i i . e d z p e l e z u e k ! a d a n a K s u a s p p i T r e h c ü B n e n o i s n e z e R keuze-Sondeheft zum Büchehebst 2021 Zeit »Zu j e d e r u n d überall« → Interview: Rocko Schamoni

EDITORIAL | I E G E Z N A »Als ich vor Jahren in einer Buchhandlung zum ersten Mal ein Buch der Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in die Hand nahm, blieb ich an Ort und Stelle stehen, bis ich es beinah ausgelesen hatte.« (Martina Lisa, S. 29) Liebe Leserinnen, liebe Leser, auf gehts in die zweite Runde! Welche zweite Runde, wollen Sie wissen? Na, unser :logbuch erscheint in diesem Oktober zum zweiten Mal auch anlässlich der Buchmesse in Frankfurt, und das gleich in drei Städten! Leipzig, Frankfurt und Dresden. Und im Vergleich zu unserer schlanken Debüt-Ausgabe im letzten Jahr ist es diesmal ein ganz schöner Brummer geworden. Jederzeit und überall, so haben wir unser Heft überschrieben, denn Lesen, unser Beruf, Ihre Leidenschaft , das kann man eben immer machen. Ein kleines Buch passt in jede Jackentasche. Und man munkelt, dass es sogar Leute gibt, die ihre Lek- türe einfach in der Hand herumtragen, wenn sie nirgendwo Platz fi ndet. Getreu dem Motto: Ohne Buch, ohne mich! Wir lieben unsere Arbeit, das Bücherlesen und das Davon-Erzählen. Aber wie jeder Job kann auch das manchmal in Stress ausarten. Der gipfelte am 26.8. um 13.22 Uhr in einer Botschaft vom, so schien es, Uni- versum höchstselbst, als der Mailserver von kreuzer-Literaturchefin Linn ihr mitt eilte, das Maximum an E-Mails sei nun verschickt. Zwangspause zwar, aber keine unwillkommene. Und das Ergebnis der ganzen Arbeit? 22.132 gelesene Seiten, 98 geschriebene Rezensionen, eine musikalisch-literarische Jubiläumsstory zu 20 Jahren Herr Lehmann von Juliane Streich und unserem :logbuch-Redakteur Benjamin Heine — liebe Grüße in die Elternzeit! –, ein riesengroßes Rocko-Schamoni-Inter- view, Kanada-Tipps aus der kreuzer-Redaktion und auf der allerletzten Seite erzählt Autorin Rebecca Maria Salentin, wo sie am liebsten Kartof- feln mit Kräuterquark isst. Sehr gefreut haben wir uns auch über un- sere Zusammenarbeit mit Literaturredakteur Christoph Schröder vom Journal Frankfurt. Für uns ist nach dem Heft vor dem Heft, denn, Sie ahnen es: Lesen geht immer. Genießen Sie derweil die Buchmesse oder nehmen Sie einfach ein Buch mit, wohin auch immer Sie unterwegs sind. Viel Spaß beim Lesen wünschen Josef Braun und Linn Penelope Micklitz 632 S. | Geb. | € 26,– | ISBN 978-3-406-77451-5 «Messerscharf formuliert und äußerst sensibel beobachtet ist dieses tragisch-komische, aber pralle Panorama unserer Lebensentwürfe.» Eckart Erdmann, Rheinische Post 202 S. | Geb. | € 22,– | ISBN 978-3-406-77429-4 «Schmitter hat eine ausgefeilte Sprache für Gefühle und den menschlichen Drang, sie zu sortieren.» Marie Schoeß, NDR Kultur www.kreuzer-leipzig.de 3

INHALT | I L L U S T R A T O N I : K A T J A S P T Z E R I F O T O : G Ü L T E R E R G N I Whitehead, Yaa Gyasi, Nella Larsen, Edmund de Waal, Cécile Wajsbrot, Louise Erdrich, Alexander Wollf, Barbi Marković, Zofi a Nałkowska, Miljenko Jergović, Nicolaj Gogol, Shumona Sinha, Angelika Klüssendorf, Andreas Pavlic, Kent Haruf, Lisa Kreißler, Marieke Lucas Rijneveld, Ferdinand Schmalz, Marcus Mötz, Johanna Adorján, Georg Klein, Emma Cline, Martina Heft er, Lutz Seiler, Olaf Weber, Kersty und Sandra Grether, John Muir 42 SACHBUCH Adam Nicolson, Hans Ulrich Gumbrecht, Thomas Madreiter, Nicole Mayer-Ahuja/Oliver Nachtwey, Hubert Dreyfus/Charles Taylor, Axel Honneth/ Jacques Rancière, Daniel Schreiber, Bett ina Fellmann, Andreas Puff -Trojan, Anne Hahn/Frank Willmann (Hg.), Bernd-M. Beyer/Dietrich Schulze- Marmeling, Jutt a Fleckenstein/Rachel Salamander (Hg.), Frank Wilczek, Ilko- Sascha Kowalczuk et al., Peter Longerich, Jürgen Pett inger, Ozan Zakariya Keskinkılıç, Jürgen Gott schlich/ Dilek Zaptcioglu-Gott schlich 50 KUNST Sissis (Hg.), Götz Aly, Anton Kusters, Andreas Platt haus, Claudia Titt el (Hg.), Günter Höhne, Julia Kluge, Kristina Lemke/Städel Museum Frankfurt a. M. 54 LLUSTRATON & COMC Noël Simsolo u. Dominique Hé, Fabien Grolleau/Nicolas Pitz, Jean-David Morvan/Séverine Tréfouel/Rafael Ortiz, Alan Moore/Jacen Burrows, Hannah Brinkmann, Lee Lai, Rutu Modan, Neil Gaiman/P. Craig Russell/Troy Nixey, Tony Sandoval, Jean-Denis Pendanx/ Laurent Galandon, Gipi/Luigi Critone 58 KNDER Gerda Raidt, Katja Spitzer, Miriam Zedelius, Jane Godwin/Felicita Sala, Emma Adbåge, Thomas M. Müller, Lafcadio Hearn/Anita Kreituse, Ylva Hillström/Karin Eklund, Gianni Rodari/ Francesca Ballarini, Nora Dåsnes, Margaret Atwood/Dušan Petričić, Käptn Peng/Melanie Garanin, Andrea Paluch/Annabelle von Sperber, Jane Wilsher/Louise Lockhart, Minu D. Tizabi, Meg Rosoff 66 Letzte Seite: Auf ein Wort mit Rebecca Merten Lagatz/Bénédicte Savoy/Philippa Maria Salentin Nicht immer gelingt es, die Rechteinhaber von Fotos zweifelsfrei zu ermitt eln. Berechtigte Anspruchsinhaber wenden sich bitt e an den Verlag. Titelbild: Kerstin Behrendt (Foto), Elisa Merino Vazquez (Layout) Bildredaktion: Christiane Gundlach, Tel. (0341) 2 69 80 43 Repro: Marcel Noack, Tel. (0341) 2 69 80 43 Anzeigen: Egbert Pietsch, Tel. (0341) 2 69 80 70, Mölly Follenius, Tel. (0341) 2 69 80 12, Rebecca Klausing, Tel. (0341) 2 69 80 10, Verena Noll, Tel. (0341) 2 69 80 11, Aaron Krautheim, Tel. (0341) 2 69 80 11 Vertrieb: Mike Gott fried, Tel. (0341) 2 69 80 60 Druck: www.akontext.com, Prag Adresse: kreuzer – Das Leipziger Stadtmagazin, Kreuzstr. 12, 04103 Leipzig, Tel. (0341) 2 69 80-0, Fax (0341) 2 69 80 88, www.kreuzer-leipzig.de kreuzer erscheint monatlich, Einzelpreis 3,30 €, Abo Inland 35 €. Es gelten die Geschäftsbedingungen des kreuzer. Das :logbuch-ePaper wird unterstützt von 1000°. www.1000grad.de I E G E Z N A Barbara Frandino auf der FBM 2021 „Sehr raffiniert und gut erzählt!“ WDR 4, Elke Heidenreich i t i r a n a P e v e t S : o t o F LESUNGEN Do, 15.30 Uhr Leseinsel der unabhängigen Verlage, Messegelände Do, 18.00 Uhr Sonnemann-Saal, Historisches Museum, Saalhof 1 Im Rahmen von OPEN BOOKS ____ FOLIO-STAND Halle 3.1, A 123 www.kreuzer-leipzig.de 5 Wien · Bozen www.folioverlag.com

F O T O : S T E P H A N J O C K E L : Ländliche Anti-Idylle Der in Frankfurt lebende Henning Ahrens ist Lyriker, Übersetzer und Romancier. In seinem neuen, bewegenden Roman »Mitgift« hat er die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben. D er Begriff »Mitgift« klingt nach einer anderen Zeit. Nach einer Epoche, in der die Familie der Braut etwas beisteuern musste, damit die Tochter in eine andere Familie einheiraten durfte. Das Wort hat aber auch noch eine andere Konnotation, denn oft ist das, was innerhalb einer Familie von Genera- tion zu Generation weitergegeben wird, tatsächlich giftig, toxisch, verbreitet seine Wirkung schleichend, so lange, bis es zu einer Katastrophe kommt. Beide Bedeutungen schwingen im Titel des neuen Romans von Henning Ahrens mit. »Mitgift« hat auf seine Leserinnen und Leser zwei Wirkun- gen, die gleichzeitig einsetzen: Es ist ein Roman von einer beklemmenden Atmosphäre, der zugleich in seiner Einfühlung in die Figuren etwas tief Ergrei- fendes hat. »Mitgift« ist kein Buch, das dem aktuel- len literarischen Zeitgeist entspricht. Aber es ist ein Roman von einer Qualität, wie man sie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht allzu oft erfährt. Der Schriftsteller Henning Ahrens lebt seit 2013 in Frankfurt. Er kam der Liebe wegen, lernte die Stadt aber schnell zu schätzen, auch, wie er einmal gesagt hat, aufgrund der »Fülle an Kultur, die sich auf einer verhältnismäßig kleinen Fläche www.kreuzer-leipzig.de INTERNES | findet«. Ahrens ist Lyriker, Essayist, Romancier und Übersetzer. Er hat Bücher der amerikanischen Schriftsteller Colson Whitehead und Jonathan Safran Foer ins Deutsche übertragen und außerdem Sir Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Abenteuer neu übersetzt. Als Romanautor debütierte Ahrens im Jahr 2002 mit »Lauf Jäger lauf«. Sowohl dieses Buch als auch die drei darauf folgenden Romane wa- ren mit surrealen Elementen gesprenkelt, flackerten auf mal sehr ernste, dann wieder auf vergnügliche Weise zwischen Fantastik, romantischen Motiven und Gegenwartsnähe hin und her. »Mitgift« ist anders. Aus guten Gründen hat Henning Ahrens hier einen neuen Ton angeschlagen, denn er erzählt, wie er im Nachwort schreibt, »von der Vergangenheit meiner Familie – gewissermaßen«. In diesem nachgeschobenen Wort versteckt sich die literarische Freiheit, auch über Menschen, über Vorfahren zu schreiben, die Ahrens persönlich nie kennengelernt hat. Doch die Chronik seiner Familie hat er in mehreren Alben sorgfältig dokumentiert. Nun hat er sie aufgeschrieben. Ahrens wurde 1964 in Peine in Niedersachsen geboren und wuchs auf dem Bauernhof seiner Eltern in Klein-Ilsede auf. Das wiederum ist fünf Kilometer von Peine entfernt und hat 1.920 Einwohner. Mit der stadttypischen Vorstellung von ländlicher Idylle hat die Gegend aber recht wenig zu tun: »Dort gab es seit mehr als 130 Jahren die Montanindustrie«, erzählte Henning Ahrens einmal in einem Gespräch, »wenn man auf dem Feld stand und in die Landschaft schaute, sah man rauchende Schlote.« Die Familie betrieb seit 300 Jahren Landwirtschaft, und davon erzählt »Mitgift« auf mehreren Zeitebenen. Der Roman setzt ein im Jahr 1962. Vor der Haustür von Gerda Derking steht ihr Nachbar, der Bauer Wilhelm Leeb Senior. »Wir brauchen dich«, sagt er zögerlich, und das bedeutet nichts Gutes, denn Gerda Derking ist die Totenfrau von Klein-Ilsede. Sie wird geholt, wenn jemand gestorben ist; sie fri- siert, manikürt und kleidet die Verstorbenen nach den Wünschen der Angehörigen an. Was sich nebenan ereignet hat, ist eine Familientragödie, in deren Zentrum ebenjener Wilhelm Leeb Senior und sein ältester Sohn Wilhelm stehen. Sie heißen alle Wilhelm bei den Leebs, über Generationen hinweg. Der Name ist eine der vielen Fesseln, die den Men- schen im Roman angelegt worden sind. Es gilt, das Land zu erhalten und auszubauen. Es gilt, die Traditionen und den Schein nach außen zu wahren. Eine Situation, die als ausweglos empfunden werden kann. Wilhelm Leeb Senior war und ist ein stram- mer Nazi. Ein herrschsüchtiger, harter Mann, der Mitleid nur mit sich selbst und mit seinem Schicksal als Kriegsgefangener hat, und unter dem alle zu lei- den haben – bis es zur Katastrophe kommt. »Der Suizid«, schreibt Henning Ahrens, »der den Kern des Romans bildet, ereignete sich tatsächlich, wenn auch im Jahr 1989.« Ahrens hat die Selbsttötung ins Jahr 1962 verlegt, weil er es nicht für angebracht hielt, »nahe Angehörige auftreten zu lassen«. Hen- ning Ahrens hat »Mitgift« seinem Vater Heinrich Ah- rens gewidmet. Er starb 1989. CHRISTOPH SCHRÖDER Dieser Text erschien zuerst im Journal Frankfurt. ▶ Henning Ahrens: Mitgift. Stuttgart: Klett-Cotta 2021. 346 S., 22 € NOMINIERT FÜR DEN DEUTSCHEN BUCHPREIS 2021 Gedanken- I E G E Z N A spiele Die neuen Bände sind da! Michael Köhlmeier Gedankenspiele über das Gelingen 56 Seiten 10 € Ilma Rakusa Gedankenspiele über die Eleganz 48 Seiten 10 € 7 Literaturverlag Droschl 7 www.droschl.com

