gedichte würden ihm eigentlich gefallen, wenn sie bloß von jemand anderem geschrieben worden wären (…). Sobald man wisse, dass alles er- stunken und erlogen sei, könne man nicht anders, als sich darüber totzulachen.« Schil- derungen wie diese, die emotional distanziert scheinen, transportieren durch ihre Unaufge- regtheit die große En— remdung des Mädchens umso stärker. Ein Kind wird erwachsen, ver- liert den Bezug zu seinem Umfeld und schließlich auch immer mehr zu sich selbst. Es ist dieser sezierende Blick, der auch die Prosa von anderen autofiktional arbeitenden Schriftstellerinnen wie Annie Ernaux so be- stechend macht – beim Betrachten des eigenen Lebens gnadenlos scharf stellen. Ditlevsens Sätze aber sind trotz dessen auch von großer Schönheit: eine bewegende Reise voller Hoff- nung, die »als flüchtiger Schimmer im glat- ten, schwarzen Haar« der Muž er sitzt und biž er endet. »Ich war von meiner jahrelangen Abhängigkeit geheilt, aber noch heute erwacht die alte Sehnsucht ganz leise (…) Sie stirbt nie ganz, solange ich lebe.« Im März 1976 nahm sich Tove Ditlevsen mit einer Über dosis Schlaf tablež en das Leben. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶Tove Ditlevsen: Kindheit. Juend. Abhänikeit. Aus dem Dänischen von Usel Allenstein. Belin: Au au . Bände à €, ƒ„ u. …† S., je € ‰ »Die Wirklichkeit hat mich noch nie interessiert, und ich dichte nie über sie.« 58 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK I E G E Z N A : Immeüne Spache John Clares Gedichte aus dem . Jahrhundert im zweisprachigen Prachtband V on Kritikern muss sich das Na- ture Writing immer wieder WelŸ lucht vorwerfen lassen, dabei entstand ebenjenes Schreiben über entstand ebenjenes Schreiben über Natur aus der als existenzielle Be- drohung empfundenen Verände- rung der Umwelt durch den Men- schen. Dass dieses Schreiben die Zerstörung der Natur anklagt, hat aber durchaus immer wieder reale Veränderungen herbeigeführt. So hat John Muir Yosemite mit sei- nem gleichnamigen Text von 1912 ins Bewusst- sein der Menschen gerückt, den Schutz der Landschaft begründet und ebenjener in seinen Büchern ein Denkmal gesetzt. Dass Nature Writing auch noch eine weitere politische Kom- ponente trans portieren kann, zeigt der hierzu- lande kaum bekannte Lyriker John Clare (1793– 1864). Dessen Naturlyrik in diesem Frühjahr in einem zweisprachigen Prachtband erscheint. Zur Einordnung: Clare ist Zeitgenosse der »big six« der englischen Romantik: Keats, Wordsworth, Coleridge, Byron, Shelley und Blake. Seine Eltern sind arm, können kaum lesen. Sie leiden unter einer Bodenreform, die vielen Menschen den Zutriš zu Feldern, Wie- sen, Mooren und Wäldern untersagt, was sie ihrer Lebensgrundlage beraubt. Clare gelingt es, in seinem, sagen wir mal: »bildungsfer- nen« Umfeld, Zugang zur Literatur zu finden. Mit »dem Betrachten der Schönheiten der Künstlerin Natur (…) verfiel ich in ein beschrei- bendes Reimen«. Doch das Leben zwischen den sein Schreiben kritisch beäugenden Dörf- lern und den kultivierten Londonern, in deren Miš e er schließlich literarische Berühmtheit erlangt, reibt ihn auf. »Hierin, ebenso wie in der Überforderung durch seine zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten (…) liegt wohl auch eine der Wurzeln jener Identitätsstörun- gen, die ihn (sic!) die Einweisung in die Ner- venheilanstalten einbrachten«, so Manfred Pfister im Vorwort. Clare findet immer wieder dort Trost, wo seine literarischen Ambitionen ihren Anfang nahmen: in den Landschaften um sein Heimatdorf Helpston. Sein Bewusst- sein für die Bedrohung der Natur und die damit einhergehende Ungerechtigkeit gegenüber der Landbevölkerung machen ihn »zum größten ökologischen Dichter Englands«. Die Schön- heit seiner eigenwilligen Sprache, die unge- wöhnliche Landschaft und die politischen Dimensionen, die Clares Leben beeinflussten, machen seine Texte so lesenswert: »Yet every- thing about where I had gone / Appeared so beautiful, I ventured on; / And when I gained the road where all are free / I fancied every stranger frowned at me, / And every kinder look appeared to say, / ›You’ve been on trespass in your walk to-day.‹« »A language that is ever green« bietet einen profunden Einstieg in Clares Schaffen und er- gänzt seine 2013 bei Maš hes & Seitz erschie- nene »Reise aus Essex«. Eine wild wachsende immergrüne Sprache, die es zu entdecken lohnt. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ John Clae: A lanuae that is eve een. Aus dem Enlischen von Manfed Pfi ste. Belin: Das kultuelle Gedächtnis ‚. ” S., „ … : Gedichte auf dem Bu ebotpapie Hannes Fuhrmanns Lyrik-Debüt: Spielen, Schwärmen, Stille Post W as gibt es eigentlich noch Neues über die Welt zu sagen, oder gar niederzuschrei- ben? Es ist diese Frage, die Schrift steller zum Verzweifeln bringen muss, denn die Ant- wort kann nur lauten: Nichts! Oder unendlich viel! Doch »Nie bin ich intrinsisch!« wer das ganz selbst bewusst zu- gibt, hat bereits neue Wege eingeschlagen und kann durchaus auf Origina lität hoffen. In sei- nem Lyrik-Debüt macht Hannes Fuhrmann, Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, nichts anderes als diesen Prozess transparent. Er legt das Pauspapier an und beugt sich über sein Material, wir dürfen über die Schulter schauen. Jan Kuhlbrodt erklärt in den sechs Bemerkungen, die die sechs Kapitel ergänzen: »In jedem Gedicht sind Gedichte als Baustoff vorhanden.« Hier steht die Machart im Vordergrund, die Transformation. Hier wer- den Echos erzeugt, wird Stille Post gespielt, werden Textbausteine »verfugt«. Wie das klingt? Vor allem ganz unterschied- lich. Auch wenn es nicht leicht ist, Fuhrmanns Verfahren zu entschlüsseln. Manchmal reicht es, das Ergebnis zu genießen. Das kann durch- aus so klingen: »uns am Flüsschen Zeugnis wem buk? So nahm Herzfleisch / Vernunft. ›Helfe dem Einzell akkumulieren!‹« Manche Texte glei- chen kleinen Rätseln, die auferlegte »Keš e« (Kuhlbrodt) wird spürbar. Die Selbstbeschrän- kung ist im Gedicht nichts Neues (Stichwort Dada), ihr Ergebnis dennoch immer wieder er- staunlich. Wem das zu theoretisch klingt, der darf sich nicht abschrecken lassen. Technik ≠ Gefühllosigkeit. Das beweisen Zeilen wie »Knäuelst ab kosmisches Graphit und strickst es zu einem kleinen Firmament. Lauter / ab- seitige Worte, wie sandigen / Wegerich gesam- melt. Es gibt einen alten Spruch: weniger Mond, weniger / Budenzauber«. Bleibt also nur noch: lesen, rätseln, verzaubern lassen! LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Hannes Fuhmann: Wundeschöne Be. Abschi en. Reihe Neue Lyik, Band . Leipzi: Poetenladen ‚. ‚‚ S., ‚„,„ … Löwenparallelität mit Meerschweinchen Der Leipziger Dichter Carl-Christian Elze, Jahrgang 1974, hat r das Leipziger Stadtma- gazin kreuzer eine Serie von autobiografischen Prosaminiaturen verfasst. Sie kreisen um den Leipziger Zoo und um seinen Vater, den langjährigen Che„ierarzt ebendort. Hier bestellen: kreuzerbooks.de/ bestellung 60 60 www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK I E G E Z N A : Zwischen Wasse und Stein Geologie, Geschichte, Kultur: Jan Röhnert wandert durch verkarstete Landscha en Geo logie (»Wasserwegsamkeit«), durchzogen vom »autobiografischen Fundament der Neugier«. Es ist dieses wunderbare Vokabular und Röhnerts wacher Blick, die diese Erkundungen so lesenswert machen. In sei- nen Streifzügen en— altet sich neben den vielfältigen Erscheinungsformen des Karsts gleichermaßen eine Erd- und Kulturge- schichte, dem Gestein eingeschrieben und vom Autor wieder herausgelesen: »Land- schaft kennt keinen einzelnen, privilegierten Standpunkt, sondern eine Vielzahl von Zugängen – eine Tatsache, die gleichermaßen auf die Aneignung von Landschaft im Gehen wie im Lesen zutrifft.« So spart Röhnert auch den Blick auf die jüngeren Ereignisse nicht aus, Stichworte wie Uranbergbau, Zweiter Weltkrieg, Raubriˆ er sind nur Bei- spiele dessen, was der Autor so zusammen- fasst: »Auf unheimliche Weise stoßen im Karst Erd- und Zeitgeschichte unmiˆ elbar aufeinander, und es mag dieses Oszillieren zwischen Erhabenem und Entsetzlichem sein, das zur Signatur der Landschaft gehört.« Die Karste der Küsten, Miˆ el- deutschlands, des Zentralmassivs – Röhnert lädt ein auf eine Reise über und unter der Erde, die gerade in Zeiten eingeschränkter Mobilität einen großen Zauber en— altet. Übrigens: 2021 ist das Internationale Jahr von Höhlen und Karst. Es bleibt nur, diesem Buch viele Leser zu wünschen. Und dem Karst viele Wanderer. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Jan Röhnet: Vom Gehen im Kast. Belin: Ma hes & Seitz . S., »Vielleicht ist Karst nichts anderes als das Wasserzeichen, welches die Geschichte im Gestein hinterlassen hat.« W er schon mal mit der Bahn von Leipzig nach Saalfeld gefahren ist, kennt die Landschaft, von der Jan Röhnert, Leipziger Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Schriftsteller, im 73. Band der Reihe » Naturkunden« erzählt. Eine Landschaft, deren Namen aus dem Serbokroatischen kommt und nichts anderes bedeutet als »steiniger Boden«. Eine Landschaft, die Röhnert schon auf der ersten Seite seines Textes vor dem inneren Auge seiner Leserinnen zu erschaffen weiß: »uneben geschmirgelte Säulen und Flächen, mit vor- stehenden schrundigen Nasen und Stirnfal- ten, ausgewiˆ erten, windgeschliffenen Hohlräumen, Einbuchtungen, Kehlen, Schlunden, Löchern, Rillen«, »diese porösen, vielen als reiz- und gestaltlos geltenden Landstriche, die auch landwirtschaftlich kaum Erträge abwerfen« – Röhnert erzählt vom Karst. Warum diese Landschaft, »in der das Feste flüssig, das Flüssige fest wird«, so faszinierend für ihn ist? Es ist die »her- ausfordernd bizarre, zwischen Schauder und Schönheit changierende Formenspra- che«, eine Beschreibung, die auch auf Röh- nerts Buch zutrifft. In diesem erwandert der gebürtige Thüringer Karste in allen vier Himmelsrichtungen, nach denen »Vom Gehen im Karst« auch gegliedert ist, und bedient sich staunend der Sprache der | BÜCHER Der beliebteste moderne Klassiker Griechenlands − erstmals auf Deutsch Jetzt in Ihrer Buchhandlung! Eine sinnliche und zugleich realistische Erkundung des Frauseins sowie ein Lesever- gnügen für alle, die sich in den griechischen Sommer träumen wollen »Margarita Liberaki weiß, wie man die Sonne in die Literatur zurückbringt.« Albert Camus Hier geht´s zur Leseprobe Margarita Liberaki Drei Sommer € 24,- (D) 978-3-7160-2798-1 62 62 www.keuze-leipzi.de

| SACHBUCH : Sex, Tod, Pilze Helen Macdonalds Essays zur »glitzernden Welt des nicht- menschlichen Lebens« : Das Tieedicht als Fehdehandschuh Ein Mensch, de Mikael Voel heißt, scheibt einen Essay namens »Ein Tie scheibt als Mensch ein Gedicht übe ein Tie« W er Helen Macdonalds Buch über Habichte und Falken mochte, könnte bei »Abend- flüge« mit seinem schwalbenverzierten Ein- band auf eine Geschichte ebenjener Schwalben hoffen. Doch die Schwalbe steckt nur in ei- nem Kapitel. Staƒ dessen versammelt die Au- torin in ihrem neuen Buch eine ganze Ladung Essays. »Ich hoffe, dieses Buch funktioniert ein wenig wie eine Wunderkammer. Es steckt voller seltsamer Dinge und beschäftigt sich mit der Eigenschaft des Staunens.« Und Kapi- tel mit Titeln wie »Sex, Tod, Pilze« und »Gar nicht wie ein Schwein« machen durchaus neugierig. Gleich im ersten Kapitel enŽ alten die Gedan- ken Macdonalds wieder ihren typischen Sog: Wenn sie davon erzählt, dass Vogelnester ihr Verständnis von Heimat und Zuhause geprägt und gewandelt haben. Wenn sie begreift, dass das seltsame Gefühl, dass sie bei der Arbeit in einer Falkenzuchtstation in Wales über- kommt, in der Eier in Brutkästen ausgebrütet werden, ein Echo der Einsamkeit ist, die sie als Säugling empfunden haben musste: »Ich lag in einem Brutkasten, denn ich war viel zu früh auf die Welt gekommen. Mein Zwillings- bruder haƒ e die Geburt nicht überlebt. Und dieser frühe Verlust, gefolgt von Wochen grel- len Lichts, die ich allein auf einer Decke in einem Plexiglaskasten lag, haƒ e mir etwas an- getan, das seinen Widerhall in einem Raum voller feucht gehaltener und von einem Draht- gestell bewegter Eier in Gebläsekästen fand.« Neben den persönlichen Geschichten und Gedanken steckt Wissen in den Essays, das man vielleicht auf den ersten Blick als unnütz abtun will, dann aber doch bemerkt, wie »Wie sich eine Fledermaus in seiner Motorrad-Lederkombi verfangen ha e, als er mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen war …« wichtig es ist: zu begreifen, wie eng alles Leben auf dieser Erde verbunden ist, wenn man liest, dass Milane »ihre Nistplaƒ formen in den Bäumen mit Unterwäsche« schmücken, »die sie von Wäscheleinen stibitzt haben«. Macdonald stellt Fragen, die berühren. Fragen danach, wer Zugang zu Ressourcen hat, wer sich gezwungen sieht, Nester auszuplündern – von anderen verteufelt, während die ge- samte Gesellschaft Raubbau am Planeten be- treibt. Auch Fragen nach Grenzen, nach der »Geschichte unserer Angst, dass wilde Tiere in unser Revier endringen«, nach jeder Mauer spoƒ enden Vogelzügen und Migration. Denn «wenn man von einem Bewusstsein betrachtet wird, das nicht menschlich ist, wird man un- weigerlich dazu gezwungen, die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu überdenken«. Ein lohnendes Gedankenspiel, verpackt in wunder- bare Geschichten mit dem Plädoyer: Vielfalt schätzen und schützen lernen. Weil der Planet, auf dem wir leben, »nicht uns allein gehört«. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Helen Macdonald: Abendfl üe. Aus dem Enlischen von Ulike Ketschme. München: Hanse „…„†. ‡ˆ„ S., „Š ‹. Escheint am .. ANZEIGE Essay & Illustration Felix Bork (Text & Illustrationen) Aus den Ärschen aus dem Sinn Eine Odyssee durch Körper, Klo, Kanalisation, Kläranlage und Wolken Ein zirkulierendes Heft 36 Seiten · 3 Sonderfarben mit Lesezeichen & Plakat Die neue Reihe bei Maro 3 # t f e H o r a M 64 M ikael Vogel schreibt eigentlich Gedichte über Tiere. Für Tiere. Warum er das macht, erklärt er in »Tier. Ein Tier schreibt als Mensch ein Gedicht über ein Tier«. Wer schon bei der Debaƒ e um gendersensible Sprache die Nase rümpft, wird Vogel nur zögerlich fol- gen, doch für seinen Aufruf zu literarischer Solidarität und Empathie lohnt es sich allemal. Der Essay nimmt sich Zeit, fängt da an, wo das Leben für manch religiösen Menschen zu enden scheint: in Dantes Hölle. Die, so Vogel, sei längst für einige Realität. Für die Tiere nämlich, die unseren Planeten bewohnen. Der Dichter legt Zahlen und Fakten vor, die nie- manden kaltlassen und resümiert: »Statistisch repräsentiert das Tier bereits jetzt mehr Ver- schwinden als Präsenz.« Und was all das mit dem Tiergedicht zu tun hat? Ein Teil des Übels liegt laut Vogel in der »egozentrischen Sprachmanipulation«, und gerade die Sprache der Literatur ist es ja, die da eine Vorreiter- rolle einnehmen kann, in diesem Fall sogar muss: Das Gedicht steht »im Zugzwang, systematische Konsequenzen aus seiner Zeit und Kultur zu ziehen«. Und deshalb ist des Tierdichters Aufgabe, »ein den Tieren gerecht werdendes Tiergedicht« zu schreiben. Was damals der Schamane in seiner »Mediator- funktion« tat – zwischen den Sprachen über- zusetzen und zu übersetzen –, obliegt heute denen, die Lyrik schreiben. Hier nun endet der Essay mit der Schlussfolgerung, dass auch die Selbsterfahrung des Menschen erst durch die Augen der Tiere wirklich artikuliert wer- den könne. Tja, fragt man sich: Wie schreibe ich denn nun ein dem Tier gerecht werdendes Gedicht, in dem ich gleichzeitig mich selbst erkenne? Vielleicht findet sich Antwort in Peter Bierl (Text) & Katharina Kulenkampff (Illustrationen) Die Legende von den Strippenziehern Verschwörungsdenken im Zeitalter des Wassermanns M a r o H e f t # 4 Ein ideologiekritisches Heft 36 Seiten · 2 Sonderfarben mit beiliegendem Plakat maroverlag.de www.keuze-leipzi.de

| SACHBUCH : »Genzwüsten, Spielplätze und Mölichkeitsäume« Doothee Kimmich untesucht liteaische Niemandslände E ine Brachfläche zwischen zwei Häusern, ein verfallenes Bergwerk, ein Deich: Was haben diese Orte gemein? Wem gehören sie? Dass diese Fragen durchaus spannende Ant- worten bereithalten, beweist Dorothee Kim- mich, Professorin für literaturwissenschaftli- che Kulturwissenschaft und Kulturtheorie, die sich auf die Spuren eines zeitlosen Themas ge- macht hat: Niemandsländer und ihre Grenzen, die bestimmen, wer fremd, wer zugehörig ist. Aber was macht so ein Niemandsland über- haupt aus? Im Vorwort spannt die Autorin den entscheidenden Bogen: Niemandsländer, das sind »Gebiete der Erde, die niemandem gehö- ren oder niemandem zu gehören scheinen, weil niemand (…) Anspruch auf sie erhebt oder im Gegenteil, weil sie umkämpft sind und zwi- schen zwei feindlichen, oft unpassierbaren Grenzen liegen«. Auf eine kurze Theorie der Niemandsländer folgt dann die lange Lektüre- liste, die das Theoretische durchaus zu bebil- dern weiß. Auch wenn »Kafkas Grenzwüsten« und »Kellers Äcker« keine »Illustrationen von philosophischen, theologischen oder juristi- schen Theorien« sein sollen, sondern deren Analyse vielmehr die Komplexität der Nie- mandsländer zeigt, ohne die der Wissenschaft innewohnende Kategorisierung und Vereinfa- chung zu übernehmen. »Niemandsländer, also Landstriche und Gegenden, die niemandem gehören, sind heute so selten geworden, dass man sie unter Artenschutz stellen müsste.« Die Literatur zeigt, was mit jenen passiert, die in diese Orte eindringen: »Die Bewohner der Niemandsländer sind – oder werden – in vieler Hinsicht selbst eben Niemande, was sich wie- derum als außerordentlich gefährlich oder auch als ebenso beglückend erweisen kann.« Von 1800 bis heute, von Wielands Elysium bis zum scheinbar idyllischen Strand Alex Garlands – die Liste literarischer Niemands- länder ist lang und Kimmich eine kompetente Reiseleiterin. Aber Vorsicht: Der Weltenbum- mel stellt die eigene Identität so manches Mal auf die Probe. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Doothee Kimmich: Leees Land. Niemandslände in de Liteatu. Gö inen: Konstanz Univesity Pess . S., ‚ ƒ : Scheiten als Chance »Genaugenommen sind Niemandsländer Freiräume im Sinne von Spielplätzen, die nicht nur Kinder einladen (…).« In »Das andee Ameika« ezählt Fank Schäfe anekdotenha’ e Autoenpotäts M it diesem Buch wollte der Innsbrucker Limbus-Verlag ein Zeichen gegen jenes Amerikabild setzen, das die letzten vier Jahre die Medien beherrschte. Frank Schäfer hinge- gen schrieb sich in »Das andere Amerika» nur die eigenen L.A.-Reiseeindrücke schön und will eine USA fern der dort vorgefundenen Konsumbilder und Ghe¢ oklischees zeigen. Nun ist L.A. sehr speziell und nicht gleich Amerika und dieses erst recht nicht – wie der Autor eingangs zugibt – Schäfers »Sehn- suchtsland«. Dieses sucht der in Braunschweig lebende Schriftsteller lieber in der heimischen Bibliothek und kommt dabei über seine Vorbil- der aus Übersee ins Schwadronieren. Eines ist dabei von Seite eins an klar: Für Schäfer müs- sen es allesamt Typen sein, schlaue Köpfe, die irgendwie an ihren Lebensgewohnheiten schei- terten. Bestenfalls haben sie dabei noch im Wesentlichen die Strategien des Journalismus verändert und schreiben sowieso ganz nah dran am echten Leben. Damit ist auch geklärt, was Schäfer unter »der besseren US-Literatur« versteht: Die Werke von Schriftsteller*innen, die, ganz so wie der Autor selbst, eher essayis- tisch arbeiten, in der Presse zu Hause sind und ihren Ruhm nebenher mit gelegentlicher Prosa verdienen. Von John Fante über Hunter S. Thompson bis Chuck Klosterman feiert Schä- fer vorwiegend die Arbeit weißer Männer des letzten Jahrhunderts. Immerhin finden bei den 30 Einträgen auch neun (weiße) Frauen ei- nen Platz, die jüngsten vier Autorinnen von ih- nen – Baby-Boomer und GenXer – allerdings nur in einem knappen Sammelkapitel. So et- was geht wirklich nur noch in der verlagseige- nen Preziosen-Nische. Wo heute Repräsenta- tion alles ist, scheitert dieses »andere Amerika« an einer dem Kulturmonismus ver- schriebenen Sehnsucht. MARCEL HARTWIG ▶ Fank Schäfe: Das andee Ameika. Innsbuck: Limbus . Š‹ S., Œ ƒ Über die Gegenwartsliteratur von Frauen: »Ihre Texte besitzen eine Wirklichkeitswucht, die immer wieder vergessen macht, dass es sich hier ›bloß‹ um Literatur handelt.« ANZEIGE Ein Bildband über eine Stadt in Erstarrung. Drei Fotografen erleben eine geradezu unheim- liche Stille. 66 ISBN 978-3-95415-110-3 Im Buchhandel oder unter www.passageverlag.de www.keuze-leipzi.de

Wer bestimmt die Grenzen | SACHBUCH Europas und was entscheidet über menschliches Glück? Anselm Oelze hinterfragt I E G E Z N A : Auße Atem »Meiner Erfahrung nach neigen Menschen dazu, mehr zu reden, als zu denken, und felsenfeste Ansichten zu vertreten, ohne sie zu hinterfragen.« die Selbstverständlichkeiten Ein Leben an den Hebeln de Macht unseres eigenen Lebens. Anselm Oelze Die Grenzen des Glücks Eine Reise an den Rand Europas 112 Seiten. Klappenbroschur Format 20 x 12 cm € 15,00 | € [A] 15,50 ISBN 978-3-89561-133-9 Auch als E-Book erhältlich Im September 2020 brennt auf der griechischen Insel Lesbos Moria nieder, das größte Flüchtlingslager Europas. Wenige Wochen nach dem Brand fl iegt der Schriftsteller Anselm Oelze nach Lesbos, um sich ein Bild von der Lage zu machen. »Aus den Erlebnissen Oelzes ist ein beeindruckendes Buch entstanden, das zugleich eine literarische Reportage und ein erhellender Essay ist.« Tino Dallmann, MDR Kultur Schöffling & Co. 68 M adeleine Albright, US-Außenministerin unter Präsident Bill Clinton von 1997 bis 2001, musste zweimal ihr Geburtsland, das heutige Tschechien, verlassen: 1939 wegen der Nazis, 1948 wegen der Kommunisten. In den USA fand sie eine neue Heimat und engagierte sich schon früh für die Demokrati- sche Partei. In »Die Hölle und andere Reiseziele« schil- dert sie nun ihr Leben, nicht chronologisch, sondern thematisch, um Entwicklungen auf- zuzeigen. Der Index ist ein Who’s Who der Weltpolitik. Dabei verteidigt Albright immer klar demokratische Prinzipien und kritisiert die Bedrohungen der Demokratie in den USA und der Welt. Das Kapitel »Eine Warnung« ist ein engagierter Weckruf gegen antidemo- kratische und autokratische Regierungen und Persönlichkeiten; Trump, dessen Namen sie nicht ausspricht, spielt eine herausra- gende und unrühmliche Rolle. Er repräsentiert ihrer Meinung nach nicht das Amerika, das sie mal willkommen geheißen hat. Im Kapitel »Starke Frauen, starke Zukunft« berichtet sie über eigene Erfahrungen als geschiedene Muž er von drei kleinen Kindern, die sich eine Karriere auf baut und es bis zur ersten Außenministerin des Landes bringt: »Madam Secre- tary«. Dabei tau- chen auch andere Frauen auf, zum Beispiel Hillary Clinton, die ihr als Außen- ministerin unter Präsident Obama folgte. Als Zeitzeugin liefert Albright ihren Lesern wertvolle Hintergrundinformationen und häufig auch eine neue Perspektive auf das Weltgeschehen. Im lockeren Schreibstil, mit Selbstkritik und der Fähigkeit, über sich selbst zu schmunzeln, geht sie weit über das Biografische hinaus. Sie ist nicht die glor- reiche Heldin, sie schildert ihre Zweifel – eine sympathische Politikerin in einer nahba- ren Autobiografie. JOACHIM SCHWEND ▶ Madeleine Albiht zusammen mit Bill Woodwad: Die Hölle und andee Reiseziele. Eine Autobioafi e im . Jahhundet. Aus dem Ameikanischen von Thomas Wollemann und Benhad Jendicke. Köln: Dumont ƒƒ. „…„ S., ˆ ‰ : Au eehen und Beehen Unda Höne ezählt das Leben von Nancy Cunad W ow, was für ein aufregendes Le- ben! Und wow, was für ein langweiliges Buch darüber! Wie sich Unda Hörner aber so rein gar nicht von Nancy Cunards schil- lerndem und tragi- schem Leben anste- cken lässt! Zur Erinnerung: Nancy Cunard wurde 1896 in jene Familie ge- boren, die seit drei Gene rationen das Schiff- fahrtsimperium »Cunard Line« besaß, und tat das Beste, was man als stinkreiche Erbin machen kann: Sie lebte für die Kunst und engagierte sich für Minder heiten, bis kein Geld und auch sonst nichts mehr von ihr üb- rig war. Mit 14 haž e sie »Scož , Shelley, Schiller, Molière, Daudet, Dickens, Corneille und natürlich Shakespeare« gelesen, zehn Jahre später lebte sie in Paris inmiž en der sur- realistischen und dadaistischen Avantgarde, verkehrte (ja: verkehrte) mit Huxley, Tzara, Breton und Aragon, gründete die »Hours Press« und veröffentlichte Samuel Beckež s erstes Buch. Sie war mit dem afroamerika- nischen Jazz-Pianisten Henry Crowder zusammen und brachte 1934 die fast tausend- seitige Anthologie »Negro« heraus, ein Kalei- doskop »schwarzer« Kultur, von der Zulu- Hochzeit über Gewalt gegen Schwarze in den USA bis zum Duke-Ellington-Foto. Im Spani- schen Bürgerkrieg half sie in Flüchtlingsla- gern und publizierte mit Pablo Neruda gegen den Faschismus. Als sie in einer Pariser Psychiatrie starb, war sie völlig verarmt und abgemagert. Neruda schrieb in seinem Nach- ruf: »Ihr Körper verging in einem endlosen Kampf gegen das Unrecht in der Welt. Ihr Lohn: Einsamkeit und noch mehr Einsam- keit.« Und was macht Unda Hörner aus alldem? Ein dröges Buch mit dem Esprit eines Lexi- konartikels, garniert mit bemühtem Zeitgeist (sie verwendet das Wort »Shitstorm«, aber falsch; »Black Lives Maž er« ist nur Schlag- wort). Cunards Alkoholproblem taucht kurz vorm Ende erstmals als »alter Bekannter« auf. Sehr schade. Zumal Karl Bruckmaier, der letztes Jahr in der Kursbuch-Edition einen tollen Band mit Auszügen aus Cunards Mag- num Opus »Negro« herausgegeben hat, ebendort zeigt, wie mans besser macht. BENJAMIN HEINE ▶ Unda Höne: Nancy Cunad. Zwischen Black Pide und Avantade. Blue Notes N. …. Belin: Ebesbach & Simon ƒ. „„ S., ” ‰ www.keuze-leipzi.de