wieder auf. Und insofern gibt es da schon so eine Art Verknüpfung. Allerdings ist er nicht der wichtigste Künstler der Welt für mich, sondern jemand, der in einer Schattenfuge verschwunden ist – und ich finde, ein biss- chen zu Unrecht. Ich glaube nicht, dass Heino Jaeger gern ein Star gewesen wäre oder so mega gesichtsbekannt und erfolgreich wie an- dere Künstler. Aber dass die Welt ihn so gar nicht mitbekommen und ihn so komplett ver- passt hat – oder wie Loriot gesagt hat: Wir haben ihn vielleicht nicht verdient –, das fand ich ein bisschen ungerecht. Und deswegen dachte ich, ich muss ihn mal wieder nach vorne transportieren, weil er so viele schöne Sachen gemacht hat. :logbuch: Aber ist das nicht ein Widerspruch, weil er ja eigentlich überhaupt nicht groß abgefeiert oder auch nur groß beachtet wer- den wollte? SCHAMONI: Nee, nicht so richtig. Es ist wider- sprüchlich bei ihm, dass er die ganze Zeit pro- duzierte, produzierte, produzierte, aber ei- gentlich gar nicht so richtig damit nach vorne gehen wollte, sondern er hätte, glaube ich, lieber irgendwo hinter der Wand gesessen und die ganzen Blätter nur rübergeschmissen. Er wäre lieber gern im Dunkeln geblieben. Das hat er ja auch ein bisschen so durchgezogen. Ich wage zu bezweifeln, dass er es gut gefunden hätte, dass jetzt ein Buch über ihn erscheint und er da so ein wenig mythologisiert wird. Aber ich habe versucht, mit aller gebotenen Vor- sicht und Respekt zu schreiben und ihn nicht effektheischend als Mega-Komödianten der Siebziger darzustellen, sondern eben als die Gestalt, die er gewesen ist. Vielleicht hätte ihm das getaugt. Sein bester Freund Joska Pintschovius ist glücklich mit dem Buch und freut sich darüber. »MAN SUCHT JA IMMER NACH VORLÄUFERN, ALS MUSIKER, ALS MALER, ALS KÜNSTLER.« :logbuch: Das Tragische an Heino Jaeger ist, dass er bei all seinem Talent zum Zeichnen, Malen, Leute-Nachahmen und Akustische- Szenen-Aufnehmen irgendwann ein bisschen wahnsinnig geworden ist. Ein teilweise richtig unangenehmer Typ. Wann kippt so was? SCHAMONI: Es wird immer gemutmaßt, dass ein LSD-Trip sein psychologisches Kartenhaus zum Einsturz gebracht hat. Andere sagen, dass es harter Alkohol gewesen ist. Also in dem Moment, als er auf seinen Meister getroffen ist – nämlich auf den Jägermeister bizarrerweise –, ging es mit ihm steil bergab, weil er das gar nicht verkraften konnte. Er war extrem filig- ran, sein Nervensystem war sehr dünn aufge- spannt und seine Filter waren kaum vorhan- den. Als er das mit Schnaps zugekippt und verkleistert hat, sind da irgendwie sein Geist und seine Psyche erodiert. Und dann ist er eben auf eine andere Seite rübergeswitcht und so leicht wahnsinnig geworden. Er ist dann nachts auch bei der Frau aufgetaucht, in die er sich verliebt hat, von der er dachte, dass sie TITEL | I E G E Z N A „ Ich will keine Hilfe Ich bin gern am Boden Ich ertrinke in meinem Egoismus Das ist wundervoll Was passiert in einem Ich, das keine Grenzen kennt, das der Welt gegenüber vollkommen offen ist? Die junge Frau in Null ist gewillt, bis zum Äußersten zu gehen, auf ihrer Suche nach einer eigenen Identität. Gine Cornelia Pedersens Debütroman wurde in Norwegen begeistert aufgenommen. Er ist eine lebensbejahende und poetisch-explosive Tirade darüber, verletzlich zu sein, froh, verzweifelt, grenzenlos und voller Hoffnung. Gine Cornelia Pedersen NULL Aus dem Norwegischen von Andreas Donat Hardcover, 192 Seiten ISBN 978-3-903081-90-1 € 18.00 [D], € 18.00 [A] www.kreuzer-leipzig.de 9

ich herkomme –, gibt es heutzutage gar nicht mehr, weil wir alle in der gleichen Sekunde die gleichen Informationen bekommen. Wenn wir irgendeine neue Pla e hören wollen, dann braucht es nur eine Daumenbewegung und die Pla e ist auf dem Handy. Ich finde das ja auch ganz geil. Ich freu mich ja darüber, dass ich jetzt mi lerweile auf alle Pla en von Peggy Lee zugreifen kann, die ich sonst niemals bekommen hä e, weil es so viele von ihr gibt, dass ich gar nicht alle Flohmärkte hä e ab- laufen können, um sie zu finden. Dieses etwas Zerschratete in den siebziger Jahren, die Nachkriegsgeneration, die dann zu so einer antibürgerlichen Generation wurde, in der Ökobewegte mit langen Haaren und selbstgestrickten Pullovern auf dem Land ir- gendwelche Bauernhöfe gekauft haben, wo sie dann Konzerte veranstalteten – diese Genera- tion verschwindet jetzt gerade. Und aus dieser Generation kamen diese merkwürdigen Leute, die wie Heino Jaeger weltkriegsgeschädigt waren. Das waren Leute, die ha en entweder einen Schaden, weil sie es direkt miterlebt haben oder weil ihre Eltern so kapu waren. Und aus der Melange von Weltkriegserlebnis und kapu en Eltern entstand diese selbst stark angekratzte Generation. Und diese Krat- zer waren an diesen Freaks stark spürbar. Das hat mich berührt. ICH HABE JETZT EINEN SEHR GUTEN STOFF, DER SPIELT IN DER ZUKUNFT UND DEN SCHREIB ICH VIELLEICHT DEMNCHST. :lobuch: Abe wie sieht das heute aus? Auch Heino Jaee ha e ja, wie Sie selbst scheiben, keine oße Öff entlichkeit, wa nu selten in den Medien. Sind nicht in de heutien Geneation auch noch ein paa Ve- ückte untewes? SCHAMONI: Es ist eine andere Art von Ver- rücktheit. Ich weiß gar nicht, ob man das Verrücktheit nennen kann, aber ich freue mich gerade wahnsinnig über das politische Erstar- ken von Kids und jungen Leuten, allein schon bei Fridays for Future und vielen anderen drumherum. Das ist für mich ein echter Hoff- nungsschimmer, den ich vor fünf Jahren so noch nicht erwartet habe. Jetzt kommt das. Aber das ist eine andere Generation mit ande- ren Schwerpunkten und dieses Zerschossene, das diese Nachkriegsgeneration ha e, das ha- ben die nicht. Und ich sage auch gar nicht, dass man die in den Medien mitbekommen hat. Hat man gar nicht. Die waren nicht in den Medien, die waren im Straßenbild. Ich will das auch gar nicht glorifizieren. Heute gibt es ir- gendwas anderes. :lobuch: Ist es eientlich einfache, Büche übe die Veanenheit zu scheiben als übe die Geenwat? SCHAMONI: Nö, finde ich überhaupt nicht. Ich habe jetzt einen sehr guten Stoff, der spielt in der Zukunft, und den schreib ich vielleicht demnächst. TITEL | Musiktheater · Schauspiel · Ballett · Puppentheater · Konzerte Pauschalangebot des Theaters Altenburg Gera Zwei eaterkarten für die Großen Bühnen und eine Übernachtung im Doppelzimmer eines 3- bzw. 4-Sterne-Hotels inklusive Frühstück ab 120,00 €* BUCHUNG Gera 0365 8279266 · Altenburg 03447 585177 service@theater-altenburg-gera.de * Beim Besuch von Gastspielen, Sonderveranstaltungen oder Veranstaltungen auf den kleinen Bühnen kann der Preis abweichen. www.theater-altenburg-gera.de a r e G r e t a e h T , l a a s t r e z n o K · k o t s i R y n n o R : o t o F I I I I E E E E G G G G E E E E Z Z Z Z N N N N A A A A I I E E G G E E Z Z N N A A Kulturerbe Drucktechnik Erleben druckkunst-museum.de Museum für Druckkunst Leipzig | Nonnenstraße | Leipzig Tel. + / | info@druckkunst-museum.de Mo ‚ Fr . ‚ „. | So . ‚ „. | Sa geschlossen www.keuze-leipzi.de 11