25 Jahre mandelbaum verlag | BÜCHER | SACHBUCH I E G E Z N A : Von Haubentauchen und Rippelwellen Hans Jüen Balmes lässt sich auf dem Rhein teiben D ieser Fluss hat viele Überschwemmungs- gebiete, eins davon ist die kulturhistori- sche Bibliothek. Denn der Rhein hat Maler, Dichter, Komponisten, Reiseschriftsteller, Ideologen und Politiker inspiriert. Aus solchen Zuflüssen lassen sich gewaltige Synthesen schöpfen. Aber Hans Jürgen Balmes schreibt eine ganz andere »Biographie« des Rheins. Der in Koblenz (!) aufgewachsene Verlagslek- tor folgt mit großem Eigensinn nicht den Bü- chern, sondern seinen Erlebnissen auf »hun- derten von Exkursionen«. Das Mäandern ist Programm, eine Begradigung hieße ja Zerstö- rung. Seine Sensationen bilden Landschaft, Fauna und Flora, selten der Überbau. Also liest man über Haubentaucher, Lachswanderung, Balzspiele, schroffe Felsen und Schmet- terlinge; keine Pflanze bleibt unbestimmt. Die lyrische »Rheinromantik« hingegen ist Balmes suspekt, die patrioti- sche »Wacht am Rhein« nur wenige Zeilen wert. »Wasser weiß immer einen Weg.« Bei 1.232 Flusskilometern will jeder Land- gang gut überlegt sein. Doch das explorie- rende »Wir« oder »Ich« stapft viele Seiten lang durchs Gebirge, vom Rhein ist noch nichts zu sehen. Endlich wird das Faltboot bestiegen, der Tonfall wechselt von pathetisch zu fröh- lich. Es folgen nicht immer sachdienliche Ausflüge an die Mosel, in zahlreiche Museen, sogar unter Tage. Hinter der 1945 gesprengten Brücke von Remagen soll es aber rasch zur Nordsee gehen; der Niederrheiner verzeiht dies, weil ihm elegant und präzise erzählt wird. Wer sich für Geologie und Hydrologie begeistert, bekommt fachmännische Kunde von Flussbe¡ en, Strömungen, Verlandung … Das Wasser besingt Balmes in seiner wechsel- vollen Gestalt, in den »Rippelwellen und Kräuselungen« etwa. Diese manchmal über- schießende Poeterey? Sie ist auch ein Protest gegen die Ausbeutung und Vergiftung einer Lebensader. SVEN CREFELD ▶ Hans Jüen Balmes: De Rhein. Bioaphie eines Flusses. Fankfut/Main: S. Fische . € S., ƒ „ : De Papaei und die Hilfe suchende Hand Miko Seebecks und Ewa Kieachs nicht anz so altenative Wocław-Reise• he A usgehend von dem Beschluss zur West- verschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg wechselten zwölf Millionen Men- schen ihren ursprünglichen Wohnort. Ein Großteil der neuen Stadtbevölkerung Wrocławs kam aus dem ehemaligen Osten Po- lens, während die deutsche Bevölkerung das neue Polen verlassen musste – Konsequenzen eines Kriegsendes, dessen grausamer Anfang bereits den Schluss vorwegnahm. »Wrocław – oder doch lieber Breslau, wie es im Deutschen heißt?« Mit dieser Frage leitet das Vorwort den »alternativen« Reiseführer ein, wobei bereits der Titel auf der Vorderseite diese Frage zugunsten Breslaus beantwortet und damit die deutsche Vorkriegsgeschichte der Stadt in den Vordergrund rückt. Ein pro- blematischer Einstieg, der überlegen lässt, in welcher Hinsicht hier das »Alternative« ge- dacht wurde. Trotzdem lassen sich dem Buch die Entde- ckung einiger ungewöhnlicher Orte zuschrei- ben, die anderen Reiseführer*innen womög- lich entgangen wären: Zum Beispiel das »Papa- geiencafé« und »Die Hilfe suchende Hand«. Ersteres ist ein Café, in das der Besitzer so selbstverständlich seinen Vogel mitbringt wie andere ihren Hund. Zweiteres ist ein Denkmal für diejenigen, die während der Flut- katastrophe von 1997 mithalfen, Bücher zu re¡ en. Aus der Mauer einer Brücke krallt sich eine kleine mysteriöse Hand am Stein fest. Wem dieses Kunstwerk zugeschrieben werden soll, bleibt ungewiss. Ebenjene Form von All- tagskunst durchzieht diese Stadt. Das Buch er- innert daran, die Augen offenzuhalten, und hat man die Zeit, dann ist ein mehrtägiger in- teressanter Aufenthalt entlang der Vorschläge des Reisebuches tatsächlich gesichert. KAŚKA BRYLA ▶ Miko Seebeck u. Ewa Kieach: Beslau (Wocław) – Ein altenative Reise• he. außeewöhnliche Ote, die man nicht vepassen sollte. Düsseldof: WoclawGuide.com . š› S., €,› „ »Manche Leute bringen Hunde mit zur Arbeit, andere Papageien.« 70 www.keuze-leipzi.de Louise Michel DIE PARISER COMMUNE Aus dem Französischen von Veronika Berger € 23,– | 416 S. | ISBN 978385476-962-0 Philipp P. Metzger WOHNKONZERNE ENTEIGNEN! Wie Deutsche Wohnen & Co ein Grundbedürfnis zu Profit machen € 16,– | 286 S. | ISBN 978385476-695-7 Joyce Lussu WEITE WEGE IN DIE FREIHEIT Erinnerungen an die Resistenza herausgegeben & aus dem Italienischen übersetzt von Christa Kofler € 20,– | 286 S. | ISBN 978385476-951-4 70 www.mandelbaum.de

| SACHBUCH : Konsens ist sexy »Das P rivate ist immer politisch, das Sexuelle ist Teil des Gesellschaftlichen.« Shaina Joy Machlus setzt beim Sex auf Kommunikation staŒ auf Telepathie S haina Joy Machlus ist beides: Genervt vom Patriarchat und positiv gestimmt, dass diese männerdominierte Gesellschafts- form nicht für immer bleiben wird. Mit ihrem Buch »Nur JA! heißt ja. Eine Anleitung zum sexuellen Konsens« möchte sie zu Letzterem beitragen. Schluss mit der Vergewaltigungskultur, in der Vergewaltigung als unvermeidlicher gesell- schaftlicher Bestandteil ignoriert und durch normalisierende Darstellung von sexualisier- ter Gewalt gegen FLINTA (Frauen, Lesben, inter, trans und agender Personen) weiter be- günstigt wird! Schluss mit Vorurteilen und grenzüberschreitendem Sex! Machlus fordert eine Veränderung: »Irgendwie wurde die un- sinnige Lüge verbreitet, dass eine gute sexu- elle PartnerInnenschaft nicht auf guter Kommunikationsfähigkeit beruht, sondern auf der Fähigkeit zur Telepathie. Merkwürdi- auf der Fähigkeit zur Telepathie. Merkwürdi- gerweise sind Vorannahmen auch zum ulti- mativen Maß von Romantik geworden.« Sie empfiehlt: Fragen sta• raten. Denn se- xueller Konsens, also ausdrücklich einver- nehmlicher Sex, ist kein Zusatz, sondern Muss. So gibt die Autorin in ihrem Ratgeber praktische Tipps, wie man sexuellen Konsens einholen und praktizieren kann – etwa mit- hilfe verschiedener Gesprächsbeispiele. Dabei ist jedoch auch für Machlus klar: »Bildung ist körperliche und emotionale Arbeit«. Shaina Joy Machlus ermutigt auf offene, einladende Weise dazu, Sex anders zu den- ken. Egal ob bereits erfahren oder Neuling: Die einfache Anleitung motiviert dazu, die vor- gestellten Techniken selbst auszuprobieren. Sei es, um als effektive Maßnahme der Verge- waltigungskultur entgegenzuwirken, um die eigene Sexualität zu erforschen oder um schlichtweg besseren Sex zu haben! Darüber hinaus sorgen Listen mit Begriffserklärungen zu Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierung sowie ein Glossar zu Wörtern von »androgyn« bis »Zweigeschlechtlichkeit« für essenzielles Grundwissen. NELE REBMANN ▶ Shaina Joy Machlus: Nu JA! heißt ja. Eine Anleitun zum sexuellen Konsens. Aus dem Enlischen von Jennife Sophia Theodo. Belin: Olanda ƒ„ƒ…. ƒ†‡ S., …‰,†„ Š : Hinte veschlossenen Tüen Maheita BeŒ oni und Laua Backes übe die Spitze patiachale Gewalt: Fauenmode in Deutschland D ie Faktenlage ist verstörend: Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann seine Partnerin zu tö- ten, alle drei Tage ge- lingt es ihm. Während feministischer Protest dieses Problem in anderen Ländern Europas und Südamerikas in die breite Öffentlichkeit trug, ist es in Deutschland noch immer rand- ständig. Für Frauen innerhalb heterosexueller Beziehungen stellt der eigene Partner statis- tisch die größte Bedrohung dar, sind die ge- meinsamen vier Wände der gefährlichste Ort. Sicherheitspolitik beschäftigt sich selten mit der Tatsache, dass fast die Hälfte der Bevölke- rung mit dieser Lebensrealität konfrontiert ist. Neben Zahlen und Statistiken finden auch Die Journalistinnen Laura Backes und Mar- gherita Be• oni schreiben gegen diesen Istzu- stand an, klären auf, klagen an. Sie nehmen dabei unter anderem die Berichtersta• ung in die Verantwortung, die die Tötung von Frauen häufig als »Beziehungs-« oder auch »Eifer- suchtsdrama«, »Blu• at« oder »Familientragö- die« verharmlost. Sta• dessen sprechen die Au- torinnen von Femiziden: die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Auch die Rechtsprechung gerät in die Kritik. Denn die Strafen fallen häufig milder aus, ist das Opfer des Angeklagten die (Ex-)Partnerin. Gleichzei- tig greifen Rechtsprechende bei sogenannten Ehrenmorden härter durch – ein Paradebei- spiel für institutionalisierten Rassismus. die Erfahrungen Überlebender Raum im Buch. Dessen Kapitel sind durch Protokolle getrennt, in denen Frauen ihren Femizidversuch durch den ehemaligen Partner schildern. Diese Pas- sagen sind erschreckend bildhaft. »Alle drei Tage« ist ein Plädoyer für Verän- derung: in der Täter- und Opferarbeit, der rechtlichen Rahmenbedingungen und insbe- sondere der Gesellschaft. Denn ein patriar- chales Menschenbild ist entscheidender Risi- kofaktor für Femizide – sind diese schließlich Ausdruck maximaler Machtausübung von Männern gegenüber Frauen. LUCIA BAUMANN ▶ Laua Backes u. Maheita BeŒ oni: Alle dei Tae. Waum Männe Fauen töten und was wi daeen tun müssen. Mün- chen: DVA ƒ„ƒ…. ƒ„š S., ƒ„ Š : Tödliche Antifeminismus Veonika Kache knöpž sich »Incels« und Patiachat vo M anche Sachen sind kaum zu glauben – und dennoch wahr. Es gibt tatsächlich Männer, die überzeugt davon sind, das Recht auf Sex mit Frauen zu haben. Natürlich ist das falsch, und sie bekommen ihn auch nicht. Schuld daran sind die Frauen, glauben diese narzisstischen Typen, die sich »unfreiwillig zölibatäre Männer« nennen (»involuntary celi- bate« wird zu »incels«). Diese Denke entsprang der Internet-Forenkultur und man könnte sie als verschroben abtun. Wäre dieser Antifemi- nismus nicht mörderisch. Er hat mehrere Terroristen zum Töten motiviert. So wurde der A• entäter von Halle zwar maßgeblich von Antisemitismus angetrieben, war aber auch ein Incel. Veronika Kracher hat sich wie keine Zweite dieser Welt gewidmet, denn eine muss es ja machen. Und nun ist sie unfreiwillig die In- cel-Expertin und teilt im Buch ihre Kennt- nisse. Wie die Incels sich aus der Meme-Kul- tur heraus entwickelt haben, was ihre Ideologie mit extrem rechter verbindet und welche Folgen ihre Taten haben, ist hier zu erfahren. Aber Kracher geht weiter, seziert to- xische Männlichkeit allgemeiner und letzt- lich das Patriarchat an sich. Denn die Incels sind die krasseste Form einer grassierenden Frauenfeindlichkeit, auf der die derzeitigen Geschlechterverhältnisse fußen. Kracher ar- gumentiert mit Klaus Theweleit überzeu- gend, dass sich das männliche Subjekt in Ab- grenzung zum »weiblichen Anderen« entwirft und sich dadurch ständig von diesem bedroht fühlt. »Incels« ist die erste umfassende Studie zu diesem Phänomen, die zugleich das Maß eines Standardwerks hat. Da verzeiht man den manchmal flapsigen Ton – zumal dieser den Analysewert nicht schmälert. TOBIAS PRÜWER ▶ Veonika Kache: Incels. Geschichte, Spache und Ideoloie eines Online-Kults. Mainz: Ventil ƒ„ƒ„. ƒš„ S., …‡ Š 72 www.keuze-leipzi.de

| SACHBUCH : In Moia und andeswo Neue Büche von Hele-Ulike Hyams und Anselm Oelze Gedanken allgemeinere Wege einschlagen. So ref lektiert er über die »Ungleichzeitigkeiten«, die ihm auf Lesbos begegneten: Die Urlauber leben in einer anderen Realität als die Geflüch- teten. Vermeintliche Vertrautheiten sind ein weiteres Phänomen – durch mediale Bilder sind wir so geprägt, dass uns fremde Orte bekannt erscheinen, wenn wir schließlich dort sind. Er erläutert, dass Nationalstaaten eigentlich Fik- tionen seien, die Menschen mit denselben kul- turellen Praktiken einschließen und »die ande- ren« ausschließen. Während Waren und Geld Grenzen leicht überwinden, gelingt dies Men- schen mit falschem oder ohne Pass nicht. Oelze streift Kants Weltbürgerrecht, das im harten Kontrast zur aktuellen Wirklichkeit steht, und denkt über die Zufälligkeiten nach, von denen abhängt, wer etwas besitzt oder einen bestimmten Status hat – und wer nicht. Vielleicht liegt es an diesem globaleren philo- sophischen Zugriff, dass Oelzes Buch weniger berührt als Hyams’; staš mit Menschen setzt es sich mit Gedanken auseinander. Aber an Moria und den Folgen europäischer Flüchtlingspolitik interessierte Leser müssen sich ja gar nicht entscheiden – beide Bücher zusammengenom- men bilden viele Faceš en dieser Thematik er- hellend ab. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Hele-Ulike Hyams: Denk ich an Moia. Ein Winte auf Lesbos. Belin: Beenbe . S., ‚ ▶ Anselm Oelze: Die Genzen des Glücks. Eine Reise an den Rand Euopas. Fankfut/Main: Schöffl in & Co. . S., “ ‚ M oria – das war bis zum Brand in der Nacht zum 9. September 2020 Europas größtes Flüchtlingslager, gelegen auf der griechischen Insel Lesbos. Bis zu 20.000 Menschen lebten zeitweise dort. Fast jeder hat Fernsehberichte oder Internetvideos gesehen, die die dortigen Zustände zeigten. Bilder, die erschrecken, sind das eine. Verstehen wollen, was vor Ort pas- siert, ist das andere. Zwei, die nach Moria reisten, um sich dort selbst ein Bild zu machen, sind Helge-Ulrike Hyams und Anselm Oelze. Beide haben ihre Er- fahrungen und Gedanken zu lesenswerten Büchern verarbeitet. Hyams lebte vom Herbst 2019 an zehn Monate lang auf Lesbos und arbeitete in dieser Zeit als Freiwillige bei einer Schweizer NGO. In ihrem Buch »Denk ich an Moria« widmet sie sich den Alltagsaspekten in einem Flüchtlingslager wie etwa Busfahrten, Müll, Regen, Exkrementen, Handys, Essen und dem Lidl-Discounter. Ihre anteilnehmenden Betrachtungen sind warm- herzig und unsentimental, geprägt von ihrem Blick als Psychoanalytikerin. Mit viel Einfühlungsvermögen verfolgt sie die Probleme der verschiedenen Inselbewohner: neben denen der Geflüchteten auch die der Ein- heimischen und der Freiwilligen. Besonders die beiden Erstgenannten stoßen mit ihren ge- rech˜ ertigten und doch so gegensätzlichen Be- dürfnissen aufeinander. Anschaulich wird das etwa beim Streitpunkt Olivenhaine: Die Grie- chen verehren ihre Olivenbäume, diese bilden zudem eine wichtige wirtschaftliche Basis der Insel. Die Geflüchteten siedelten anfänglich in ihrer Not in den Hainen, schlugen – als es Winter und biš erkalt wurde – schließlich viele Bäume und verbrannten das Holz. Hyams be- zieht in solchen Fragen nicht Partei, sie zeigt einfach auf, wie sich die europäische Flücht- lingspolitik vor Ort auf die Menschen auswirkt. Besonders beeindrucken Lebenserfahrung und Persönlichkeit der Autorin, die Jahrgang 1942 ist. Würde man sich mit Ende siebzig selbst noch solchen Strapazen aussetzen? Wie offen Hyams auf Menschen in ihrer ganz unter- schiedlichen Verfasstheit zugeht, wirkt lange nach. Anselm Oelze schildert in »Die Grenzen des Glücks« ebenfalls Eindrücke aus dem Lager, doch sind sie eher Impulse, von denen aus seine ANZEIGE : Speck an sich »Tiee wie wi« will vom Tiewohl übezeuen – jenseits zwinende Aumente D ieses Buch ist eine Pralinenschachtel: Man weiß nie, was als nächstes Argument kommt. Einerseits unterrichtet Christine M. Korsgaard verständlich über diverse Aspekte der Tierethik-Diskussionen. Andererseits argu- mentiert sie schwammig und schlussendlich gar gefühlig, wenn sie Haustierhaltung gut- heißt. Korsgaards unkonventionelle Argumen- tationsstrategie ist interessengeleitet: Sie lässt die Leserinnen eingangs wissen, dass sie sie als Veganerin davon überzeugen will, dass das Tö- ten von Tieren keinesfalls und das Einsperren selten zu rech˜ ertigen ist. Dazu greift sie zunächst auf die Bedeutungs- theorie zurück: Das Wort »gut« benötige eine Referenz, für die es gut ist. Da für Tiere etwas gut sei, dürfen wir das als Menschen nicht be- werten. Denn sie sind ihre eigene Referenz und »wüssten« das selbst – wenigstens instinktiv. Da etwas für sie gut ist, sind sie sogenannte Zwecke an sich selbst. Korsgaard weitet den für potenziell vernünftige Wesen vorgesehenen Kantischen Personenbegriff auf leidensfähige Tiere aus. Darum dürften wir nicht über sie verfügen oder sie benutzen. Das Buch endet mit praktischen Beispielen. Korsgaard verdeutlicht nicht, warum sie gra- duell bei offensichtlich leidensfähigen Tieren stehen bleibt und nicht alle einbezieht. Sie ver- wendet zudem vernebelnde Begriffe: Tiere würden ihre Umwelt »wertend wahrnehmen« und »danach handeln«. Aus einer solchen un- terbestimmten Behauptung Schlüsse ableiten zu wollen, ist unzulässig. Letztlich ist ihre Position, das Wort »gut« für Tiere überhaupt anzuwenden natürlich ge- nauso anmaßend, wie sich als angebliche Schöpfungskrönung über sie zu stellen: Korsg- aard spricht aus menschlicher Perspektive – wir alle kommen aus dieser gar nicht heraus. Auch zu sagen, was Tiere »wollen«, ist ein Be- stimmen über sie. Das bedeutet selbstver- ständlich nicht, gedankenlos mit der Um- und Mitwelt umzugehen. TOBIAS PRÜWER ▶ Chistine M. Kosaad: Tiee wie wi. Waum wi moalische Pfl ichten eenübe Tieen haben. München: C. H. Beck . ›œž S., Ÿ,Ÿ“ ‚ 74 www.keuze-leipzi.de

| SACHBUCH : Das Hohelied de Faulheit Daniela Stil scheibt übe Lethaie und Müßian »Zu Ende gedacht, ist die Faulheit also eine Form der Freiheit.« W ill man Daniela Strigls neuestes Buch lesen, muss man zuerst einmal die eigene Trägheit überwinden und zur Tätigkeit gelan- gen. Mit diesem Dilemma beginnt auch der Text der Autorin, die den Auftrag, ein Buch über die Faulheit zu schreiben, angenommen hat, ansta faul zu sein. Immerhin ist es kein dicker, ambitionierter Wälzer geworden, sondern ein dünnes, leicht in der Hand liegendes Bänd- chen, in dem sich Strigl kurz und knapp fol- genden Fragen widmet: Ist die Faulheit ein Zu- stand oder eine Charaktereigenschaft? Ist sie ein Laster, eine Todsünde oder ein Menschen- recht? Wer hat sie definiert und negativ oder positiv konnotiert? Keineswegs muss man alle Quellen gelesen haben, die Strigl in ihren Gedankenspielen bemüht, wenngleich sich hier zahlreiche Lite- raturempfehlungen auftun. Wer zum Beispiel noch nie die Geschichte von Iwan Gontscharows »Oblomow« gelesen hat, dem wird dieser stinkfaule, liebenswürdige Anti-Held der russi- schen Literatur ans Herz gelegt. Strigls poin- ANZEIGE tierte Beschreibung der Faulheit mi els litera- tur-, kultur- und religionsgeschichtlicher Bezüge ist gekonnt ausgeführt. Der Leser kann sich entspannt zurücklehnen, während die Autorin fast unbemerkt an den magischen Punkt gelangt, da »das kontemplative Faulsein in ein produktives umschlägt«. Produktives Faulsein? Geht das überhaupt? Ehe man sichs versieht, beginnt man selbst zu philosophie- ren und kann sich nicht recht entscheiden, ob man nun dem Müßiggang frönt oder einer Lebenserkenntnis auf der Spur ist. Am Ende des Textes möchte man das Buch weglegen und erst einmal aktiv faul sein. Denn darauf weist die Autorin schon zu Beginn ihres Gedankenexperiments hin: Faulheit »passiert nicht einfach so, sie ergibt sich nicht zwangsläufig, man kann, man muss sie an- streben, planen, zelebrieren.« HANNA SCHNECK ▶ Daniela Stil: Gedankenspiele übe die Faulheit. Gaz: Doschl . S., : Wo kleine Mädchen auf Könistie teff en Felix Bok und die »Odyssee duch Köpe, Klo, Kanalisation, Kläanlae und Wolken« E s gibt nur sehr wenige Bücher, die man aufs Klo legen kann, um sich selbst und Besu- chern die Zeit zu vertreiben, wenn es nötig ist. An Witzebüchern zerbrechen Freundschaften, Romane liest niemand mehr, und überhaupt kann man sowieso niemals ins Gespräch kom- men über das Gelesene, weil man ja damit zugeben müsste: Ich war gerade kacken, es hat lang gedauert und ich hab mich gelangweilt und deshalb in deinem Buch da geblä ert. Der Autor und Illustrator Felix Bork aus Berlin hat Abhilfe geschaffen. Mit »Aus den Ärschen aus dem Sinn« hat er ein wunderbar buntes Heftchen gestaltet, in dem er den Weg des Cor- pus Delicti von, reden wir Klartext, der Kimme bis zum Klärwerk nachverfolgt. Wer schon mal etwas von Felix Bork gelesen hat, weiß, dass der Mann keine drögen Fach- texte schreibt. Im Gegenteil: Bei Formulierun- gen wie »im Belebungsbecken passiert jetzt irgendwas mit Bakterien, die zugeführten Sau- erstoff megageil finden, dann viel bumsen und neue Mikroorganismen erzeugen« rutscht es doch gleich viel schneller in die Schüssel. Doch es werden auch ernste Töne angeschlagen, immerhin verschmutzt unser Abwasser auch das Grundwasser und die Gewässer auf dieser schönen Erde, und außerdem haben viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser: »Übelster Abfuck«. Nach dem Spülen kann man sich jetzt zumindest ein Herz fassen und mit den selbstbewussten Worten aus dem Badezimmer treten: Nicht zu glauben, das mit der Scheiße! Und schwupps redet man übers Kacken und vergisst all die albernen Königsti- ger und verschämten kleinen Mädchen und Jungs, zu denen man sonst mutiert, wenn man mal aufs Klo muss. Ach, und gratis zu diesem Maro-Heft gibt es ein Lesezeichen zum Kategorisieren der Be- schaffenheit von Dem-dessen-Name-nicht-ge- nannt-werden-darf und ein Scheißgeschich- tenplakat für die Badezimmerwand. Danke, Felix Bork, dass wir mal drüber gesprochen haben! LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Felix Bok: Aus den Äschen aus dem Sinn. Eine Odyssee duch Köpe, Klo, Kanalisation, Kläanlae und Wolken. Mao-HeŽ #’. Ausbu: Mao . ’ S., »Im Prinzip ist eine Kläranlage wie Jesus, der aus Wasser Wein machte.« 76 www.keuze-leipzi.de

| SPORT : Ri es Rezeptbuch »Mit Schwet und Deen« ‡ ht in die Welt des miˆ elaltelichen Zweikampfs ein W er dir oberhawt zorñhaw ort dem drawt.« – Ohne Kontext wird man die Fechtbücher nicht verstehen. Diese Art Rezeptsammlungen aus dem Spätmi elalter und der Renaissance waren Anleitungen in Wort und Bild zum Kampf mit allerlei Waffen: etwa mit dem Schwert, dem Dolch, dem Ra- pier und dem Kriegshammer. Lange blieben diese Quellen unbeachtet, wurden von Histo- rikern als Kuriosum belächelt und wie magi- sche Anleitungen als Scharlatanerie abgetan. Das hat sich geändert. Auf Schloss Friedenstein in Gotha hä e sich eine Ausstellung diesem Quellenschatz wid- men sollen. Sie wird nur digital zu sehen sein – der Begleitband ist dennoch erschienen. Darin gibt Daniel Gehrt einen guten Überblick zum Thema und zeigt, dass nicht nur der Adel, sondern auch die Bürger die Kunst des Fechtens beherrschten. Er erläutert den Zweikampfkontext und bezieht auch alltags- und sozialgeschichtliche Aspekte mit ein. Wer durfte wann den Gerichtskampf bis aufs Blut ausfechten? Warum standen Männer in der Grube, wenn sie gegen Frauen antraten? Gehrt erklärt, wieso die damaligen Fecht- meister überhaupt Bücher anfertigten, deren Funktion von Gedankenstütze für die Schü- ler bis hin zum Werbepor’ olio für potenzielle Kunden reichte. Es ist auch zu erfahren, wie das historische Fechten heute als Nischen- sport die Erforschung der Bücher unterstützt und durch praktische Beweisführung ihren Wert erst deutlich gemacht hat. Rund 50 großformatige Illustrationen führen in die Bildwelten dieser Rezeptbücher ein. Trotz des spezifischen Themas sind die 13 kurzen Kapitel gut verständlich und durch- weg von einführendem Charakter. Damit ist das Buch ein weiterer Baustein, das düstere Bild der damaligen Zeit ad acta zu legen und als Ära einer anderen Kultur, aber kultiviert, zu zeigen. TOBIAS PRÜWER ▶ Daniel Geht: Mit Schwet und Deen. Zweikampf in histoischen Fechtbü chen. Efut: Foschunsbibliothek Gotha . € S., ƒ,€ „ »Steig niemals ab, Fonsina.« : Not und Veachtun Späte Ehe ‡ die Radspotleende Alfonsina Stada E nde des 19. Jahrhun- derts leben im länd- lichen Italien viele Men- lichen Italien viele Men- schen in großer Armut. Auch Alfonsina Morini wird 1891 in elende Ver- hältnisse hineingeboren. Der emotional verhär- tete Vater ist Tagelöh- ner, die aufgezehrte Mu er Amme, dazu kommen zahlreiche leib- liche und adoptierte Geschwister, von denen etliche in jungen Jahren sterben. Immer ist zu wenig Essen da, von allem anderen ganz zu schweigen. Diese Kindheitserfahrungen prägen das Leben der ersten italienischen Radrennfahrerin. : Ulta, Spaye, Diva Simona Baldelli hat aus der Biografie der späteren Alfonsina Strada einen Roman ge- macht, der die Leserin nicht schont. Materi- elle Not und die Verachtung ihres außerge- wöhnlichen Talents sind Stradas lebenslange Begleiter – Letztere auch dann noch, als sie längst berühmt ist und als bislang einzige Frau den Giro d’Italia mi’ ährt. Für viele bleibt diese willensstarke Frau »die Irre aus Fossamarcia«. Die ersehnte Anerkennung und Liebe findet sie in ihrer Ehe mit Luigi Strada. Doch ihr Mann ist psychisch labil; Alfonsina muss ihn in der Psychiatrie unterbringen, wo er stirbt. Baldellis Sprache lässt sich von all den Ent- behrungen und Strapazen nicht anstecken: Sie ist sinnlich und oft auch poetisch, sobald Strada im Sa el sitzt. Die Autorin zieht ihren biografischen Roman anhand einiger bekann- ter Daten aus Stradas Leben auf. Sie zeigt szenenweise Kindheit und Jugend, das Zusam- mentreffen mit der Zarenfamilie nach dem Grand Prix von St. Petersburg 1909, die Ein- weisung Luigis 1923 und natürlich Stradas Teilnahme am legendären Giro d’Italia 1924. Dazwischen blendet Baldelli immer wieder den 13. September 1959 ein, den Todestag der Radrennfahrerin. An dem die 68-Jährige als Zuschauerin beim Eintagesrennen von Tre Valli Varesine mi’ ieberte – kein fiktionaler Kniff, sondern Tatsache. Bis zum Schluss folgte Alfon- sina Strada ihrer sportlichen Leidenschaft. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Simona Baldelli: Die Rebellion de Alfonsina Stada. Roman. Aus dem Italienischen von Kain Diemelin. Fankfut/Main: Eichbon . ““” S., „ Stefan Lane vesammelt auf ™”™ Seiten illeale Fußballaffi ti im Pachtband E in dicker Riesenschinken erblickte in Leipzigs Mi e das Licht der Bücherwelt. Stefan Langer zauberte mit »Fußballgraffiti« ein Superschwergewicht auf den Büchertisch, das die Herzen vieler Graffitifreundinnen zum feisten Pumpen anregt und in einmali- ger Manier die schwer ger Manier die schwer zugängliche Graffiti- zugängliche Graffiti- szene deutscher Fuß- szene deutscher Fuß- ballfankultur vorstellt. ballfankultur vorstellt. Auf über tausend Fo- tos werden die nächtli- chen Streifzüge der Sprayer präsentiert, garniert mit Inter- views der Gangs und Szenegrüßen, die kein Auge trocken lassen. Es ist einfach fantas- tisch, was die Leute zur dunklen Stunde ma- len. Ihr Herz schlägt Bam-Bam-Bam für den Verein und die Graffitikunst. Der Schwerpunkt des Buchs liegt weniger bei Street-Art als bei illegalen Malereien, die meist nur wenige Stunden Züge, Busse und Wände zieren. Das gibt den besonderen Kick für die Maler und uns unschuldige Betrach- ter. Es sind hauptsächlich Ultras, die die Welt bereisen, um in Brasilien oder Thailand einen Zug »für ihren« Verein zu bemalen. Breiten Raum nehmen im Buch die Szenen von Che- mie Leipzig, Dynamo Dresden und Hansa Ros- tock ein. Doch auch Sankt Pauli, Jena, Bayern, Dortmund und andere wissen zu überzeugen. Langer hat fünf Jahre an dem Buch gearbei- tet, im ständigen Kontakt zu diversen Fußball- szenen. Er leistete viel Überzeugungsarbeit, aktualisierte immerfort den Bildbestand und musste mit Rückschlägen leben, wenn Sze- nen ihre Zusage zurücknahmen, weil der coole Maler X plötzlich keinen Bock mehr auf das Buch ha e und das große »Fuck you!« verkün- dete – um drei Stunden später seine Meinung zu ändern. Diva sein! Für die grafische Umsetzung des Werks zeichnet Hawaii-F3 verantwortlich: Die Leip- ziger Grafikdesigner sind mit ihrem Layout nah an den Künstlern – und geben dem Stan- dardwerk einen überragenden Rahmen. FRANK WILLMANN ▶ Stefan Lane: Fußballaffi ti. Leipzi: Elebnis Fussball . ™”™ S., “€,€” „ 78 www.keuze-leipzi.de