TITEL | SCHAMONI: Nein, das ist ja nicht meine Ver- antwortung. Wolli wollte das Kiez-Buch schrei- ben, nicht ich. Ich wollte nur ein Buch über Heino schreiben und hab dann zufälligerweise eins über Wolli geschrieben. Und jetzt ein dritt es Buch zu schreiben, das noch mal so komplett in diese Kiez-Welt eintaucht, da weiß ich nicht genau, ob ich das will. Weil ei- nem das immer so nachgetragen wird als Kiez-Romantik. Ich bin kein Kiez-Romantiker. Ich bin einfach jemand, der ein Buch über Leute geschrieben hat, die ihn interessieren, aber nicht wegen des Kiezes, sondern weil ich die Leute interessant fand. INTERVIEW: JULIANE STREICH SCHAMONI: Genau, das erste Buch sollte schon über Heino gehen. Aber dann hat sich Wolli in den Vordergrund gedrängelt. :logbuch: Konnte er es noch lesen? SCHAMONI: Nee, er ist kurz davor gestorben. Dabei hat er sich das immer gewünscht. Er wollte gerne das große Kiez-Buch schreiben: Tausend Seiten mit all den Informationen, die er hatt e. Er hat auch wahnsinnig viel ge- schrieben. Ich habe seinen ganzen Nachlass aus der Wohnung gerett et, als er gestorben ist. Das sollte alles entsorgt werden: kistenweise Aufzeichnungen und Tagebücher und so. Aber er hat es nicht geschafft, das quasi richtig in Form zu bringen. Insofern habe ich ein Teil da- von für ihn übernommen. :logbuch: Fühlen Sie sich als Verwalter des Erbes, der das jetzt alles aufarbeiten muss? SCHAMONI: Nee. Es gibt auch keine Erben, die traurig wären, wenn ich das nicht ma- chen würde. Wolli ist kinderlos aus der Welt gegangen. :logbuch: Aber fü r all die Leute, von denen er erzählt. Spüren Sie da eine Verantwortung? ANZEIGE Am Ende stehen wir alle vor uns selbst Paula Bloom kehrt als amerikanische Besatzungsoffizierin nach neun Jahren in ein zerstörtes Deutschland zurück. Im Berlin der Nazizeit lebte sie ein Leben, das eine Lüge war. Jetzt glaubt Paula, dass sie niemals vergeben kann. Nicht den Deutschen und nicht sich selbst. »Eine Mischung aus Fakt und Fiktion, die nur Pflüger beherrscht .« Gert Scobel Roman. Gebunden. 464 Seiten. € 24,– www.kreuzer-leipzig.de 13 Suhrkamp

Und nun, 2021, also »Glierschnier« und damit endlich der große Roman über ein Phä- nomen unserer Zeit, das Milchaufschäumen. Man vergisst es ja leicht, wenn man in einer größeren Stadt vor sich hinlebt: Der Deutsche als solcher trank – und trinkt noch heute – in den Büro- und Krankenhausfluren landauf, landab miesepetrig bis indifferent Sauerbit- teres aus der Thermoskanne, während sich andere anderswo an einer schönen Melange oder einem Cappuccino laben. Ja, laben. »Glierschnier« zeigt Westberlin 1980 an der Grenze (haha) zur Milchkaffee-Gesellschaft. Welcher Kaffee, welche Milch, wie viel Heißluft – das sind Fragen, die einen Frank Lehmann zu interessieren haben, wenn der Laden, also die Kneipe, schon tagsüber Erträge erwirt- schaften soll. Zumal, wenn die Typen von der ArschArt-Galerie gegenüber die »Intimfrisur« zu einem Wiener Kaffeehaus umfunktionie- ren wollen! Heutige Selbstverständlichkeiten wie eine Musterwohnung im Ikea werden in »Glier- schnier« zur Kunst, wobei die Kunst darin besteht, die Musterwohnung originalgetreu im 20-Quadratmeter-WG-Zimmer nachzubauen und damit in ihrer Absurdität vorzuführen, wie man sie vielleicht nur sehen kann, wenn man 1980 staunend vor ihr stand. Es wird im Buch an allen Ecken und Enden berlinert und gewienert, weil sich die ArschArt-Folkloristen plötzlich auf ihre österreichische Heimat besinnen, in der man die Tortenkunst noch zu pflegen wusste – und dereinst die »1. Oak- ringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft« gründete, die nun im Galerie-Plenum wieder- belebt und mit einer lustlosen Ernsthaftigkeit zelebriert wird, wie es sie nur in Plenen gibt. Heimweh und Identität, Freundschaft und Verrat, Liebe und Schwangerschaft – größte Themen werden hier im Kleinsten verhandelt. »Wer erzählen will, muss sich zunächst eine Welt erschaffen, eine möglichst reich aus- staffierte bis hin zu den letzten Details. … Das Problem ist, die Welt zu errichten, die Worte kommen dann fast wie von selbst«, schreibt Umberto Eco in seiner »Nachschrift zum ›Na- men der Rose‹«. Als »kosmologischen Akt« bezeichnet Eco darin den Roman – und Sven Regener hat zweifelsohne einen »Herr Lehmann«-Kosmos erschaffen, in dem ihm TITEL | »die Worte fast wie von selbst« zu kommen scheinen, jedenfalls für ein paar hundert Seiten alle vier, fünf Jahre. Groß ist dieser Kosmos nicht, ganz im Gegenteil, und die Luft ist auch nicht gut in all diesen West- berliner Kneipen, durch die Frank Lehmann, Karl Schmidt, der Fanta- Rainer und wie sie alle heißen (meistens Jürgen) da so stolpern. In der (halben) Stadt ohne Wehrpflicht tummeln sich allerhand Künstler, DIY und Punk schmirgeln an der Kunst. Das, was man einen richtigen Job nennt, hat eigentlich niemand hier, dafür werden die unrichtigen Jobs wie Kneipe wischen, Song mit Bohrmaschine aufnehmen oder ein Bild malen umso ernster genommen. Belanglos könnte man diese Bücher nennen, denn es passiert, objektiv betrachtet, nicht viel. Und wenn dann nur so nebenbei. »Herr Lehmann« ist dabei noch fast das ereignisreichste Buch, schließlich verlässt der recht antriebslose Romanheld Kreuzberg auch mal, um seine Eltern am Kudamm zu treffen, seinen besten Freund Karl ins Krankenhaus zu bringen, der durch Nicht-mehr-Schlafen seltsame Symptome aufweist, oder um die Freundin in Ostberlin zu suchen, wobei er dabei schon an den DDR-Grenzbeamten scheitert. Am Ende fällt sogar die Mauer – so beiläufig wie selten in der Literatur und von den Westberliner Prota- gonisten, die den anderen Teil der Stadt eh am liebsten ignoriert haen, nicht gerade begeistert gefeiert. Eine bemerkenswerte Ausnahme in der Reihe dieser Berliner Kneipen- bücher ist – neben dem oben bereits angerissenen Bumm-Bumm- Roadtrip »Magical Mystery« – »Neue Vahr Süd«, denn hier beschreibt Regener unterhaltsam den voller Absurditäten steckenden Alltag von Wehrdienstleistenden und bringt so Leserinnen und Zivis eine ihnen un- bekannte bis unvorstellbare Welt nahe – mit demselben Witz, wie er von einem Tag im Schwimmbad erzählt. Die Ereignislosigkeit der anderen Romane, die in »Wiener Straße« und dem in seiner Handlung direkt daran anschließenden »Glierschnit- ter« auf die Spitze getrieben wird, indem die Handelnden sich fast nur noch zwischen Café Einfall, der direkt nebenan liegenden »Intimfrisur« und der fußläufig schnell zu erreichenden ArschArt-Galerie bewegen, hat natürlich auch ihren Charme. »Das ist ein Geschwätz ohnegleichen«, sagte Reich-Ranicki über »Herr Lehmann«, aber er sagte auch: »Ich habe sehr gelacht und ich lache nur selten unter meinem Niveau.« La- chen über Geschwätz, aber mit Niveau – damit sind Regeners Erfolgs- romane (andere sagen auch Kult dazu) hinlänglich beschrieben. Stark. JULIANE STREICH UND BENJAMIN HEINE ▶ Sven Regener: Glierschnier. Berlin: Galiani . S., 29.09.21 HAMBURG, Laeiszhalle Sven Regener auf Lesetour: 06.10.21 BAMBERG, Konzert- und Kongresshalle 28.10.21 ERLANGEN, Redoutensaal 29.10.21 STUTTGART, Liederhalle 30.10.21 ERFURT, Theater 07.11.21 FRANKFURT, Union-Halle 12.11.21 MÜNCHEN, Volkstheater 19.11.21 SIEGEN, Kulturhaus Lyz 04.11.21 HANNOVER, Pavillon 11.11.21 ZÜRICH, Kaufleuten 13.11.21 WIEN, Rabenhof 20.11.21 BREMEN, Glocke ANZEIGE www.keuze-leipzi.de 15

THEES UHLMANN (Tomte) schrieb schon früh sein Tocotronic-Tourtagebuch »Wir könnten Freunde werden« (Ventil 2000), kürzlich auch einen Song über bzw. für Stephen King. Drei Solo- und fünf Tomte-Alben zum Trotz ist sein bisher größter Wurf aber zwei- felsohne der Roman »Sophia, der Tod und ich« (KiWi 2015): Der Tod klingelt beim Ich- Erzähler, eine Diskussion entsteht, man holt gemeinsam die Ex-Freundin ab, um zu Mu‚ er und Sohn zu fahren. Lustig, traurig, berührend – »Du weißt, was ich meine«. FUNNY VAN DANNEN (Lassie Singers, Funny van Dannen) erzählt schon in seinen Liedern die skurrilsten und melancholischsten Geschichten, die Mensch, Tier und Ding erleben können. Da wundert es kaum, dass es auch ein paar hinreißende Erzählbände von ihm gibt. Wir zitieren mal aus »Der Tag als Rosie kam« (Kunstmann 1997): »Willi Vanilli ha‚ e als Rüstungsexperte ange- fangen, war aus dem Marlboroabenteuer- team wegen Feigheit rausgef logen und ha‚ e dann als Geisteswissenschaftler ganz von vorne angefangen.« TIMON KARL KALEYTA (Susanne Blech) zeigt sich im ersten Kapitel seines Debütromans »Die Geschichte eines einfachen Mannes« (Piper 2021) sehr mutig: »Zu Tode betrübt und von allen Gö‚ ern verlas- sen« fährt da der ich-erzählende Abiturient am 28. September 1998 zur Schule – weil am Vor- tag, wir erinnern uns, die CDU die Bundes- tagswahl verloren hat. Muss man erst mal auf die Idee kommen, dass da noch jemand wei- terlesen könnte! HEINZ STRUNK (Studio Braun, Tiffanys) ist nicht nur der mit Abstand bedeutendste Querflötist im deutschsprachigen Underground, sondern auch der einzige. Mit »Fleisch ist mein Ge- müse« (Rowohlt 2004) hat er aber auch richtig geil abgeliefert, bescherte er uns darin zwi- schen Dorf hochzeit und Eihunger doch einen der schönsten Sätze der deutschen Literatur: »Swing time is good time and good time is be‚ er time«. Sein dieser Tage bei Rowohlt er- scheinender Roman »Es ist immer so schön mit dir« steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. TITEL | I N E S K R D S N N E D I , R E N R E W N A I I T S R H C , R E N F F U S O R A J , I S N E O D A R I , P M U T S A J L E N , S A M K E I , I T D N S N E V S , O M O R P , I H C S R U A L . W Y R N E H , I Z T E M N E T S G R Ö J : S O T O F ANZEIGE www.keuze-leipzi.de 17