| KUNST : Pobleme mit dem männlichen Baum Rebekka Endle ezählt in »Das Patiachat de Dine« von de männlich estalteten Welt D ie Journalistin Rebekka Endler hat ihr ers- tes Buch »Das Patriarchat der Dinge« deshalb geschrieben, weil ihre Recherche zu öffentlichen Toile en und Patriarchat keine Abnehmer fand. Die Argumentation in Redak- tionen lautete: Das Thema besitze »weder poli- tische noch gesamtgesellschaftliche Relevanz«. Genug Ansporn für Endler, um ihre Forschun- gen durch die »tief verwurzelten patriarchalen Ideen« hinter der Fassade unserer vermeint- lich geschlechtsneutral und streng funktional eingerichteten Welt zu intensivieren. In neun Kapiteln stellt sie nun ihre Ergebnisse vor: vom Sprachkonstrukt über Technologie und Internet bis zur Kleidung. Ein Absatz fragt: »Wem gehört der öffentliche Raum?« Hier steht zuerst die Mehrzahl an männlichen Bäu- men im Vordergrund, die aufgrund ihrer leichteren Pflege bevorzugt werden. Allerdings bilden sie Pollen, die wiederum Heuschnupfen auslösen können. Es geht weiter mit Bord- steinkanten – und der Feststellung: »Wir leben und bewegen uns heute in einer urbanen Struktur, die in Deutschland während des Wirt- schaftswunders in den 1950er und 1960er Jahren entstanden ist: Der Mann ist alleiniger Versorger.« Und die Feststellung zeigt die Grenzen des Buches schon sehr gut auf. Es kombiniert Forschungen von Frauen mit Beiträgen aus zeitgenössischen Blogs, Artikeln und Podcasts, die die gerade aktuellen Sprechnormen erfüllen. Alles gut, wäre da nicht der Wunsch von Lesenden, vielleicht auch etwas Substanz und nicht nur eine Viel- zahl von Geschichten aus der Alltagswelt zu er fahren. BRITT SCHLEHAHN ▶ Rebekka Endle: Das Patiachat de Dine: Waum die Welt Fauen nicht passt. Köln: DuMont . S., ƒ,„„ … »Die Extrawurstisierung von Mädchen und F rauen als reiner Marketing-Stunt ist also kontraproduktiv.« : »Einneunsschleusen und Efahunsschichten« Ein Sammelband zu Bildepaxis des Bielefelde Histoikes Reinhat Koselleck W as sehen wir, wenn wir ein Soldatendenk- mal betrachten? Wer wird als Opfer dargestellt? Wer ist der Täter? In welche Him- melsrichtung weist das Denkmal? Diesen Fragen widmete sich der Historiker Reinhart Koselleck (1923–2006) in Text und Foto. Er selbst diente in der Wehrmacht, war ab Mai 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – unter anderem in Auschwitz, baute später an der Universität Bielefeld den Fachbereich Ge- schichtswissenschaft auf. Koselleck beschäf- tigte sich mit politischer Ikonologie und Totenkult. Dabei interessierte er sich vor allem für »Erinnerungsschleusen und Erfahrungs- schichten«, wie er einen Aufsatz 1984 benannte. Dafür bedarf es eines erweiterten Blicks auf Denkmäler und deren Bilder. Diese produzierte Koselleck selbst als sein Handwerkszeug. ANZEIGE Mit Fotografien können nicht nur ganz klas- sisch Formen archiviert werden, sondern auch Umgebungen – womit auch die Atmosphäre von Denkmälern dokumentiert wird. »Das Werk des Historikers Reinhart Koselleck wird anhaltend lebhaft rezipiert.« Der vorliegende Band stellt die Bilderproduk- tion von Koselleck in den Mi elpunkt und basiert auf zwei Ausstellungen in Bielefeld im Jahr 2018. »Erinnerungsschleusen« hieß die Schau im Bielefelder Kunstverein. Hierbei stan- den die Auswirkungen der beiden Weltkriege »auf das soziale Bewusstsein und politischen Totenkult von Gedenkstä en und Denkmälern in Europa« im Mi elpunkt. Die zweite Aus- stellung fand an der Uni Bielefeld zu einem an- deren wichtigen Begriff bei Koselleck sta : »Politische Sinnlichkeit«. Diese meint nicht weniger als die Vermi lung politischer Ideolo- gie auf die Sinne in politischen Erfahrungsräu- men. Die kleinformatigen Ausstellungsdoku- mentationen werden hilfreicherweise von Aufsätzen begleitet, die sich mit Kosellecks Theorien zu Bild und Objekt auseinanderset- zen. Ein sehr interessantes Buch, das in Zeiten, in denen alle immer überall mit dem Handy knipsen, umso wichtiger ist, weil es auf die Spuren der Geschichten verweist, die oft zugunsten smarter Oberflächen vergessen werden. BRITT SCHLEHAHN ▶ Be‡ ina Bandt, Bi‡ a Hochkichen (H.): Reinhat Koselleck und das Bild. Bielefeld: Tanscipt . Ž‘ S., … 80 www.keuze-leipzi.de

| KUNST : Wüdevolles Waten Robin Kellemann untesucht die Fomen des Auf-den-Zu-Watens Z wei der überwäl- tigendsten Orte sind – streng subjek- tiv gesehen – die beiden Wartesäle im Leipziger Haupt- bahnhof. Jeder von ihnen trägt zu Recht den Namen Saal: Geräumig und von beein- druckender Gestaltung zeigen sie in ihrer ak- tuellen Nutzung als Läden, dass es sehr schwierig ist, gegen die ursprüngliche architek- tonische Vorgabe anzukommen. Wer sich im Gegensatz dazu den 2006 eröffneten Berliner Hauptbahnhof genauer anschaut, findet noch nicht mal Wartebänke auf den Bahnsteigen. Ganz offensichtlich bestimmten das Selbstbild des Transportunternehmens und das gesell- schaftliche Sicherheitsverständnis die Bahn- hofsaussta‰ ung. Hier wird nicht mehr gewar- tet. Hier wird die Zeit auf den Zug mit Konsum vertrödelt. Aber wie entstanden eigentlich Warteräume auf Bahnhöfen, wie waren sie ausgesta‰ et, wie entwickelte sich der Raumtyp bis zur heutigen DB-Lounge, die Reisenden der ersten Klasse und Bahncard-Comfort-Besitzern vorbehalten ist? Diesen Fragen ging Robin Kellermann in seiner Doktorarbeit an der Technischen Univer- sität Berlin zur Bau- und Kulturgeschichte des Wartens auf Eisenbahnen nach, die nun als Buch vorliegt. Bahnhöfe stellen für ihn die wichtigste Bauaufgabe des 19. Jahrhunderts dar. Er startet mit Theorien und Strukturen der Konstituierung von Zeiterfahrung. Das ist nicht unwesentlich, denn beispielsweise wurden damals Normaluhren eingeführt, um den Eisen- bahnbetrieb zu strukturieren und zu regulie- ren. Frühe Bahnhöfe wie Crown Street Station in Liverpool (1830) bilden »Reallabore« für diesen neuen Gebäudetyp im Allgemeinen und die Zuordnung von Wartenden im Speziellen. Der Potsdamer Bahnhof Berlin (1838) verfügt über einen eigens für das Königshaus ange- legten Warteraum. In den zunehmend komple- xeren Gebäuden um die Schienen entwickelten sich ab 1860 zudem Versorgungseinheiten – vom einfachen Schanktisch bis zum Speisesaal gemäß der Klassen- und Geschlechtertren- nung. Der moderne Zweckbau (ab 1900) margi- nalisiere das stationäre Warten, so Kellermann, der im Buch zudem einen Ausblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt, in der die Wartesäle ihre »prominente Rolle« verlo- ren. Kellermann argumentiert mit sinkenden Fahrgastzahlen durch den Autoverkehr. Hier wäre eine nach Gesellschaftssystemen diffe- renziertere Blickweise gefragt gewesen. Bei der »Renaissance der Bahnhöfe« tauchen dann auch der Leipziger Hauptbahnhof mit seiner Umwandlung in ein Einkaufscenter mit Gleis- anschlüssen und der Berliner Hauptbahnhof auf. Der Ausgestaltung der Wartezonen stellt Kellermann Beschreibungen aus Literatur und bildender Kunst zur Seite, die die Erfahrungs- weisen in den Räumen schildern. Ein interes- santes Buch, nicht nur für Eisenbahnfans. BRITT SCHLEHAHN ▶ Robin Kellemann: Im Zwischenaum de beschleuniten Modene. Eine Bau- und Kultueschichte des Watens auf Eisenbahnen, €–ƒ„. Bielefeld: Tanscipt ‡€‡. ˆƒ‰ S., „ƒ ‹ : Botscha en aus dem Allta In päzise beobachteten Bildewelten eist »Tief im Osten« duch die Lausitz und die Zeit W enn Jörg Matschie zwischen Görlitz und Bautzen, Co‰ bus und Eisenhü‰ enstadt unterwegs ist, bringt er Bilder mit, die Men- schen in ihrem Alltag in den Mi‰ elpunkt stellen – selbst dann, wenn mal keine Menschen zu sehen sind. Mit Aufnahmen seit 1976 erlaubt dieser Band eine Betrachtung des Wandels in der Lausitz unter den Stichworten Braunkohle, verschwundene Dörfer, Wende, Tagebaufolge- landschaft, sorbische Traditionen. Die stillen Beobachtungen inszenieren nichts, erzählen mit jedem Bild Geschichten und lassen tief in die Landstriche eintauchen, in denen Mat- schie schon sein Leben lang zu Hause ist: Bei Bautzen geboren und aufgewachsen, ging er als Technologe nach Görlitz und absolvierte schließlich ein Fotografie-Fernstudium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buch- kunst. Die Landstriche liegen tief im Osten sowohl der DDR als auch der Bundesrepublik, zum Alltag gehören Einkaufen und Heiraten, Aschetonnen und Wohnungseinweihung, Rummelplatz und Marienwallfahrt, Dorffest und Beerdigung, Windeln waschen und Aus- länder hassen, Erntebrauch und Rockkonzert, Maidemonstration und Reichsflaggen an der B 96. Die sozialdokumentarische Zeitreise reicht von der Szenerie auf dem Bautzener Post- platz 1976 bis zu einer Fridays-for-Future- Demonstration im Jahr 2020. Matschie, der sich als Kurator und Fotohistoriker intensiv mit anderen Fotografen der Ober- wie Niederlausitz beschäftigte, versammelt hier 150 Aufnahmen aus dem eigenen Bestand, von Großbildpla‰ en- kamera bis Kleinbildtechnik. Im Vorwort bindet Kulturhistoriker Bernd Lindner auf kluge Weise ebenfalls die Landschaft und die Menschen während der letzten viereinhalb Jahrzehnte zusammen und schafft so eine gute Rahmung für Matschies hervorragende Erin- nerungsarbeit. FRANZISKA REIF ▶ Jö Matschie: Tief im Osten. Die Lausitz im Wandel ƒ”‰–‡€‡€. Mit einem Vowot von Bend Lindne. Halle: Mi˜ eldeutsche Vela ‡€‡. „ S., ‡„ ‹ »Gerade weil sich Jürgen Matschie bei seinen fo- tohistorischen Arbeiten nicht allein auf sorbi- sche Fotografen beschränkte, schärfen sie das Bewusstsein vom mit- und nebeneinander ge- schaffenen kulturellen Reichtum der Region und können so zur Lösung von Spannungen und Konflikten beitragen.« 82 www.keuze-leipzi.de