MAGAZIN | 25 Jahre mandelbaum verlag I E G E Z N A DAVID A. ROBERTSON David A. Robertson gehört zur indigenen Community der Norway House Cree Nation. In seinen Jugendbüchern erkundet er das Leben zwischen der indigenen Gemeinschaft und der kanadischen Gesellschaft, zwischen Natur und Stadt. Seine Reihe »Strangers«, die im Merlin Verlag erscheint, dreht sich um ei- nen jungen Indigenen namens Cole Harper, der sich im Reservat seiner Vergangenheit stellen und gleichzeitig Heldentaten vollbringen muss. In kurzen, sorgfältig gearbeiteten Sätzen lässt Robertson Orte und Menschen lebendig wer- den und entfaltet bereits nach wenigen Seiten einen Sog, wie es nur wirklich gute Jugendbü- cher vermögen. JOSEF BRAUN RUPI KAUR Es ist ein unvergessener Moment, als ich das erste Mal ein Gedicht aus Rupi Kaurs erstem Buch »Milch und Honig« las. Tröstlich, ergrei- fend, augenöffnend. Immer wieder wird Kaur vorgeworfen, wie sie sich und ihre Gedichte in- szeniert. Dass sie und ihr Schreiben dem Lite- raturbetrieb nicht standhalten, nicht genügend Substanz und Tiefe aufweisen würden. Aber Millionen Follower auf der ganzen Welt lieben ihre Texte. Und selbst wenn es Wandtattoo- Lyrik ist – was man lesen will, darf man ja zum Glück selbst entscheiden. LINN PENELOPE MICKLITZ Jonathan Garfinkel GELOBTES HAUS Meine Reise nach Jerusalem € 22,– | 352 S. Birgit Buchinger, Renate Böhm, Ela Groszmann (Hg.) KÄMPFERINNEN € 22,– | 272 S. Georges Brassens DIE CHANSONS Französisch | Deutsch. Aus dem Französischen von Gisbert Haefs € 48,– | 640 S. 19 www.mandelbaum.de LEONARD COHEN Poet ist eine gern gebrauchte Bezeichnung für Singer-Songwriter, die irgendwie, nun ja, poe- tische Texte schreiben. Im Falle von Leonard Cohen gilt allerdings, dass er zunächst Ge- dichte und einen Roman schrieb, ehe er sich der Musik zuwandte. Im Kreis des Dichters und seines Mentors Irving Layton veröffent- lichte er mit »Let Us Compare Mythologies« seine erste Lyriksammlung und später mit »Beautiful Losers« und »Das Lieblingsspiel« auch zwei Romane. Die sind abwechslungs- reich, manchmal etwas ungestüm, auf jeden Fall experimentierfreudig in der Form. Und eine Entdeckung abseits der berühmten Songs. JOSEF BRAUN MARGARET ATWOOD Gibt es eigentlich ein Gebiet, auf dem Marga- ret Atwood noch nicht geschrieben hat? Die Grande Dame der kanadischen Literatur und gute Freundin von Alice Munro hat sich auf Twitter versucht, Kinderbücher verfasst, Ge- dichte, Erzählungen und Romane genauso wie Drehbücher. Große Fantasie zeichnet ihre Werke aus, ebenso ein Gespür für gute Plots und Schonungslosigkeit in den Beschreibungen der menschlichen Komödien und Tragödien. Sie ist der Superstar der kanadischen Literatur. JOSEF BRAUN MICHAEL CRUMMEY Michael Crummeys Roman »Die Unschuldi- gen« (2019) spielt um 1800 auf Neufundland. Als ihre Eltern sterben, bleiben der 11-jährige Evered und seine jüngere Schwester Ada allein in einer einsamen Bucht zurück. Ganz undra- matisch und doch höchst eindringlich erzählt Crummey, wie die Geschwister in der Wildnis überleben. Bald ist es natürlich mit der Un- schuld auch in diesem rauen Paradies vorbei. Aber wie Crummey uns die Welt durch die Augen der Kinder sehen lässt, bleibt ein un- vergessliches Leseerlebnis. OLAF SCHMIDT www.kreuzer-leipzig.de

: Songs über Bücher Das Leipziger Antiquariat Orinoco Books verleiht seine Titel auch D er Laden in Neustadt-Neuschönefeld ist gemütlich eingerichtet: Sitzgelegenheiten, eine Couch, ein Schallplatt enspieler, eine Gi- tarre, sogar eine kleine Orgel, auf der, wer hätt e es gedacht, Bücher stehen. Die Buchhandlung veranstaltet regelmäßig Schachabende und beherbergt eine kleine Band, die dort probt und gemeinsam Songs schreibt – über Bücher na- türlich. »Zum Beispiel über Bücher, die nicht gelesen werden«, erklärt mir der Inhaber, Karel Ensing, mit einem Lachen. Der Laden soll Raum für weitere Veranstaltungen bieten, kleine Konzerte oder Lesungen zum Beispiel, möglichst mit internationalem Bezug. »Wenn jemand eine gute Idee hat, setzen wir sie um«, sagt Ensing. Im Oktober 2020 öffnete Orinoco Books die Pforten für Liebhaberinnen fremdsprachiger Bücher, der Großteil des Sortiment besteht aus dem privaten Bestand des Inhabers. Mitt - lerweile teilen sich zehn junge Menschen die Miete und arbeiten ehrenamtlich im Laden, denn die Gewinne fließen in die Anschaffung neuer Werke. Das Konzept schlägt einen Bogen zwischen Antiquariat und Leihbücherei. Auf Neudeutsch also: Netf lix für Bücher. Es ist möglich, eine Mitgliedschaft für einige Euro im Monat abzu- schließen, um Bücher ausleihen zu können. Man kann sie aber auch gebraucht kaufen oder vor Ort lesen. Außerdem ist es dank einer Ko- operation mit der Buchhandlung Grümmer in Plagwitz möglich, neue Bücher vorzubestellen. Das Sortiment besteht vor allem aus fremd- sprachiger Literatur, Englisch oder Franzö- sisch ist besonders häufig vertreten, aber auch kleine Nischen mit russischer, ungarischer oder koreanischer Literatur lassen sich beim Stöbern entdecken. Erweitern möchte Ensing sein Angebot mit Literatur auf Farsi, Türkisch oder Arabisch, Sprachen, die im Viertel gesprochen werden. Diese Bücher sind allerdings kaum günstig er- hältlich. Mitt lerweile bringen Personen aus der Umgebung ihre Bücher vorbei, das Problem ist der Lagerraum. Die Toilett e wird bereits als Abstellraum verwendet, verrät man mir. Ob ich die mal sehen kann? Klar. Um sie zu erreichen, müssen wir über Bücherkisten steigen. Die Idee für die Buchhandlung keimte damals in den Niederlanden auf. Um einen verschos- senen Ball zurückzuholen, musste ein Nach- barsjunge quer durch Ensings Zimmer und an dessen Büchersammlung vorbei. MAGAZIN | »Ich wusste gar nicht, dass es hier einen Buch- laden gibt!«, rief er dabei aus. Ein Jahrzehnt später entschloss sich Ensing, die Ladenfläche in der Mariannenstraße 18 zu mieten und seine Bücher der Nachbarschaft zur Verfügung zu stellen. Was Ensing vor allem freut, ist der Austausch. Denn die Leute kommen wieder, um ihre Bücher zurückzugeben, setzen sich zum Lesen auf die Couch oder nehmen vor dem Laden Platz. Letztens waren zwei kleine Jungen aus dem Viertel da, die lernten, Schach zu spielen. MICHELLE SCHREIBER ANZEIGE „Die Einzigen, die reden dürfen, während ich schreibe.“ Jackie Thomae, Autorin Unabhängig. Unverzichtbar. www.kreuzer-leipzig.de Unverwechselbar. 21

: Zerstörung und Hunger Getrennt voneinander bereisten George Orwell und Stig Dagerman nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland und kamen mit ähnlichen Eindrücken zurück G eorge Orwell wurde in den letzten Jahren gerne und oft herangezogen, wenn es da- rum ging, die politische Lage einzuordnen. Dabei rückte vor allem sein Roman »1984« immer wieder ins Rampenlicht. Er steht wie ein Synonym für den Autor, danach kommt noch die »Farm der Tiere«, der Rest liegt weit abgeschlagen dahinter. Dabei war Orwell nicht nur ein guter Romanschriftsteller, er war auch ein genauer Beobachter seiner Zeit, ein Stilist, der wunderbare Reportagen und Essays schrieb. Darunter »Erledigt in Paris und Lon- don« über seine Zeit als Tellerwäscher und Ob- dachloser und »Mein Katalonien« über seine Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg. Letztendlich war es wohl auch eher seine Er- fahrung als Journalist denn als Schriftsteller, die den britischen Observer dazu brachte, Or- well an der Seite der Alliierten nach Deutsch- land zu schicken, um gegen Kriegsende aus dem Land zu berichten, das so viele Jahre Angst und Schrecken verbreitet hatt e. »Reise durch Ruinen« versammelt Orwells Eindrücke für den Observer und andere Zeitun- gen. In Köln sah er die Zerstörungen, die die Bomben hinterlassen hatt en, aus Stutt gart schilderte er die harte Haltung der Franzosen gegenüber den Deutschen und später das Schicksal der russischen Lagerarbeiter, die von den Nazis auf brutalste Weise ausgebeutet wurden. Ein Großteil seiner Artikel beschäftigt sich mit den Millionen von »Displaced Per- sons«, die gegen Ende des Krieges in Deutsch- land lebten. Menschen, die von den Nazis als Arbeitskräfte ins Land geholt worden waren und die die Alliierten nach dem Krieg zurück in ihre Heimatländer zu schicken versuchten – eine riesige logistische und diplomatische Aufgabe, deren Schwierigkeiten Orwell mit kla- rem Blick einfängt. Überrascht war er vor al- lem von dem scheinbaren Gleichmut, mit dem die Deutschen ihre Niederlage akzeptierten, besorgt wegen der damals sich schon anbah- nenden Teilung der Besatzungszonen. Wie sein Gegenpart auf schwedischer Seite Stig Dager- man war es Orwell unmöglich, in den Osten des Landes zu reisen, wo die Russen mit ihrem Militär lagerten. Einen Vorteil hatt e der schwe- dische Lyriker, der Deutschland erst ein knap- pes Jahr später bereiste, jedoch gegenüber dem britischen Schriftsteller. Als Mann einer deutschen Frau fand er einen anderen Zugang zu den Deutschen, kam bis in ihre Häuser und Unterkünfte, reiste in denselben Zügen wie sie. Sehr persönlich ist denn auch sein Be- richt »Deutscher Herbst«. Darin schildert er eine Reise von Hamburg über Berlin bis in den Süden Deutschlands nach Nürnberg und München. Seine Reportage ist im Stil literari- scher als Orwells journalistische Artikel, und mehr noch als die politischen Entwicklungen, für die er durchaus ein Auge hatt e, interes- sierten ihn die Konsequenzen von Hunger, Zerstörung und der Niederlage des National- sozialismus für die Menschen. Viel Raum nehmen die Begegnungen ein, die er machte, etwa mit einer polnischen Lehrerin, die unter den Nazis noch zu den Opfern gehörte, einem Schriftsteller, der auf dem Land lebt, als wäre nichts passiert, oder Flüchtlingen, die in ei- nem überfüllten Zug ihres Schicksals harren. Empathie für die Besiegten brachte auch Or- well auf. Vor allem in »Rache ist sauer«, dem wohl besten Artikel, in dem er die Demütigung eines SS-Manns durch einen Juden beschreibt. Worüber beide Schriftsteller nur am Rande berichten, ist das Grauen der Konzentrations- lager – diese scheinen sie beide ausgelassen zu haben auf ihren Reisen durch das besiegte Land. So geben ihre Schilderungen auch weni- ger einen umfassenden Überblick über Deut- schland am Ende des Zweiten Weltkriegs, son- dern transportieren vielmehr ausgewählte Eindrücke aus jener Zeit. Dabei ist die große Entdeckung sicherlich das Buch von Stig Dager- man, das in Schweden schon bei Erscheinen MAGAZIN | große Resonanz fand. Orwells Reportagen da- gegen wirken, vor allem im Vergleich zu seinen Spanien-Berichten oder seinen Beschreibun- gen aus Paris und London, eher routiniert als inspiriert. Sie kommen im Großen und Ganzen dem nahe, was man auch in den Geschichts- büchern lesen kann. JOSEF BRAUN ▶ Stig Dagernan: Deutscher Herbst. Berlin: Guggolz Verlag 2021. 190 S., 22 € ▶ George Orwell: Reise durch Ruinen. München: C.H. Beck Verlag 2021. 111 S., 16 € ANZEIGE »Herausragend.« The New York Times Book Review The New York Times Book Review www.kreuzer-leipzig.de BERENBERG www.berenberg-verlag.de María José Ferrada Kramp Aus dem Spanischen von Peter Kultzen 132 Seiten · Halbleinen · 22 Euro ISBN 978-3-949203-08-4 Auch als E-Book 23