| ILLUSTRATION & COMIC : Zwei Männe, eine lane Nacht und seh viel Bie Ka‚ aesk estandete »Nachtestalten« von Jaoslav Rudiš und Nicolas Mahle T reffen sich zwei Männer mi leren Alters abends in Prag. Und was tun sie? Sie gehen natürlich Bier trinken, hangeln sich von Kneipe zu Kneipe, von Geschichte zu Ge- schichte; und es geht wieder einmal um alles. In spärlichen banal-bizarren Statements dreht es sich um Go und die Welt, um die Liebe, die en äuschte natürlich, das Leben, das kei- ner so richtig versteht, und die Geschichte, die ganz große, vor der sich niemand verstecken kann, nicht einmal in der böhmischen Kneipe. Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und der Co- mic-Zeichner Nicolas Mahler haben gemein- sam die erste Graphic Novel im Luchterhand- Verlag gestaltet. Ein wahres Kakanien: böhmisch-österreichisch, bierig und kafkaesk. Der neurotische Historiker, der über das Ende der Menschheit sinniert, an der Geschichte lei- det und dem sich immer wieder vergangene Schlachten in das Hier und Jetzt einmischen, erinnert an ein Substrat von Winterberg, dem Protagonisten aus Rudiš’ letztem Roman, aber auch ein Alter Ego des Schriftstellers selbst »›Die besten Leute‹, sagte mein Freund kürzlich bei einem Lunch mit Rotwein zu mir, ›sind ein bisschen ramponiert.‹« drängt sich auf. In gewissem Sinne sind die »Nachtgestalten« ein minimalistisches Pen- dant zu dem ausschweifenden Winterberg mit einer klassischen Rudiš-Handschrift: gestran- dete Männer, die wunde Geschichte, das Bier- philosophieren, der sogenannte tschechische Humor und das Bahnfahren – alles ist da. Und dank der grandiosen, für Mahler typischen einfachen Zeichnungen – in den drei Farben: Schwarz, Weiß, Blau und mi els zweier Strichmännchen (ein großer Telegrafenmast- ähnlicher und ein kleiner Dicker, beide ohne Gesichtsausdruck, dafür aber mit langen Na- sen), deren weiße Körperumrisse sich mit je- dem getrunkenen Bier ein wenig mehr mit Blau füllen – wird die Kneipenpla itüde zu ei- ner absurden, ironischen Überzeichnung ihrer selbst. Zweifelsohne ein Männerbuch, das aber nicht vormacht, etwas anderes zu sein, und eins, bei dem frau sich denkt: »Komm, eins trinken wir noch.« MARTINA LISA ▶ Jaoslav Rudiš, Nicolas Mahle: Nachtestalten. München: Luchtehand . S., »Darauf pinkeln die Eulen.« : Selbstespäch mit einem Wahnsinnien In »Stane Than Kindness« wid Nick Caves Leben zu Schau estellt V ielleicht ist Nick Cave Go . Denn es gebe keinen Go ohne Menschen, schreibt die Schriftstellerin Darcey Steinke in ihrem Essay zur Ausstellung »Stranger Than Kindness«, die mit vielen kleinen Einzelstücken einen Blick in das Leben des Musikers, Schriftstellers und Künstlers Nick Cave wirft. Und da sie wegen der Pandemie kaum jemand sehen konnte, gibt es nun ein prachtvolles Buch dazu – mit Abbildungen beispielsweise seiner Schreib- maschine oder darauf abgetippter Songtexte. Dabei ist über sein Leben und Schaffen schon viel gesagt worden, auch von ihm selbst, der in den letzten Jahren und nach dem Tod seines Sohnes ausgiebig mit seinen Fans kommuni- ziert hat – auf einer eigenen Website oder auf persönlichen Konzerten. Die menschliche Vorstellung erschafft Go , schreibt Steinke weiter unter dem Titel »Go ist anwesend«, dem einzigen längeren Text im Buch. Ihr geht es um tief theologische Fragen, die neben Elvis, William Faulkner und Bob Dylan natürlich auch Cave selbst beantwortet: »Ich habe stets eine sehr motivierende Energie in dem Gedanken gefunden, dass ich mein Le- ben damit verbringe, mich nach etwas zu seh- nen, nennen wir es Go , das aller Wahrschein- lichkeit nicht existiert … Meine Songs sind Gespräche mit dem Gö lichen, die letztlich nichts anderes sind als ein Wahnsinniger, der mit sich selbst spricht.« Den Eindruck, dass Cave ein bisschen wahnsinnig ist, hinterlässt das Buch durchaus – vor allem seine Notizbü- cher, in die er Heiligenbilder von Flohmärkten klebte und nackte Frauen reinkritzelte, wie man auf vielen Seiten sehen kann. Trotz einiger lustiger Anekdoten ist dieses Buch wohl nur für Nick-Cave-Jünger interessant, die sich gerne Kunstbücher ins Regal stellen. Doch da- von gibt es viele. JULIANE STREICH ▶ Nick Cave: Stane Than Kindness. Aus dem Enlischen von Chistian Lux. Köln: Kiepenheue & Witsch . ’“ S., ” 84 www.keuze-leipzi.de

| ILLUSTRATION & COMIC : Eine Oie in Schalachot De fühe Minola: Estmals escheint »Coum« auf Deutsch : Atembeaubende Achitektuen Schuiten und Peetes eweiten ih Univesum mysteiöse Stä en G ebaute Seiten: Architektur ist ein kleiner Trend in Comics. Die Kombination ist ei- gentlich naheliegend. In einem Medium, das gewöhnlich fantastische Themen verhandelt, kann man doch auch mit fantastischen Bauten herumexperimentieren. Oder Fluchten und Perspektiven studieren, wie es in »Der Magnet« zuletzt geschehen ist. Und das wurde ja auch gemacht – man denke nur an Moebius’ Meis- terwerke. Ein Duo steht seit Langem für die wunderbare Vermählung von Comic und Archi- tektur: Schuiten und Peeters. Beide legen nun einen weiteren Baustein ihres Universums der »Geheimnisvollen Städte« vor. »Der Archivar« geht diesem sozusagen auf den Grund. Eher skeptisch durchsucht der Forschungsbeauftragte im Zentralinstitut der Archive, Abteilung Mythen und Sagen, ein Konvolut angeblicher Mysterien. Es soll seinen Bericht über den Aberglauben von wundersa- men Stä en untermauern. Bis er nicht mehr sicher ist, ob er es mit Legenden zu tun hat. Benoît Peeters tobt sich aus beim Texten über die Geheimnisse. Er legt Spuren wie die merkwürdige Wiederkehr einer Gi erstruktur und leitet den Archivar zu wilden Spekulatio- nen an. François Schuiten – von Hause aus Ar- chitekt – liefert großartige Bilder. Mal stellt er Architektur in einer epischen Totalen dar, dann aus einem Winkel in Froschperspektive. Vieles ist eine Mischung aus Jugendstil und Brutalismus, etwa wenn Schuiten eine mond- süchtige Frau im legendären Brüsel vor Hoch- hausstufentürmen zeigt. Erinnerungen an Art-Nouveau-Markthallen oder die Victoria- Gewächshäuser im Botanischen Garten kom- men auf, wenn Innen- und Außensichten der Stadt Calvani abgebildet werden. Das ist ein- fach atemberaubend, und man träumt sich in diese famosen Fiktionen hinein – und weg. Oder anders: Von diesem Album muss man einfach hin und weg sein. TOBIAS PRÜWER ▶ Fançois Schuiten u. Benoît Peetes: De Achiva. Hambu: Scheibe & Lese . —˜ S., ,™ »Eine große Zahl an Menschen, die es zur Verwirklichung der Geheimnisvollen Städte bräuchte, hätte sich somit widerspruchslos einem strikten, »Lieber im Stehen nicht können als liegend dringend müssen.« : Kuze Lache »Pause ohne Ende« von Ma hias Hachen und Mischa Hedine ist unmäßi unlusti D as muss man auch erst mal schaffen: Auf über 300 Seiten Cartoons zu versammeln, von denen wirklich nur einer supergut ist. Mit »Pause ohne Ende« haben Ma hias Hachen und Mischa Hedinger genau das erreicht. Seit 2009 veröffentlicht das Schweizer Künstlerduo seine Witzbilder in den sozialen Netzwerken. Das brachte ihm offenbar so viel Zuspruch ein, dass sie es wagten, die Karikaturen auch als Buchform zu veröffentlichen – und mit der Edition Moderne haben sie einen hervorragen- den Verlag gefunden. Allein, das macht den Inhalt nicht besser. Denn auch wenn das Buch mit einem Sach- wort-Index (!) zum Blä ern anregen will, man verliert alsbald die Lust. Man ist manchmal versucht zu schmunzeln, mehr regt sich dabei nicht, wenn ein Stier Red Bull trinkt, eine Lei- ter ihr Leid klagt und sich ein Mann über kon- kave Brüste freut. Die Zeichnungen ähneln denen von Ra elschneck und OL. Sie sind hingekritzelt, ohne Kunst sein zu wollen, wie man das von manchen Hochschul-Comics kennt. Aber bei Weitem nicht so hintersinnig und/oder tiefgründig. Auch zu purer Albern- heit taugen sie nicht, dazu sind sie zu halbher- zig hingeworfen. Und entbehren auch der ur- komischen Spontanität, weil sie von gewolltem Wortwitz umrahmt, ja: zugepflastert werden. Also: Bleibt nur das herzhafte Lachen über diesen einen wirklich guten Witz. Leider befin- det der sich ziemlich am Anfang des Buches. TOBIAS PRÜWER ▶ Ma hias Hachen/Mischa Hedine: Pause ohne Ende. Züich: Edition Modene . S., E s ist eine Welt, in der keine Gefangenen gemacht werden. Zumindest seit sich der Barbarenstamm der Mabden entschlossen hat, alles niederzubrennen. Corum, der schar- lachrote Prinz, wird hineingezogen in die Bluthändel. Eigentlich ist er ein feinsinniger Denker, doch als seine ganze Familie und der Hofstaat vernichtet werden, lernt er binnen Minuten alles, was er braucht, um den Fein- den zu widerstehen: trauern, hassen, kämp- fen, rächen, gnadenlos sein. Das epische End- zeitschlachten in einer Welt vor oder nach unserer Apokalypse beginnt, als Corum die Blutorgie en¡ acht. »Corum« beruht auf den Fantasy-Romanen von Michael Moorcock aus den Siebzigern. Mike Baron (»Nexus«, »The Punisher«) hat die Story für den Comic adaptiert, der 1987 er- schien. Herausgekommen ist eine flo e Schwert-und-Magie-Erzählung, die sich mit Handlung nicht allzu lange aufhält. Wenn nicht gerade gekämpft wird, wird geliebt oder ein Zaubertrick ausgeführt. Das liest sich höchst kurzweilig. Der Hammer aber ist der Name des Zeich- ners: Umgesetzt hat die Szenen Mike Mignola, der später mit seinem »Hellboy« die Fanher- zen im Sturm erobern sollte. Hier sein grafi- sches Frühwerk zu studieren, ist schon sehr reizvoll. Sein Stil ist noch nicht vollständig ausgeprägt, aber schon erkennbar. Er zeichnet bis ins Detail, verfügt aber auch über die Kunst des Weg- oder Auslassens. So sind die Züge in Corums Gesicht mal klar erkennbar, mal kann man sie nur erahnen oder muss sie selbst inter- pretieren. Man sieht Anleihen an alte Helden wie Hal Forster und Einflüsse aus dem pulpi- gen Horrorgenre. Wicked! TOBIAS PRÜWER »Wir arbeiten uns von einem Auge runter und dann wieder hoch.« ▶ Michael Moocock, Mike Baon u. Mike Minola: Coum. Band : De schalachote Pinz. Ludwisbu: Coss Cult . S., Œ detaillierten Plan unterwerfen müssen.« 86 www.keuze-leipzi.de

| KINDER : Vien und Bakteien Zwei Kindebüche können helfen, so etwas Komplizietes wie Coona alteseecht zu ekläen »Die spannende Welt der Viren und Bakterien« ist ein Füllhorn an wissenschaftlichen Fakten, »Wie krank ist das denn?!« legt den Fokus stärker auf das Erzählen « demie wurde. Kurzerhand setzte sie die Virus- infektion auf die Liste der verschiedenen Leiden, denen sie sich in ihrem Buch widmet und die von der Pest über die Cholera bis hin zu Fußpilz reichen. Dabei geht sie neben Symptomen und Verlauf der Krankheit auch auf deren jeweilige Geschichte ein. So kann man erfahren, wie es James Cook gelang, seine Mannschaft vor Skorbut zu bewahren oder welche Rolle Robert Koch bei der Entdeckung von Antibiotika spielte. Als Begründer der Mikrobiologie und erbit- terte Feinde nehmen der Deutsche Robert Koch und der Franzose Louis Pasteur sowohl bei Brensing und Linke als auch bei Müller einen wichtigen Platz ein. Ausgehend von ihren Forschungen werden etwa die Unterschiede zwischen Viren und Bakterien erklärt. Oder auch, warum Impfungen manchmal notwen- dig und insgesamt eine gute Sache sind. Dabei legt Müller ihren Fokus stärker auf das Erzählen. Mit ihrem Ton versucht sie, den jungen Lesern möglichst nahezukommen – Schimpfworte und Witze inklusive. De la Pêches Illustrationen im Comic-Grusellook werden dem Ansatz eines möglichst niedrig- schwelligen Sachbuchs auch auf Bildebene gerecht. Kinderbücher reagieren auf die Welt. Das be- weisen »Die spannende Welt der Viren und Bakterien« und »Wie krank ist das denn?!« auf ihre jeweils eigene Weise. Glücklich, wer da jung ist und aus einer Vielfalt von Angeboten das wählen kann, welches seinen Interessen und Fähigkeiten am besten gerecht wird. Eines scheint sicher: Auch während Corona können Eltern sich auf die Unterstützung von Kinder- buchautoren und -illustratorin- nen verlassen. JOSEF BRAUN ▶ Bite Mülle (Text)/Yannick de la Pêche (Illustation): Wie kank ist das denn?! Guselie Kankheiten von fühe und heute. Leipzi: Kle„ …†…‡. ‡ˆ‰ S., ‡Œ Ž, ab ’ J. ▶ Kasten Bensin, Katin Linke: Die spannende Welt de Vien und Bakteien. spannende Welt de Vien und Bakteien. Bindlach: Loewe …†…‡. ‡—… S., ‡‰,—Œ Ž, ab — J. Bindlach: Loewe …†…‡. ‡—… S., ‡‰,—Œ Ž, ab — J. K inder haben viele Fragen, mit denen sie sich gerne an ihre Eltern oder die Men- schen um sich herum wenden. Mal sind diese Fragen praktischer Natur, dann wieder von philosophischem Ausmaß. Doch wie erklärt man als Erwachsener Dinge, die man selbst kaum versteht? Oder bei denen man nicht weiß, wie man sie altersgemäß verpacken soll? Einen Ausweg für dieses Problem bieten Kinderbücher: Gerade in den letzten Jahren hat sich der Kinderbuchmarkt den Erforder- nissen unserer schnelllebigen und deba„ en- intensiven Zeit angepasst. Neuerscheinungen wie die Reihe »Li„ le People« haben den Wunsch nach mehr Diversität in der Ge- schichte aufgegriffen, andere um mehr Solida- rität mit Gef lüchteten geworben (»Eine Wiese für alle«) oder den Umweltschutz zum Thema gemacht (»Ginting und Ganteng«). Zwei Bücher aus diesem Frühjahr widmen sich nun auf unterschiedliche Weise der Corona-Pandemie. Das eine heißt »Die span- nende Welt der Viren und Bakterien« und wurde von dem Ehepaar Karsten Brensing und Katrin Linke verfasst, beide sind Mikrobiolo- gen und haben selbst Kinder. Für ihr Buchpro- jekt haben sie ihr Wissen über Corona zusam- mengetragen. Das andere ist im Kle„ -Verlag erschienen und trägt den Titel »Wie krank ist das denn?!«. Geschrieben hat es die Hambur- ger Schriftstellerin und Kolumnistin Birte Müller, die dazugehörigen Bilder stammen von Yannick de la Pêche. »Die spannende Welt der Viren und Bakte- rien« ist ein Füllhorn an wissenschaftlichen Fakten. Beim Loewe-Verlag hat man sich da- rum bemüht, die wissenschaftliche Ausrich- tung mit möglichst vielen Zeichnungen von le- benden Zellen, Forschern im Ki„ el und Fotos zu versüßen. Das Ergebnis erinnert an ein an- sprechend gestaltetes Lehrbuch. Seinen Autoren merkt man die Leidenschaft für ihre Disziplin deutlich an: Da werden Illustratio- nen schon mal mit dem Hinweis versehen, dass die abgebildeten Bakterien in Wirklich- keit ganz anders aussehen oder im Nachwort erklärt, wieso es kein vollständiges Quellenver- zeichnis gibt. Bei so viel Gründ- lichkeit gerät der Ton mitunter etwas trocken. Insgesamt lohnt sich das Dranbleiben jedoch. Denn lernen lässt sich hier eine Menge über die Millionen winzi- ger Wesen, die in unserer Natur für Chaos und Ordnung zugleich sorgen. Weniger theoretisch ist der An- satz, den Birte Müller gewählt hat: Anders als ihre Kollegen ist die Autorin keine Medizine- rin. Sie recherchierte gerade zu verschiedenen »gruseligen Krankheiten«, als Corona zur Pan- 88 www.keuze-leipzi.de