BÜCHER | »Schicksal, Schuld, Liebe und Lebenslügen – das sind die Themen dieses meisterlich erzählten Romans.« Dorothea Westphal, Deutschlandfunk Kultur Buchkritik N o m i n i e r t N o m i n i e r t BELLETRISTIK | : Gute Romane ehöen an den Pane I E G E Z N A Der Japaner Seiko Ito steckt die Literaturgeschichte in ein Gefängnis der Zukun O rwells »1984« endete mit der Gewissheit des Helden, den »Großen Bruder« zu lieben. In Bradburys »Fahrenheit 451« war der Besitz von Büchern ein Verbrechen. Kurzer Sprung ins Jahr 2036: Das dystopische Staffel- holz geht an Häftling Nummer 86, der als Angehöriger des im Krieg besiegten »ostperi- pheren Archipels« in einer Einzelzelle lebt. Aus Loyalität zur »Neuen Regierung« will er das soeben verfügte Verbot von Romanen mit einem Essay begründen, ja: bejubeln. Sein weitschweifiger Text erscheint in monat- licher Fortsetzung in der Gefangenenzeitung und ist das, was der Leser und ist das, was der Leser in den Händen hält. Ob der Protagonist, der 25 Romane schrieb und als Literaturkritiker tätig war, eine Gehirnwäsche war, eine Gehirnwäsche durchlaufen hat, ist un- klar. Manchmal klingt es so: »Die Zeit des Unrechts »Allzu unredliche Satzanhäufungen wie Romane und dergleichen gibt es in der Welt schon genug.« und der Repression ist endlich vorbei.« Das aber widerlegt der Zensor, indem er schwarze Balken ins Manuskript setzt und Hinweise zur »Disziplinierung« gibt. Der Vorwurf hinter der Parole »Das Roman- verbot ist nur zu begrüßen« lautet in etwa: Literatur fanatisiert die Menschen, sie mora- lisiert und manipuliert. Deshalb seien Ro- mane gefährlicher »Lug und Trug«, sagt Häft- ling Nummer 86, anderes gelte für den Essay, der persönlich, offenherzig, reflektierend sei. Der postmoderne Witz in der Konstruk- tion von Seiko Ito ist nun, dass der Text sich oft ein Bein stellt und immer wieder selbst ins Romaneske tappt – wobei die Belletristik eher gewinnt. Man erfährt, was vor der Haftzeit passierte, und sieht die Gegenwart der »Asiatischen Union« skizziert: Kriege, AKW-Störfälle, Hitzewellen sowie »en ernte« Romanautoren und inhaftierte »Gedanken- verbrecher«. Dies alles hat die listige, absurde Pointe, dass der Essay nur in einem einzigen Exemplar der Zeitschrift gedruckt sein könnte: dem des Häftlings, der dann gar keinen Leser hätte. SVEN CREFELD ▶ Seiko Ito: Das Romanvebot ist nu zu beüßen. Aus dem Japanischen von Jüen Stalph. Bad Beka: Cass . S., : Ewies Spiel de Geschlechte Irene Dische erzählt in »Die militante Madonna« die aufregende Geschichte eines Transvestiten im . Jahrhundert M ann oder Frau? Eine Frage, die einige Menschen so konkret für sich nicht beantworten wollen – und das nicht erst in unserer postmodernen Welt, in der Queer- ness als cool gilt, nur verachtet von Konserva- tiven, die das Gefühl haben, nicht mehr mitzukommen. Denn das Spiel mit den Ge- schlechtern und das Verneinen einer lebens- lang geltenden Definition als Mann oder Frau ist beileibe keine neumodische Erfindung. Schon im 18. Jahrhundert wusste der Chéva- lier d’Éon de Beaumont die Karten dieses Spiels zu mischen. Er wurde 1728 in Frankreich geboren und starb 1810 in London – dazwischen war er Diplomat, Soldat, Büchernarr, Freimaurer, Degenfechter, Schrift- steller, Spion und Klatschtante. Und etwa die Hälfte seines Lebens trat er als Frau auf. »In meiner Zeit und in meinen Kreisen spra- chen wir, wie es uns gefiel, in den obersten Gesellschaftsschich- ten, am kultiviertesten Hof der Welt kleideten sich die Männer wie Frauen und die Frauen wie Män- ner, und niemand regte sich über solche Kinkerlitzchen auf«, lässt Irene Dische ihren Protagonisten www.keuze-leipzi.de sagen, der in dem Buch aus der Ich-Perspek- tive die Leserinnen und Leser der heutigen Zeit direkt anspricht. Die amerikanische Schriftstellerin, die so- wohl in Berlin als auch New York lebt, erzählt die Geschichte des »ersten Transvestiten«, wie er in einigen Geschichtstexten genannt wird, als wilden Ri durch eine Ära voller Könige und Spione, Intrigen und Affären, Krieger und Adlige, rauschhafter Feiern und seltsamer We büros. Man weiß nicht, was wahr ist und was ausgedacht, aber so außer- gewöhnlich wie das aufregende Leben d’Éons ist auch der Stil dieses Buches, das so anders klingt als herkömmliche Historien- romane. Irritierend, verrückt und wunderbar gelassen, was Geschlechterfragen angeht. JULIANE STREICH ▶ Iene Dische: Die militante Madonna. Aus dem Enlischen von Ulich Blumenbach. Hambu: Hoff mann und Campe . S., , escheint am .. »Männlich oder weiblich, jung oder alt, dunkel- oder hellhäutig können wir uns erst dann fühlen, in jeder neuen Stunde so, wie es uns gerade passt, wenn wir nicht mehr von Äußerlichkeiten beherrscht werden.« Gert Loschütz Besichtigung eines Unglücks Roman 336 Seiten. Gebunden. Mit Lesebändchen € 24,00 | € [A] 24,70 978-3-89561-157-5 Auch als E-Book »Kein deutschsprachiger Autor beherrscht den modianohaft melancholischen Ton des Vergangenheitsinspekteurs so gut wie der in Genthin geborene Gert Loschütz.« Katharina Teutsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung 25 Schöffling & Co. 25

»Nichtsdestotrotz beharrt die Frau auf ihrem Leid.« BELLETRISTIK | : Die Uckemak ist das bessee Bayen Begeistert: Daniela Krien mit »Der Brand« Erns‘ all« in den Fokus, nämlich jene von Rahel und Peter, seit 28 Jahren verheiratet und als Parallelen lebend, das heißt: sich nicht be- rührend, in jeglicher Hinsicht. »Der Brand« ist ein griffiger, vielleicht reiße- rischer, im Grunde aber auch einfach nur schlichter Titel. Zudem einer, der um die Ecke führt, denn es brennt überhaupt nicht in der Erzählung des Romans. Es hat gebrannt, in je- nem Ferienhaus, das Rahel Wunderlich – ja, okay, das mit den Namen ist so eine Sache in Kriens Büchern: Wer heißt denn bi eschön Brida, Malika, Cordelia oder eben Rahel Wun- derlich? Aber wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, der geplante Urlaub von Rahel und Peter fällt aus, weil das gebuchte Ferienhaus in Bay- ern abgebrannt und kein adäquater Ersatz in Sicht ist. Mit dieser Nachricht beginnt der Roman. Und da ruft auch schon eine alte Freundin an, Ruth – ihr Mann Viktor ha e einen Schlaganfall, er müsse in eine Rehaklinik und sie mit. Ob Rahel und Peter Haus und Hof hüten könnten? Können sie, entscheidet Rahel kurzerhand. Peter ist not amused, nicht ge- fragt worden zu sein, aber sie fahren zusammen hin, von Dresden in die Uckermark, zu Tieren und Pflanzen und – man ahnt es schon und doch ist es nicht so leicht (ist es ja nie) – zu sich selbst. BENJAMIN HEINE ▶ Daniela Kien: De Band. Züich: Dioenes . S., B uchrezensionen mit einem Zitat zu begin- nen, ist das Letzte. Viel zu einfach! Aber wenns nun nicht anders geht? Wenn es sich so aufdrängt, weil, sagen wir, ein unscheinbares Zitat mi en aus dem Buch ebenjenes als Gan- zes so treff lich überschreibt? Dann muss man doch – oder man re et sich mit einer kleinen Bemerkung übers Rezensieren als solches, für die Insider! Das ginge, ja. Und dann eben erst das Zitat: »Für ihn ist Literatur wie ein leben- diges Gegenüber. Manchmal sogar lebendiger als das, was sich vor seinen Augen abspielt. Und im Gegensatz zu Menschen ist sie ihm un- entbehrlich«, heißt es in Daniela Kriens »Der Brand« über die Lesegewohnheiten einer der beiden Haup‘ iguren, nämlich jene des Lite- raturprofessors Peter. Und genau so ein »leben- diges Gegenüber« ist der neue Roman der Leipziger Autorin, ein Buch über die Liebe, im Sinne von: über die Entwicklung einer Bezie- hung, aber auch über Erziehung, über die eige- nen Kinder und deren Kinder, über Freunde und über das Sich-Verlieren. Es ist so ein Ro- man, der einem als Lesenden sehr viel über die Welt und einen selbst erzählt, ein Roman, der einen von Sachbüchern fernhält. Daniela Krien hat in diesem Frühjahr den mit 10.000 Euro dotierten Sächsischen Litera- turpreis erhalten. Das war vor »Der Brand«, sie ist nun also reif für die noch größeren Preise – auch wenn sie das »Problem« hat, dass sich ihre Bücher gut verkaufen, was Jurys meist ja nicht so gern sehen. Womit man dieser Auto- rin Unrecht tut, denn Krien schreibt zwar sehr wohl und das eben erfolgreich über die Liebe, aber nie pla , sondern substanziell, das heißt eben auch über die »Liebe im Erns‘ all«, wie ihr letztes Buch 2019 hieß. Auch der neue Ro- man rückt durchaus wieder eine »Liebe im MARKUS THIELEMANN ANZEIGE Seit sie denken kann, lebt Mia mit ihrem Vater Kasimir im Wald. Seit sie denken kann, lebt Mia mit ihrem Vater Kasimir im Wald. Im Verborgenen versorgen sie sich selbst und verüben Guerilla- Im Verborgenen versorgen sie sich selbst und verüben Guerilla- Im Verborgenen versorgen sie sich selbst und verüben Guerilla- anschläge auf landwirt schaftliche Betriebe. Als Sören auftaucht, auftaucht, auftaucht, der sich im Wald verirrt hat, wird alles anders. Mia nimmt ihn mit in ihr Versteck. www.keuze-leipzi.de www.katapult-verlag.de Roman | 304 Seiten, Roman | 304 Seiten, Roman | 304 Seiten, gebunden | 20,– Euro gebunden | 20,– Euro gebunden | 20,– Euro gebunden | 20,– Euro

BELLETRISTIK | EIN I E G E Z N A ZUTIEFST POETISCHES DEBÜT : Totenstille Naja Marie Aidts großer Klagegesang H inter »Carls Buch« steht ein einziger, un- umstößlicher Fakt: »Carl ist tot.« Es ist nicht nur der Auslöser für diesen Text, dieser Satz bildet auch sein Ende. 2015 stirbt Aidts Sohn Carl mit 25 Jahren einen in seiner Unvor- hersehbarkeit bestürzenden Unfalltod. Die Schriftstellerin versucht Worte für diese Tage zu finden, die alles verändert haben. Die Form des Textes zerspringt auf jeder Seite, ein zersprengtes Leben endet und findet nicht wieder zusammen, kein Abschluss, kein Trost in der geschlossenen Form. Diese Arbeit ist eine ewig offene Wunde. Aidt beschreibt die Momente vom Anruf aus dem Krankenhaus bis zum Besuch an der Unfallstelle, schildert die Beerdigung, die Tage danach. Hangelt sich entlang an den Trauernden der Weltliteratur: Rilke, Withman, Didion, Carson und Lewis. Neben der sturen Beschreibung der Ereignisse gibt es kaum Worte für den Schrecken, den Schmerz und die Tragik dessen, was passiert ist. Die Sprache spiegelt das auch in ihrer Knappheit, dem plötzlichen Abbrechen, zahl- reichen Wiederholungen ganzer Abschni e, Umbrüchen, Leerzeilen. »keine sprache mög- lich sprache starb mit meinem kind (…) schreibe wie ein kind hauptsätze unsicher alles »Er ging in den grünen Wald, und neben ihm lief ein Tiger.« was ich schreibe ist hölzern ich hasse das schreiben will nie wieder etwas schreiben ich schreibe voll brennendem hass mein zorn ist ziellos fetzen ein schrei gebrüll«. Alles ist auf der herzzerreißenden Suche nach seinem Platz: das Baby Carl, das gierig trank, der junge Mann Carl vier Monate vor seinem Tod, der zu seinem Geburtstag ein Festessen kocht — alles ist verbunden miteinander, weist auf- einander hin. Die Suche nach dem Sinn des Schmerzes tri schwer zu gehende Pfade, die diese persönliche Trauer zu einem meis- terlichen Buch der Trauer aller werden lässt. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Naja Maie Aidt: Cals Buch. Aus dem Dänischen von Usel Allenstein. München: Luchtehand . S., : Taue ist ein ausame Unteicht Chimamanda Ngozi Adichie über den plötzlichen Tod ihres Vaters Als ich vor Jahren in einer Buchhandlung zum ersten Mal ein Buch der Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in die Hand nahm, blieb ich an Ort und Stelle stehen, bis ich es beinah ausgelesen ha e. Ihr feministi- scher Aufruf war persönlich ergreifend wie allgemein gültig; ich stand da im Bann ihrer genau gewählten Worte, die mit einer Dring- lichkeit daherkamen, dass sie mi en ins Herz trafen. Nun hat Adichie ein weiteres ebenso schmales wie wuchtiges Buch vorgelegt, in dem sie in ihrem unverwechselbaren Stil, in kurzen prägnanten Sätzen, den Verlust ihres geliebten Vaters mi en in der Corona-Pande- mie am eigenen Leib seziert. In 30 kurzen Kapiteln geht sie durch die unterschiedlichen Stadien der Trauer: von Schockzustand und unfassbarer Traurigkeit über Wut, Schuldge- fühle und Frust bis hin zu Angst und Ableh- nung. Dazwischen kommen Erinnerungen an den Vater hoch, den ersten Statistikprofessor Nigerias. Geschichten, Anekdoten, geteilte Erlebnisse tauchen auf wie einzelne Mosaik- stückchen eines besonderen Familienlebens zwischen den USA und Nigeria, doch zugleich beschreibt sie eine universell menschliche Erfahrung des Verlustes. Die 30 Reflexionen sind wie 30 Anläufe, um das Unfassbare in Worte zu fassen und dabei immer wieder die Unzulänglichkeit der Sprache festzustellen. »Das Virus brachte uns die Möglichkeit des Sterbens nah, die Gewöhnlichkeit des Ster- bens, doch es gab den Anschein der Kontrolle (…). Mit ihrem Tod war die Vorstellung von Kontrolle dahin«, heißt es an einer Stelle – und um diesen Kontrollverlust geht es, wenn Körper und Geist sich uns entziehen und die Trauer überhand nimmt. Ein zutiefst per- sönlicher, ergreifender Text, weder sentimen- tal noch pathetisch, in dem aus jeder Zeile Liebe zu spüren ist – und Schmerz. »Das Leben fühlt sich durch die Schichten des Verlusts papierdünn an.« MARTINA LISA ▶ Chimamanda Nozi Adichie: Taue ist das Glück, eliebt zu haben. Aus dem Enlischen von Ane e Gube. Fankfut: S. Fische . S., »Zur Tyrannei der Trauer gehört, dass sie einem die Erinnerungen an die Dinge stiehlt, die wichtig sind.« Eine Reflexion über die Anfänge der Corona-Pandemie; über die Kraft der Grenze und des Schweigens, über Nähe und Liebe, eine Anrufung und Feier der Langsamkeit und Genauigkeit. LESUNG Freitag, 28.05.2021, 19:30 Uhr Westflügel Hähnelstraße 27 04177 Leipzig Eine beeindruckende und vielschichtige Reflexion über das Essentielle. Regina Dyck Unter der Masse an Alltags- literaten hebt Sarah Kuratle Dieses Buch ist ein Panther- als Sternenguckerin ihren Blick sprung in eine neue Zeit. in den Himmel bewohn- barer Möglichkeitswelten. Michael Braun Das soll ihr erst einmal jemand nachmachen. Anton Thuswaldner über „Greta und Jannis“ Sarah Kuratle | Greta und Jannis Vor acht oder in einhundert Jahren Roman | 232 Seiten € 22,– (E-Book: € 18,–) ISBN 978-3-7013-1288-7 29 O T T O M Ü L L E R V E R L A G

: De Tost de ichtien Faen Yaa Gyasi legt mit »Das erhabene Königreich« einen fein- fühligen Gesellscha s- und Familienroman vor BELLETRISTIK | BÜCHER | »Ich wuchs auf in dem Glauben, dass Gott uns die Herrscha über die Tiere gegeben hat, ohne dass mir je gesagt wurde, dass ich selbst ein Tier bin.« I E G E Z N A selbst auch nicht frei von Vor- urteilen gegenüber Schwar- zen ist. Angesichts dieser Er- fahrungen fragt der Roman, ob im Bewusstmachen der ei- genen Geschichte eine Chance auf Aussöhnung liegt. »Ein erhabenes Königreich« ist so einerseits ein hoch- aktueller Gesellschaftsroman, aktueller Gesellschaftsroman, der von der Opioid-Krise und der wachsenden Bedeutung von Religion in den USA handelt. Andererseits erzählt der Roman auf feinfüh- lige und kraftvolle Weise davon, wie sich eine Sprache und eine Erzählung für das eigene Leben finden lassen. Und darin liegt, trotz aller thematischen Schwere in Yaa Gyasis Roman, eine gewisse Leichtigkeit. Und die Hoffnung auf Trost. TINO DALLMANN ▶ Yaa Gyasi: Ein ehabenes Könieich. Aus dem ameikanischen Enlisch von Ane e Gube. Köln: Dumont Vela . S., A ls Forscherin beginnt Gifty, eine junge schwarze Neurowissenschaftlerin, in der Regel mit den Antworten. Am Anfang steht eine Idee der Ergebnisse. Das Schwierige sind dann die Fragen. Denn für ihre Arbeit braucht Gifty eine ausreichend interessante Frage, die ihren Forschungen eine Bedeutung verleiht. Mit ihrem Leben ist es ähnlich. Die bisherigen Ergebnisse stehen fest. Ihr Bruder ist an einer Überdosis Heroin gestorben. Die Mu er, einst aus Ghana in die USA ausgewandert, hat eine Depression und verlässt das Be nicht mehr. Das Bemerkenswerte an Yaa Gyasis zweitem Roman sind die Fragen, die sie aus dieser Situation entwickelt. Zunächst geht es darum, wie selbstbestimmt unser Handeln überhaupt ist. Dazu forscht Gifty an Mäusen und untersucht, ob sich die Belohnungsreaktionen in ihren Hirnen aus- tricksen lassen. Mit Blick auf ihr Leben er- kennt sie, dass die Erfahrung von Rassismus ihre Familie geprägt hat. So fand der Bruder nur im Sport Anerkennung und wurde nach einem Basketball-Unfall abhängig von Schmerzmi eln. Die Mu er trieb die tägliche Erniedrigung in die Arme der Kirche, die : Zwischentöne Die Neuaufl age des Harlem-Renaissance-Romans »Seitenwechsel« von Nella Larsen D ie Vorstellung einer »Rasse« ist eines der wirkmächtigsten und gleichzeitig grundfalschesten Konstrukte der Neuzeit. Die Einteilung von Menschen in verschiedene Hau öne oder nach anderen Merkmalen ent- behrt jeglicher ernstzunehmender wissen- schaftlicher Grundlage, verursacht aber in der Realität unermessliches Leid. In ihrem Roman »Seitenwechsel« beschäftigte sich Nella Larsen in den 1920er Jahren mit einer eher ungewöhnlichen Face e dieses Leids. Ihre Protagonistinnen Irene und Clare sind beide Kinder sowohl schwarzer als auch wei- ßer Elternteile. Beide haben sie einen weißen Mann geheiratet, doch während Irenes Mann Brian um ihre Herkunft weiß, hat Clare ihren Mann, einen Rassisten, darüber im Unklaren gelassen und verleugnet den schwarzen Teil ihrer Verwandtschaft. Eine Entscheidung, die ihren Preis hat für Clare, die sich im Umfeld ihres Mannes zunehmend unwohl fühlt. Auch Irene hat Eheprobleme, die allerdings anders gelagert sind: Ihr Mann Brian möchte mit ihr und den Kindern weg aus New York nach Brasilien ziehen, wo die Gesellschaft weniger gespalten und weniger rassistisch ist. Die Eheprobleme der beiden Frauen sind die eine Ebene, auf der Larsen ihren Roman erzählt, auf der anderen wird die Anziehung zwischen Irene und Clare geschildert, die sich lange Jahre nach ihrer Schulzeit wiederbegegnen und sich abwechselnd anziehen und abstoßen. »Seitenwechsel« lebt von den Spannungen zwischen den Figuren, während das Buch sprachlich stellenweise eher unspektakulär ist. Verwundern muss das nicht, immerhin war es erst das zweite Buch von Nella Larsen, kurze Zeit nach seinem Erscheinen stellte sie das Schreiben ein und widmete sich, wohl auch aus finanziellen Gründen, wieder ihrem zweiten Beruf als Krankenschwester. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, wohin sie eine Karriere als Schriftstellerin noch geführt hä e. JOSEF BRAUN »Schon komisch das mit dem Seiten wechseln. Wir missbilligen und ent- schuldigen es zugleich.« ▶ Nella Lasen: Seitenwechsel. Aus dem Ameikanischen von Adelheid Domaen. Belin: Dölemann . S., Theodor Wolff Die Schwimmerin Roman aus der Gegenwart Mit einem Nachwort von Ute Kröger Einband: Kat Menschik 978-3-949441-00-4 25 Euro Theodor Wolff (1868–1943) war der wichtigste Journalist der 1920er Jahre. Sein 1937 publizierter Roman ist zugleich Liebesgeschichte, Sozialgeschichte, Bild Berlins, Nachruf auf die Weimarer Republik, Vorahnung des bevor- stehenden Untergangs, Beschreibung des Lebens im Exil. Und vor allem ist er das Porträt einer mutigen jungen Frau, deren Vorbild die 1942 hingerichtete Widerstandskämpferin Ilse Stöbe war. www.keuze-leipzi.de 31 31