| KINDER »Helene aber winkte zum Abschied und stieg den Berg hinauf.« : Den eienen We ehen Katzenmädchen Helene velässt in »Ohne mich!« ihe Familie Was tun, wenn man nicht zu seiner Familie passt? Wenn zwar die Mu er Humor hat und der kleine Bruder Geduld, der Vater aber ständig herumschreit? Helene ist ein ne es, ruhiges Katzenmäd- chen mit Talent zum Trompetespielen. Doch die Wutanfälle des Vaters verstören sie zuneh- mend. Egal was er sagt, es bricht immer brül- lend laut aus ihm heraus. Die Mu er erklärt Helene, dass der Vater ein Krakeeler ist, dass seine Verwandtschaft schon seit Generationen aus Krakeelern besteht. Auch aus Helene kann eine Krakeelerin werden, wenn sie das möchte. Helene denkt einen Tag und eine Nacht lang darüber nach. Am nächsten Morgen packt sie ihre Sachen und verabschiedet sich. Die Geschichte vom mutigen Mädchen, das die dysfunktionale Familie verlässt, um seinen eigenen Weg zu gehen, erschien bereits 2010 als »Der Krakeeler« bei Beltz & Gelberg. Nun hat der Leipziger Kle -Kinderbuch-Verlag das Buch mit dem selbstermächtigenden Titel »Ohne mich!« neu herausgebracht. Die Katzengestalten sind ausdrucksstark und individuell gezeichnet, ihre Welt – die der menschlichen gleicht – ist mit liebevollen De- tails ausgesta et. Mit Helene können sich die kleinen Betrachter von der ersten Seite an iden- tifizieren, während der aggressive Vater ein- schüchtert. Man versteht sofort, warum Helene nur unter Preisgabe ihrer Persönlichkeit bei ihm bleiben könnte. Eindrücklich vermi elt das Buch, dass sich das eigene Wesen erst in einer angs– reien Umgebung öffnen kann. Das tut es mit einer ruhigen, einfach erzählten Geschichte und harmonischen Bildern. Diese werden nur dann durch eine brutal wirkende Schrift aufgebro- chen, wenn der Vater tobt. Doch der behält in Helenes Welt nicht die Oberhand. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Moni Pot (Text)/Philip Waechte (Illustation): Ohne mich! Übeabeitete Neuausabe. Leipzi: Kle€ Kindebuch ƒ„ƒ…. †ƒ S., …‰ Š, ab ‰ J. »Das Reh f indet Vorlesen doof.« : Fantastisches Fest Mit »Hey, hey, hey, Taxi« eht Saša Stanišić unte die Kindebuchautoen E s gibt Schriftsteller, die sind auch Eltern. Wenn sie nach einem langen Arbeitstag ans Be ihrer Kinder treten, kann es schon mal passieren, dass sie von ihrem Nachwuchs um eine Geschichte gebeten werden. Etwa die von einem Taxi, in das man einsteigt und das einen an die unglaublichsten Orte bringt. Schön für alle anderen Kinder ist, wenn die Schriftsteller ihre Gute-Nacht-Geschichten aufschreiben. Genau das hat Saša Stanišić jetzt getan. In seinem ersten Kinderbuch versam- melt er erzählerische Miniaturen, die von Katja Spitzer mit Sinn für das Außergewöhnliche und Spaß an Farben und wilden Formen in Szene gesetzt werden. Gemeinsam stellt das Duo alles auf den Kopf, was man als Leser je über eine Taxifahrt zu wissen glaubte. Das beginnt schon beim Ge- fährt. Ein Taxi kann nämlich nicht nur ein Auto, nein, es kann auch aus Käse, eine Kut- sche oder der Hut eines Riesen sein. Der Fan- tasie sind keine Grenzen gesetzt. Und so reist der Leser mit dem Ich-Erzähler zu Drachen, begegnet auf der Elbe geschrumpften Piraten und erfährt ganz nebenbei, wieso die Hälse von Giraffen so lang sind. Weil so viel anarchi- scher Spaß hin und wieder eine Atempause er- fordert, beginnt jede Geschichte nach demsel- ben Muster und auch die Enden ähneln sich. Nach dem jeweiligen Abenteuer wünscht sich der Erzähler nämlich nur noch eines: zurück- zukehren zu seinem Kind. 2019 hat Saša Stanišić für »Herkunft« den Deutschen Buchpreis erhalten. Mit »Hey, hey, hey, Taxi!«, liebevoll herausgegeben vom Inde- pendent-Verlag Mairisch, zeigt er, dass er sich auch auf Kindergeschichten versteht. Schön ist, wie viel Raum er seinen jungen Zuhörern lässt. Sein Buch ist wie eine Truhe voller Ein- fälle und bunter Bilder, bei der man nie weiß, was alles in ihr versteckt ist. Sicher ist nur: Die Unterhaltung wird fantastisch. JOSEF BRAUN ▶ Saša Stanišić (Text)/Katja Spitze (Illustation): Hey, hey, hey, Taxi! Hambu: Maiisch ƒ„ƒ…. š› S., …œ Š, ab ‰ J. 90 90 www.keuze-leipzi.de

| KINDER : Unendliche Schecken Kisten Boie ezählt von eine Juendliebe in den letzten Taen des Zweiten Weltkies »Die Angst kann nicht alles, die Angst bleibt nicht immer der Sieger.« P enzberg, ein Städtchen in Oberbayern, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Radio verkündet die Freiheitsaktion Bayern bereits den Frieden. Gleichzeitig gibt es noch Nazis im Ort, die bereit sind, Hitlers Nerobe- fehl auszuführen, der besagt, den Alliierten nur verbrannte Asche zu hinterlassen. Genau das möchte der ehemalige Bürgermeister Hans Runner verhindern. Gemeinsam mit einer klei- nen Gruppe stoppt er die Sprengung des örtli- chen Bergwerks und übernimmt für einen kurzen Moment das Rathaus. Doch die Aktion geschieht zwei verhängnisvolle Tage zu früh; noch ehe die Amerikaner die Kleinstadt be- freien können, werden Runner und seine Mit- streiter angeklagt. Vor dem Hintergrund dieser historisch ver- bürgten Situation erzählt »Dunkelnacht« den Beginn einer Jugendliebe. Schorsch und Marie kommen sich näher, während die, die sich für einen Friedensprozess vor Ort eingesetzt ha- ben, ermordet werden – es sind sechzehn Menschen in vierundzwanzig Stunden. Acht von ihnen werden von Wehrmacht und SS er- schossen, Schorsch und Marie sehen durch einen Zufall dabei zu. Die anderen erhängt die Untergrundorganisation Werwolf Ober- bayern. Auch Maries Vater hä“ e darunter sein sollen, kann sich jedoch rechtzeitig verstecken. Schorschs Vater hingegen ist Polizist und un- terstützt die Nazis. Es fehlt nicht an Lektüre zu diesem Teil der deutschen Geschichte und dennoch packt einen auch hier wieder das Grauen, erst recht wenn man im Nachwort erfährt, dass die Verurteilungen der Täter in den Revisionen alle aufge- hoben wurden: »Sechzehn Ermordete und kein einziger Mörder« heißt es dort. Die renommierte Autorin Kirsten Boie hat ein Jugendbuch geschrieben, mit dem sie die Schrecken des Nationalsozialismus für junge Menschen greifbar macht. Sie zeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns totalitären, neo- faschistischen Ideologien entschlossen ent- gegenstellen. MYRIEL RICHTER ▶ Kisten Boie: Dunkelnacht. Hambu: Oetine . S., , ab J. : Pinzessin sucht Feundin Eiensinni: Zoan Dvenkas »Pandekaska Pampenella« P andekraska Pampernella ist elf und eine Prinzessin aus Florin, die weltberühmt ist. Krone tragen mag sie nicht – dafür jeden Tag eine neue Frisur. Auch sonst ist Pandekraska ein außergewöhnliches Mädchen: Sie wurde vom Papst getauft, bestimmte im Kleinkind- alter selbst, dass sie keine Windel mehr tra- gen werde und ihr dri“ er Satz im Alter von zwei Jahren war, dass sie einen Chronisten ha- ben möchte. Jeder Wunsch wird der jungen Prinzessin erfüllt – oder fast jeder. Denn die Prinzessin hat eine große Angst: Sie befürch- tet, niemals eine beste Freundin zu finden. Also macht sie sich gemeinsam mit ihrem Chronisten und ihrem Leibwächter auf die Suche nach einem Mädchen, das genauso besonders ist wie sie selbst. Die Geschichte und Reise von Pan- dekraska Pampernella wird aus zwei Perspektiven erzählt: einmal in den Aufzeichnungen des Chronisten und dann in den privaten Chroniken der Prinzessin. Schon im Einstieg des Romans präsentiert sich Pandekraska als echter Wirbelsturm, was sich anschließend auch in der Geschichte widerspiegelt: Ständig passiert etwas, angefangen von den vielen au- ßergewöhnlichen Dingen, die Pandekraska in den ersten Jahren ihres Lebens widerfahren, bis hin zum Abenteuer »Beste Freundin«, das sie durch die ganze Welt führt. Zoran Drven- kar gelingt in seinem Buch eine gute Mi- schung aus lustigen Stellen und ernsteren Themen, wie die Frage, was Freundschaft »Wir waren uns so ähnlich wie der Nord- dem Südpol. Auf beiden Seiten liegen Eis und Schnee, auf beiden Seiten ist es kalt und unwirtlich, aber obwohl sich die Pole vom Klima ähneln, sind sie dennoch zwanzig- tausend Kilometer voneinander enƒ ernt.« überhaupt ausmacht. Außer- dem zeigt er, was Girlpower be- deutet: Pandekraska und die Mädchen, die sie besucht, sind allesamt starke Charaktere, die für sich einstehen können und eigene Über- zeugungen haben. Dabei sind ihre jeweiligen Stärken höchst unterschiedlich. »Pandekraska Pampernella« ist ein Roman, der keinen Anlauf braucht, dafür aber Fragen weckt, wie die, was einem selbst in einer Freundschaft wichtig ist. LEA HEILMANN ▶ Zoan Dvenka: Pandekaska Pampenella. Mit Illustationen von Matin Baltscheit. Weinheim: Beltz & Gelbe . Œ S., Ž,‘ , ab J. : Vom Vesuch, sich zu beweisen Unewöhnliche Heldeneise in Onjali Q. Raúfs »Die Nachtbushelden« wichtiger ist für ihn, dass er seine Traurigkeit versteckt hält. Nur manchmal äußert sich die in Sätzen wie: »Eigentlich sagt keiner mehr ganz normal meinen Namen.« Aufgrund seines Verhaltens reagieren die Menschen in den ersten Kapiteln des Buches nur selten positiv auf Hector. Dennoch gelingt es der Autorin, die Sympathie der Leserin für ihren Protagonisten wachzuhalten, gerade auch, wenn dieser sich danebenbenimmt. Hector hat sich mit seiner Position längst ab- gefunden und ist überfordert, wenn Erwach- sene freundlich zu ihm sind. Immer wieder ver- sucht er sich zu beweisen, bis er eines Tages zu weit geht und einer seiner Streiche damit endet, dass er den Einkaufswagen des Obdachlosen Thomas im See versenkt. Im Verlauf des Buches lernt Hector, was das für den Mann bedeutet. Dabei ist er nicht allein: Ausgerechnet das Mädchen, das er am meisten zu hassen glaubt, wird zu seiner Vertrauten. Zusammen kämpfen sie dafür, dass ein hinterhältiger Plan, Obdach- lose aus der Stadt zu vertreiben, nicht aufgeht. Die Londoner Autorin Onjali Q. Raúf hat eine Menschenrechtsorganisation gegründet und engagiert sich, nicht nur durch ihre Bücher, für Menschen in Not. Mit »Die Nachtbushelden« ist ihr eine spannende Geschichte gelungen, die auch wegen der Entwicklung ihrer Figuren überzeugt. Diesem Buch kann man viele junge Lesende wünschen! MYRIEL RICHTER ▶ Onjali Q. Raúf: Die Nachtbushelden. Aus dem Enlischen von Kathaina Diestelmeie. Züich: Atium . žž S., , ab ž J. »Hercules klatschte in die Hände und sah zu Thomas und mir auf, als wären wir zwei riesige Kugeln Karamelleis.« E r möchte es allen zeigen, dieser Protago- nist, mit dem man nicht gerne zur Schule gegangen wäre. Indem er Streiche spielt und Mitschüler unterdrückt, hofft Hector, die An- erkennung seiner Freunde zu bekommen, die ihn jedoch meistens bloß auslachen. Umso 92 92 www.keuze-leipzi.de