: Elektoschocks de Einneun Louise Erdrich fi ndet viel Liebenswürdiges in einem Reservat der Chippewa-Ureinwohner BELLETRISTIK | I E G E Z N A »Wie oft kam eine moderne, berufstätige Frau dazu, bei einem lebenden Bären zu schlafen?« Das ist von einer Meisterin! Die erste Sex- szene auf Seite 258 zu bringen und das animalische Treiben nicht etwa schmachten- den Menschlein zu übertragen, sondern zwei ausgebüxten – Rennpferden! Damit beweist Louise Erdrich souveränen Humor und ihre Originalität. Überhaupt ist der Roman »Der Nachtwächter« voll schmackhafter Zutaten. Da steckt Zeitgeschichte drin, magischer Realis- mus, eine Messerspitze Horror, Lehrjahre des Gefühls, poetische Natur, lautes Breitwand- kino. Es gibt sprechende Hunde und lebendige Geister, Boxkämpfe und Volksfeste, Säufer und Missionare, mystische Tiere und infor- mierte Träume, helle Mädchen und dumme Jungs. Wie das Leben der amerikanischen Ur- einwohner in einem Reservat in North Dakota geschildert wird, ihr Alltag, die Armut, Fabrik- arbeit, Rituale und Traditionen – das ist mehr als Zolala und packend im Detail. Das Thema liegt Erdrich ja im Blut. Denn ihr Großvater war das Vorbild für den titelgebenden Nachtwächter Thomas. Er zieht 1953 ins Feld gegen die »Terminationspolitik« des US-Kongresses, die eine Enteignung und : Am Anfan wa nicht die Zahl Der Amerikaner Alexander Wolff besucht das Land seiner Väter und Großväter Diese Geschichte beginnt beim Insel Verlag in Leipzig und endet in einem Hotel in Locarno. Sofern man nur den legendären Teil betrachtet: die Vita des epochalen Verlegers Kurt Wolff. Doch der Bogen wird hier weiter gespannt, von einem Pogrom gegen Karls- ruher Juden 1819 bis in die Gegenwart. Denn Alexander Wolff (der Enkel) nahm sich vor, nicht nur die Biografien seiner Ahnen zu er- zählen, sondern auch Reflexionen über Krieg, Exil, Migration, Identität, Schuld und Erin- nerungskultur einzublenden. Das ist dem amerikanischen Sportreporter mit einem di- cken, schlau komponierten Buch gelungen. Wolff, der ein Jahr in Berlin auf Spurensuche war, profitierte von großen Nachlässen, die oft eine süffige Briefstelle liefern. Man goutiert es, wenn Kafka oder der »Nachhausebegleiter« Karl Kraus durchs Bild laufen. Das zentrale Paar bilden ein erfolgsverwöhn- ter Impresario und sein Sohn aus erster Ehe, Niko. Kapitelweise werden sie kontrastierend und verschlungen in Szene gesetzt. Kurt Wolff ist das Urbild des unabhängigen Bücher- machers, der sein Credo »Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl« durch manche Krise Auslöschung seines Stammes, der Turtle Mountain Chippewa, bedeuten würde. Während also Thomas den Protest ganz nüch- tern organisiert, empfängt er nachts die »Elektroschocks der Erinnerung«, wenn ihm ein toter Schulkamerad erscheint. Eine krassere Plotlinie ist da schon das Martyrium einer jungen Frau in der Großstadt, die von ihrer Schwester gesucht wird. Das zwingt jene »Pixie« zum grotesken Unterwassertanz im Ochsenkostüm und lässt Thomas das abgrund- tief Böse erkennen – jenseits seiner Welt. Die Heldinnen des Reservats sind dagegen über- deutlich als sehr liebenswürdig (fleißig, klug, einfühlsam) gezeichnet, manchmal macht sich betuliche Hygge-Stimmung breit. Auch das simple Happy End mit Baby löst Schmöker- Alarm aus. SVEN CREFELD ▶ Louise Edich: De Nachtwächte. Aus dem ameikanischen Enlisch von Gesine Schöde. Belin: Au au . S., ‚ »Allerdings achtete ich darauf, dass mir keinerlei Reste von Deutschsein anhafteten.« re¥ et, indem er Kunstwerke und Erstdrucke zu Geld macht. Sein Sprössling ist ein technik- begeisterter Mann ohne Allüren, dem der Neustart in den USA leich¦ ällt, während Kurt Wolff zutiefst Europäer bleibt. Beide stehen emblematisch für die Nöte der Nazizeit: der ver- femte jüdische Exilant, der zur Hitlerjugend gezwungene Schüler und Wehrmachtssoldat. Diese Gut-Böse-Dialektik verfolgt der Autor bis ins letzte Eck seiner Familie(n), was die Spannung abflauen lässt. Das führt auch zu Kitsch: Einer nebenan erklingenden Geige wird ihre »befleckte Herkunft« angemerkt! Hier hä¥ e »Opa Wolff« einen Strich über den Absatz gezogen. SVEN CREFELD ▶ Alexande Wolff : Das Land meine Väte. Die deutsch- ameikanische Geschichte meines Goßvates Kut Wolff . Aus dem Enlischen von Monika Köpfe. Köln: DuMont . Ž S., ‘ ‚ Almost Isfahan Eine Weltreise in Zeiten von Corona? Architekturjourna- list Wojciech Czaja zeigt vor, wie das geht. Seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 erkundet er seine Heimatstadt Wien auf der Vespa – und findet dabei unzäh lige Orte, die ihn an fremde Städte und inter- nationale Metropolen erinnern. »Die Bilder von Wojciech Czaja sind ein Zauber in dunkler Stunde. Sie lehren, dass nicht das Ende, wohl aber die Ferne nah ist.« Süddeutsche Zeitung Nach dem Bestseller Almost. 100 Städte in Wien liegt nun der Fortsetzungsband vor. Wojciech Czaja Almost 2. Eine Weltreise in Wien 100 Farbabbildungen 236 Seiten, € 22,– 33 Edition Korrespondenzen

BELLETRISTIK | Fernanda Melchor Paradais 144 Seiten. 18,– € ISBN 978 3 8031 3338 0 FE RNAN DA M E LCHOR PARADAIS... ROMAN »Ein hoffnungsloser Schulabbrecher wird Gärtner und trifft auf einen verwöhnten Sohn aus der Oberschicht mit haltlosen Sexfantasien: Fernanda Melchors düsterer Roman steckt voller brodelnder Gewalt und zerstörter Menschen. Harter Stoff.« Maike Albath, Deutschlandfunk Kultur www.wagenbach.de »Der Mond wird ja gewöhnlich in Hamburg gemacht, und zwar sehr schlecht.« : Wahnsinn Mit der neuen Reihe »Edition de Bagatelle« möchte der Leipziger Verlag Faber & Fa- ber junge Nachwuchsillustratoren der Kunst- akademien in Leipzig und Hamburg fördern. »Es soll erprobt werden, wie neue bildnerische Handschriften an kanonischen Texten der Weltliteratur entstehen«, heißt es im Klappen- text der ersten Ausgabe vom Sommer 2021. Die wurde vom 1992 in Caracas geborenen Edgar Sánchez gestaltet, der seit 2018 in Leipzig an der HGB studiert. Der Künstler hat einen russischen Klassiker illus- triert: Mit »Tagebuch eines Wahnsinnigen« schuf Nicolaj Gogol eine absurde, surreale Geschichte um einen Beamten in St. Petersburg, der sich in kürzester Zeit verliebt, Briefe von sprechenden Hunden stiehlt und schließlich einem ausgeprägten Wahn und diversen Ver- schwörungsmythen verfällt (ein Verhalten, das in seiner paranoiden Art erschreckend an den Werdegang mancher Personen zu Corona- zeiten erinnert). Die Wirkung des verstörenden und zuweilen belusti- genden Textes hat Sánchez genial eingefangen. Seine Illustrationen sind schlicht in ihrer schwarz-weißen Farbgebung, aber überbordend in ihrer Formensprache. Wie massive Tintenkleckse wirken die scherenschni artigen Abbildungen, es gibt keine Scha en, keine Schraffur, alles ist entweder Tinte oder Papier. Der Wahnsinn und der Ekel, der in Gogols Erzählung liegt, findet hier seine perfekte Entsprechung. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Nicolaj Gool: Taebuch eines Wahnsinnien. Aus dem Russischen von Alexande Eliasbe. Mit Illustationen von Eda Sánchez. Leipzi: Fabe & Fabe . S., : Slawisch-indische Beziehunen Ü ber drei Kontinente hinweg spannt sich der literarische Regen- bogen zwischen der jüdischen Russin Adel und der Westbengalin Tania. Aus sehr verschiedenen Perspektiven erzählen beide Frauen in »Das russische Testament« von ihren biografischen Verknüpfungen mit der Geschichte des Kleinstverlegers Lew Moisejewitsch Kljatschko, dessen Bücher es während der Sowjetunion aus der kleinen Familien- küche in St. Petersburg bis in die Buchläden Kalku as schafften. Neben dem heute kaum mehr bekannten Verfechter der absurden Lite- ratur und seinem Verlag Raduga (dt. Regenbogen) steht das Leben der jungen Tania im Zentrum des Romans, die sich im kommunistisch regierten Westbengalen an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert gegen die religiösen und sozialen Normen einer hinduistisch geprägten Gesellschaft zur Wehr setzt. I I E E G G E E Z Z N N A A I I E E G G E E Z Z N N A A Die indisch-französische Schriftstellerin Sinha verwebt in ihrem Schlüsselroman eine reale Biografie mit fiktionalen Elementen, die auf dem Boden der russischen Literaturgeschichte wandeln. Stilistisch weicht die Sprache des Textes in schmerzvollen Szenen vor der Emotio- nalität zurück – es ist, als müssten Tania und der Leser sich gemein- sam von ihrem physisch und psychisch misshandelten Körper distan- zieren, damit es nicht so wehtut. Die Autorin thematisiert religiös und politisch motiviertes Klassendenken, gesell- schaftlich tolerierte Unterdrückung und Miss- handlung in der Familie und spielt dabei bewusst mit dem Aufeinanderprallen der Kulturen. Die enge Zusammenarbeit Sinhas mit ihrer Überset- zerin Lena Müller trägt zu einem leichteren interkulturellen Verständnis bei, wenn fremde Traditionen im Fließtext des Buches gekonnt beiläufig erklärt werden. HANNA SCHNECK ▶ Shumona Sinha: Das ussische Testament. Roman. Aus dem Fanzösischen übesetzt von Lena Mülle. Hambu: Edition Nautilus . S., »Manchmal ist es ein Trinkgefäß aus Emaille mit einem blauen Griff, das mich aus der Fassung bringt.« Die Geschichte eines Herumtreibers 35