Veanstaltunstipps V eranstaltungen, haha! Bzw. vielmehr: heul! Die treusten und fischelantesten :logbuch- Fans unter Ihnen ahnen es bereits: Eine Aus- wahl der 1.000 interessantesten (von gesamt rund 3.500) Veranstaltungen der Leipziger Buchmesse samt Leipzig-liest-Lesefest kann es dieses Jahr im :logbuch nicht geben. Das liegt zum einen daran, dass das Messe-lose »Leipzig liest extra« nur rund 300 Veranstaltungen umfassen soll, zum anderen und vor allem aber daran, dass dessen Gesamtprogramm zum Redaktionsschluss dieses Heftes noch nicht feststand – und selbst wenn, was bedeutet in diesen Tagen schon »feststehen«? Bei unseren auf den folgenden Seiten vorgestellten Tipps sind die Chancen nicht schlecht, dass sie tat- sächlich Ende Mai sta finden, im besten Falle mit Ihnen im Publikum, vielleicht aber auch nur am Monitor. Wir wissen es nicht. Aber wir halten Sie auf www.kreuzer-leipzig.de auf dem Laufenden – und die Kolleginnen und Kolle- gen von der Leipziger Messe tun das natürlich ebenfalls: www.leipziger-buchmesse.de – Im Zweifelsfalle gilt aber, was für alle Inhalte die- ses Heftes gilt: Kaufen Sie die Bücher dieses starken Frühlingsprogramms, lesen Sie – und sprechen Sie mit anderen darüber! Daniela Danz »Wildniß« Mit Gedichten aus dem Band »Wildniß«, mit denen Schriftstellerin Daniela Danz den Deut- schen Preis für Nature Writing 2019 gewann, begibt sich die Leserin nicht nur in eine wilde Landschaft, sondern vielmehr in ein wildes In- neres, geformt und eingehegt durch strenges Formbewusstsein, das von der Brache mitun- ter gesprengt und unterwandert wird – immer auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, wer Wildnis bewohnt und warum. Die 1976 in Eisenach geborene Autorin studierte Kunstge- schichte und Deutsche Literatur in Tübingen, Prag, Berlin und Halle, sie zählt zu den bedeu- tendsten Lyrikerinnen des Landes. 2021 erhält sie den ersten Günter-Kunert-Literaturpreis für Lyrik, nachdem sie im letzten Jahr mit dem Literaturpreis der A-und-A-Kulturstiftung für ihr literarisches Werk ausgezeichnet wurde. Liteatu aus Potual Der eigentliche Gastlandauftri Portugals ist auf die Buchmesse 2022 (dreimal auf Holz geklopft!) verschoben – aber ein Teil der rund 50 neuen Bücher aus dem Portugiesischen sind bereits erschienen, und einiges aus dem geplanten Programm soll doch noch in diesem Mai sta finden: www.camoesberlim.de – Der emeritierte Professor für Brasilianische und Portugiesische Kulturwissenschaft Henry Thorau stellt zum Beispiel in »Einstürzende Altbauten« sechs Theaterstücke aus dem mo- dernen Portugal vor: Almeida Faria, João Santos Lopes, Tiago Rodrigues, Cecília Ferreira, Luísa Costa Gomes und Tiago Correia widmen sich darin der Nelkenrevolution, dem Kolonia- lismus und dem Rassismus, aber auch dem Erwachsenwerden und der Einsamkeit sowie dem Tourismus und der Immobilienblase. FOTO: NILSCHRISTIAN ENGEL FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH Dei Peise Die Verleihung des Preises der Leipziger Buch- messe findet diesmal in der Kongresshalle am Zoo sta – und wird live gestreamt. Nominiert in der Kategorie Belletristik: Iris Hanika »Echos Kammern«, Judith Hermann »Daheim«, Christian Kracht »Eurotrash« (siehe S. 45), Friederike Mayröcker »da ich morgens und moosgrün« und Helga Schubert »Vom Aufste- hen: Ein Leben in Geschichten« (siehe S. 44). In der Kategorie Sachbuch/Essayistik sind nominiert: Heike Behrend »Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnogra- fischen Forschung«, Dan Diner »Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942«, Michael Hagner »Fou- caults Pendel und wir. Anlässlich einer Instal- lation von Gerhard Richter«, Christoph Möllers »Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen poli- tischen Mechanik« und Uta Ruge »Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Welt- zusammenhang«. Für die beste Übersetzung wurden auserkoren: Sonja Finck und Frank Heibert »Der große Absturz. Stories aus Kit- chike« (von Louis-Karl Picard-Sioui), Hinrich Schmidt-Henkel »Die Vögel« (von Tarjei Vesaas, siehe Herbst-:logbuch 2020), Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren »USA-Trilogie. Der 42. Breitengrad / 1919 / Das große Geld« (von John Dos Passos), Timea Tankó »Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus« (von Miklós Szentkuthy) und Rosmarie Wald- rop »Pippins Tochters Taschentuch« (von Ann Co en). ▶ www.peis-de-leipzie-buchmesse.de 94 www.keuze-leipzi.de

| VERANSTALTUNGSTIPPS FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH Institutsposa Weil der traditionelle Leseabend mit Alumni des Deutschen Literaturinstituts 2020 ausfallen musste, gibt es diesmal – in Kooperation mit dem Sächsischen Literaturrat – gleich zwei Abende mit Romanen von ehemaligen und ak- tuellen DLL-Studierenden (Do, 27. u. Fr, 28.5., jeweils ab 19 Uhr). Mit insgesamt 18 Lesenden geht es diesmal aus dem Saal in den Garten an der Wächterstraße – u. a. mit Lorenz Just »Am Rand der Dächer«, Kaśka Bryla »Roter Affe« (siehe Herbst-:logbuch 2020), Jonathan Böhm »Wir allein unter Bäumen« (siehe S. 57), Daniel Mellem »Die Erfindung des Countdowns« (siehe kreuzer 01/2021), Stephan Roiss »Tricera- tops« (siehe Herbst-:logbuch 2020) und Judith Keller »Oder?«. ▶ www.deutsches-liteatuinstitut.de Zwischen Pieße und Bebop Der große – ja: der große – Fritz Rudolf Fries, dessen »Weg nach Oobliadooh« in jedes gut sortierte Bücherregal gehört, lebte von 1942 bis 1960 im Leipziger Westen. Seit ziemlich genau drei Jahren setzen sich die Enthusiasten der Leipziger Fritz-Rudolf-Fries-Gesellschaft dafür ein, den »anspielungsfreudigen und gewitzten, herausfordernden und herausragenden Autor« zu ehren. Nun laden sie gemeinsam mit der Buchhandlung Seitenblick und dem Wallstein- Verlag zum Spaziergang durch Fries’ Kiez (Sa, 29.5., 15 Uhr, Treffpunkt: Straßenbahnhalte- stelle Diakonissenhaus). Mit Stimmen und Klängen von Verena Noll, Franz Schwarznau und Ansgar Weber. ▶ www.fies-esellschaŽ.de Bénédicte Savoy »Afikas Kampf um seine Kunst« Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat sich mit ihren wertvollen wissenschaftlichen Bei- trägen als wichtige Stimme in der Deba¡e um afrikanische Kunst in europäischen Museen etabliert. In »Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage« schreibt die Professorin für Kunstgeschichte der Moderne (in Berlin) und für Kulturge- schichte des europäischen Kunsterbes des 18. bis 20. Jahrhunderts (in Paris) über die un- zähligen Versuche und Deba¡en zur Restitu- ierung afrikanischen Kulturgutes. Die umfang- reiche Studie ist informativ und lebendig geschrieben und wartet mit einem Bildteil, einem sehr umfangreichen Quellen- und Lite- raturverzeichnis sowie einer Zei¡afel auf. FOTO: DAVID AUSSERHOFER Anja Kampmann »de hund ist immer huni« Die 1983 in Hamburg geborene und in Lüne- burg aufgewachsene Anja Kampmann legt mit »der hund ist immer hungrig« in diesem Früh- jahr ihr zweites Lyrikalbum vor. In Kamp- manns Gedichten scheint diese Herkunft, das Bäuerliche der Umgebung, die Provinz, die große Stadt Hamburg, die See, immer wieder auf. Kampmann, die unter anderem am Deut- schen Literaturinstitut in Leipzig studierte, schreibt nicht formstreng, aber sehr musika- lisch. Von der Natur und deren Zerstörung, hin zum Klonen von Lebewesen – seit 2018 von Leipzig aus nimmt uns die Autorin mit auf ihre poetischen Reisen um die halbe Welt. Für ihre Bücher erhielt Kampmann zuletzt zahlrei- che Auszeichnungen (Rezension auf S.61). FOTO: RADMILA VANKOSKA Common Gound Unter diesem programmatischen Titel präsen- tieren die Leipziger Buchmesse und das Über- setzungsnetzwerk Traduki seit 2020 gemein- sam Literatur aus Südosteuropa, genauer: aus den Ländern des früheren Jugoslawiens sowie aus Albanien, Bulgarien und Rumänien. Durch Bücher, Übersetzungen und zahlreiche andere Literaturprojekte sollen damit der Südosten Europas mit dem deutschsprachigen Raum sowie auch die südosteuropäischen Nachbarn untereinander verbunden werden. Diesmal u. a. mit Lana Bastašić (Foto; Rezension auf S. 54), Karl Schlögel, Swetlana Alexijewitsch, Slavenka Drakulić, Volha Hapeyeva, Maša Kolanović und Wladimir Kaminer. ▶ www.taduki.eu/common-ound FOTO: HEIKE STEINWEG / SUHRKAMP VERLAG Chistoph Hein »Guldenbe« In seinem neuen Roman »Guldenberg« erweist Christoph Hein sich wieder als genauer Beob- achter seiner Zeitgenossen: Als ein Dorf und seine Gemeinschaft ihr Seglerheim einer klei- nen Gruppe minderjähriger Geflüchteter zur Verfügung stellen sollen, steht ihre Welt Kopf. Die Situation eskaliert, und Hein sorgt dafür, dass die Frage nach dem Warum viele Antwor- ten findet. »Meisterhaft ist hierbei die Sensibili- tät und Nuanciertheit, mit der Hein verschie- dene Milieus und ihre Meinungsspektren beschreibt«, so unser Rezensent auf S. 46. ▶ »Leipzi liest«-Leseabend am Sa, .€. FOTO: JULIANE HENRICH in de Konesshalle am Zoo. 96 www.keuze-leipzi.de

| LETZTE SEITE F O T O : I E L S A M E R N O V A Z Q U E Z I : Fiedhof de Lesebändchen Er hat es getan! Wie konnte ich seine Andeutungen nur abtun! So werden die Untätigen zu Tätern. Doch breche ich mein Schweigen. Als :logbuch-Redaktör dokumentiere ich hier den Fall SVEN CREFELD. Sein Geständnis diene zur Warnung: Lasst den Mitmenschen nicht allein vor seinem Bücherregal! M eine Arbeit ist beendet. Ich habe die Ereignisse der Nacht nie- dergeschrieben. Nichts übergangen, nichts unterdrückt – wozu auch? Ich habe keinen Anlass, irgendetwas zu verheimlichen. Nur wenige Personen waren in mein Vorhaben eingeweiht. Ich wusste, dass ich auf Entsetzen, ja Abscheu stoßen würde. Lass ab, tu es nicht, bist du verrückt, hörte ich von Freund und Frau. Aber ich war entschlossen, die Tat – wahrlich, eine Mordtat! – nicht mehr aufzu- schieben. Allzu lang ha…e ich den schäbigen Anblick geduldet. Meine Opfer waren ungewöhnlich dünn. Wie die langen Schals an den mageren Körpern hingen, machte mich aufs Neue rasend. Von Kopf bis Fuß die vulgäre Viskose, einfach erbärmlich. Das wurde mir zu bunt! Zuerst lieferte ich den roten Schal ans Messer. Ein schneller Schni…, kaum Widerstand. Dann sein weißer Bruder, der Unschuld heuchelte – ratsch und adios. Zuletzt machte ich kurzen Prozess mit der schwarzen Bestie. Die war von allen der größte Irrtum. Nicht meiner. Deren. Am Tag danach bin ich ohne Reue. Nun wird Gericht über mich ge- sessen. Ich habe ein Sakrileg begangen, und der bibliophile Mob wird wohl den Daumen senken. Ich gestehe, Bücher verstümmelt zu haben. Vor mir liegen drei abgetrennte Lesebändchen: rot, weiß und schwarz, zwischen 25 und 30 Zentimeter lang. Die Tatwaffe war meine Nagel- schere. Ich würde es wieder tun. Sprechen wir über meine psychische Disposition. Was mich so be- drängt und verstört, ist die Häufung der Lesebänder (auch »Einmerk- bänder« genannt) in hiesigen Büchern. Man sieht die fusseligen Kra- wa…en schon an schmalsten Romanen. Das soll »hochwertige Aussta…ung« suggerieren. Dabei gibt es das Material für wenige Cent. Unpraktisch sind die Dinger, immer im Weg. Beim Lesen müssen sie aus dem Buch raus. Nach dem Lesen ins Buch rein. Dann wird das Knäuel ins Papier gestopft oder die tumben Schwänzchen ringeln sich aus dem Ober- respektive Unterschni…. Sie warten. Sie sind so nichtssagend. Form folgt nicht Funktion. Mir will zudem scheinen, dass das Bändchen mein Stehvermögen als Leser in Zweifel zieht. Als würde ich die Lektüre jeden Moment unterbrechen! Und falls doch: Als sollte mir en¢allen sein, wo ich ges- tern »war«! Und falls doch: Als hielte ich nicht geschmackvolle Ein- merkerl bereit, die den Job diskret erledigen! Nämlich mobile Motiv- kärtchen Marke Eigenbau. Bei Büchern unter 150 Seiten ist ein Leseband absolut sinnlos. Sol- che Werke zieht der heavy user ohne Pause durch. Wer braucht dann die schlaffe Fahne? Damit komme ich auf meine drei Opfer zurück. Nr. 1 ha…e 96 Seiten, Nr. 2 sogar nur 76. Lächerlich.Die schwarze Nr. 3 war mit 126 Seiten der Begnadigung nahe, aber die Farbe war derart un- passend, dass es dem Buch – und mir – jetzt besser geht. Ich frage mich trotzdem, woher der Hass kommt. Ich besprach das Thema mit meiner Therapeutin. Wir sind tief in meine Kindheit ge- stiegen. Die Gesangbücher der Evangelen ha…en mehrere Bändel, mit denen die angesagten Lieder markiert wurden. Erstes Trauma. Im Kunstunterricht nervte das Makramee-Knüpfen; Aktivfaden und Passivfaden, nichts für zwei linke Hände, auch schrecklich. Neuer- dings Trumps obszöne rote Binder bis zum Hosenlatz – und da soll ich Lesebändchen mögen? Doch die schwerste Verletzung empfing ich von dem geliebten Hel- denstadtmagazin. Ich veröffentlichte vor vielen Monden das Büchlein »Könige im Bauernland«, 88 Seiten dünn, der Verlag spendierte ein Lesebändchen. Für die weiße Liane im Speziellen (und das Buch ins- gesamt) geißelte und duzte mich Rezensent Olaf Schmidt. »Mein« Lesebändchen büßte es. Seitdem arbeite ich an der Affektregulierung. Ich gebe zu, dass edelste Klassiker oder tausendseitige Biografien sogar zwei Lesebän- der haben dürfen. Auch Meisterwerke von Chandler, Proust und Olaf Schmidt können den Fransenschmuck tragen. Die werden nicht angetastet. Heute eröffne ich in einer Holzschale den würdigen Friedhof der Lesebändchen. Für jene, die ich guillotiniert habe, und alle, die ge- nauso frech daherkommen werden. Übrigens sind mobile (lose) Lese- bändchen durchaus nützlich. Befreit von ihrer Fixierung, wandern sie von Buch zu Buch, nachhaltig und unauffällig. Und jetzt, werte Geschworene, sprecht im Namen der Buchkultur das Urteil über meinen Frevel. Oh je! Dem Wahnsinn anheimgefallen und bald schon weggesperrt! – Die Geschworenen sind zu einem Urteil gekommen. Jetzt die Richterin: »Erheben Sie si – « Sie hustet. Krächzt. Trinkt einen Schluck Wasser. Doch es nützt nichts: Ihre Stimme ist weg. Es geht nicht anders. Sie überreicht dem Angeklagten das ausformulierte Urteil. 28 Seiten ist es lang, gebunden in schwarzes Leder, aus dem unten ein rotes Bändchen rausgrinst. 98 www.keuze-leipzi.de

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