BELLETRISTIK | : »… und iendwann veschwinden« Lisa Kreißler erzählt in »Schreie & Flüstern« vom Werden und Vergehen I E G E Z N A D ies hier ist meine letzte Station. Hier werde ich den Rest meines Lebens ver- bringen – und irgendwann verschwinden.« Das denkt Vera, während sie zusieht, wie mit- ten auf dem niedersächsischen Land ihre Hab- seligkeiten aus dem Umzugswagen geladen werden. Eben noch hat Vera mit ihrem Freund und dem kleinen Sohn in Leipzig gewohnt, dank einer Erbschaft richtet sich ihre Familie nun auf einem renovierungsbedürftigen Hof unweit ihres Elternhauses ein. Was Vera in ei- nem Moment des Übermuts erstrebenswert erschien, zerbröselt genau wie die zahlreichen Wände des neuen Hauses, die herausgerissen, ausgebessert oder gestrichen werden müssen. Veras zweite Schwangerschaft endet im drit- ten Monat, die Nachbarn lassen sie nicht aus den Augen, und ihr Freund wird ihr in seinem Aktionismus immer fremder. Es würde Lisa Kreißlers dri‰ em Roman nicht gerecht, wenn man ihm vorwerfen würde, dass es bei der Lektüre streckenweise nur schwer auszuhalten ist, wie sehr Vera un- ter ihrer sta‰ lichen Erbschaft leidet. »Schreie & Flüstern« erzählt vielmehr – und dies meisterhaft – die ewige Geschichte vom Wer- den und Vergehen. »Heute hast du noch einen dicken Bauch, und morgen schreit dich dein Sohn schon an, weil du zu dumm dazu bist, den Fernseher auszuschal- ten«, sagt Veras Oma, als Vera sie hochschwanger im Pflegeheim be- sucht. Mit viel Feingefühl verbin- det Kreißler die Träume und ent- täuschten Hoffnungen von vier Generationen. Sie lässt ei- nen Dachs ebenso spre- chen wie die früheren Ei- gentümer des Hofs, dazwischen mischen sich Geschichten von Veras Freunden aus Leipzig und die kindlichen Fra- gen nach dem Tod, die Veras kleiner Sohn stellt. »Schreie & Flüstern« wird so zu einer vielstimmigen Collage über die Frage, wie wir im Bewusstsein unserer Vergänglichkeit den- noch jeden Tag die Kraft zum Leben finden. KATHARINA BENDIXEN »Siggi breitet die Arme aus, und ich muss achtgeben, dass ich nicht umkippe, als er gegen mich prallt, landet, auf seinem Mutterplane- ten, den er gezwungen ist, zu lie- ben, egal in welche Dunkelheit er dafür gehen muss.« ▶ Lisa Keißle: Scheie & Flüsten. Roman. Hambu: Maiisch . S., € : Tiefe Abünde International-Booker-Preisträgerin Marieke Lucas Rijneveld legt mit »Mein kleines Prach ier« einen neuen Roman vor ten und Traumata kämpft, von den Erwachse- nen in ihrem Umfeld am besten versteht. Er hört ihre Songs, spricht mit ihr über Filme und Bücher, erzählt ihr von seiner Arbeit und lauscht ihren Gedanken, um dann doch wieder übergriffig zu werden. Um dann doch immer weiter zu gehen, wobei Rijneveld ihre Leserin- nen nicht schont und explizit auch die Situa- tionen beschreibt, in denen der Erzähler zum Täter wird. »Mein kleines Prach‰ ier« ist äußerst schwere Lektüre. In langen, mitunter mehrere Seiten füllenden Sätzen mäandern die Gedanken des Erzählers, wird seine Weltsicht präsentiert. Zwar en› altet das beim Lesen durchaus einen Sog, richtig ist allerdings auch, dass Rijneveld in ihrem Buch ziem- lich viel auf einmal anpackt und sich dabei stellenweise kräftig ver- hebt. Hier wimmelt es nur so von Zitaten, Abrissen über Kunst und Kultur, küchenpsychologischen Erklärungen für das Verhalten der Figuren, die mitunter arg pla‰ ausfallen. Weniger wäre manchmal mehr gewesen. JOSEF BRAUN ▶ Maieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Pach‡ ie. Belin: Suhkamp . Š‹ S., € E s gibt Ich-Erzähler, mit denen lässt es sich schwer aushalten. Der Erzähler aus Marieke Lucas Rijnevelds Roman ist so einer. Der Tierarzt und Vater zweier Kinder hat seine Frau mehr oder weniger zur Tarnung geheiratet, vielleicht auch in dem Wunsch, dadurch seine Triebe zähmen zu können. Doch mit der Selbstbeherrschung ist es spätes- tens vorbei, als Kurt auf einem der Höfe, die er betreut, einer jungen Bauerstochter begeg- net. Von ihr erzählt er über dreihundert Sei- ten, Jahre nach dem ersten Aufeinandertref- fen, aus dem Gefängnis. Sie nennt er »mein Prach‰ ier« oder »die Auserwählte«. Sowieso ist der gesamte Roman von Metaphern durch- zogen, die meisten haben mit der Natur oder der Bibel zu tun. In bei- den kennt sich Marieke Lucas Rijneveld aus, die calvinistisch er- zogen wurde und neben dem Schreiben auf einem Bauernhof nahe Utrecht arbeitet. P M A K R H U S Mein kleines Ihr Protagonist ahnt, dass er etwas Falsches tut. Wiederholt mischen sich Zweifel in seine Gedanken, doch letztendlich wischt er sie weg, was die Fallhöhe umso grauener- regender macht. Ist doch eigentlich er derjenige, der das junge Mäd- chen, das vielleicht lieber ein Junge wäre und mit großen Ängs- www.keuze-leipzi.de N A M O R »Am siebenundvierzigsten Geburtstag von Kate Bush warst du todkrank.« ca.  Seiten, gebunden, Lesebändchen EUR , ISBN ---- Erscheinungstermin: September  Mitte der er: Jakob Grossmann hält sich nicht für einen außergewöhnlichen Mann. Er ist etwas dicklich, schon etwas älter und ist ein einfacher Fabriksarbei- ter in Toronto. Sein großer Traum ist es, ein letztes Mal seine Familie in Wien zu sehen. Denn Jakob wurde Mitte des . Jahrhunderts im österreichischen Galizien in eine jüdische Familie hin- eingeboren. Während seine Familie vor Gewalt und Krieg nach Wien fl üchtete, versuchte er sein Glück in Kanada. Jakob Grossmann ist kein reicher Mann, aber wer weiß das schon – im fernen Wien? Jakob hingegen scheint nicht zu wissen, dass in Österreich vor kurzem noch ein Bürgerkrieg wütete und nun eine neue Ordnung herrscht. Henry Kreisel musste  seine Heimat- stadt Wien verlassen und konnte über mehrere Stationen nach Kanada gelan- gen. Dort hat er als Schriftsteller und Universitätsprofessor für Literatur sein Œuvre der Vermittlung zwischen Kultu- ren gewidmet. In diesem Roman bietet er einen außergewöhnlichen Einblick in das Wien der er-Jahre und besonders in das Wiener jüdische Leben kurz nach dem österreichischen Bürgerkrieg und unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Dieses Buch, das eine vergangene Stadt auf erstehen lässt, stellt dabei Fragen zu Migration, Flucht und Identität, die heute relevanter sind als je zuvor. a c . y r e t e m e c h s i w e j n o t n o m d e : o t o F © HENRY KREISEL Geb.  in Wien, gestorben  in Edmonton, Alberta, war Schriftsteller und Univer- sitätsprofessor für Literaturwis- senschaft.  musste er aus Wien fl iehen und gelangte über Zwischenstationen in England nach Kanada, wo er  mit dem Anglistik- studium begann. Bereits in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Exil und Verfremdung in der modernen Literatur, ein ema, das auch sein schriftstellerisches Schaff en prägte. Neben seiner akademischen Laufbahn an der Univer- sity of Alberta veröff entlichte er zwei Romane, den nun in Übersetzung vorliegenden e Rich Man (), und e Betrayal (), der von der CBC auch als Hörspiel adaptiert wurde. Der Brückenschlag zwischen den beiden Wel- ten Europa und Kanada gilt als sein wichtigster Beitrag zur kanadischen Literatur. Seine schrift- stellerischen und akademischen Tätig keiten wurden zahlreich ausgezeichnet,  wurde er zum Offi cer of the Order of Canada ernannt. ÜBERSETZT VON SEBASTIAN RAHO ◆ Wıeser 37 A-9020 Klagenfurt/Celovec • 8.-Mai-Straße 12 Tel. +43 (0)463 37036 • Fax +43 (0)463 37635 office@wieser-verlag.com 37

: Fü Feundinnen de Schleieeule Georg Klein schickt zwei Journalisten auf den Rasen BELLETRISTIK | G eorg Klein, der Zauberer aus Os riesland, schickt seine Leserinnen in »Bruder aller Bilder« nach Augsburg. Im tugendhaften Bayernland, wo Frau Elisabeth von Eszerliesl im Rolls Royce über die wertbeständige Pres- selandschaft wacht, ergibt sich tatsächlich folgendes Geschehen: In der Weite des Maisfelds, dort, wo sich Fle- dermaus und Meister Lampe ein nächtliches Rendezvous absta en, macht das Leben der talentierten Jungjournalistin Moni Go lieb einen Sprung. Schuld daran sind neben diver- sem Getier der führende Sportkolumnist Addi Schmuck und sein waldschratiger Freund »Der Auskenner«, seines Zeichens Natur- freund und Hüter merkwürdiger Dinge. In wohlgeformten Sätzen und mit einer feinen Prise Schalk leitet uns Georg Klein durch die leicht labyrinthische Handlung, deren Ariad- nefaden der Greenkeeper des lokalen Bundes- ligisten in der Hand zu halten scheint. Besagter Greenkeeper landet nach einem ungewöhnlichen Angriff im örtlichen Kran- kenhaus, was sogleich Kolumnist Addi samt Auskenner auf den Plan ruft. Und weil aller guten Dinge drei sind, gelingt es Addi, die gelehrige Moni für ein paar Tage in die Lösung des Knotens zu integrieren. Freundinnen der Schleiereule sowie der Flora und Fauna im Allgemeinen dürfen gespannt sein, versierte Georg-Klein-Leser überrascht: Im neuen Buch des subtilen Meisters der Zwischenreiche geht es recht zeitgenössisch, nein: geradezu greifbar menschlich vonsta en. Auch wenn der eine oder andere leise Ton durchaus divergent klingt und die Wege hin und wieder in Gärten des Schreckens führen mögen, ist dieser Roman (im modernen Gewand durchaus an E.T.A. Hoffmann erin- nernd) ein Lesewonneproppen superbster Güte! FRANK WILLMANN ▶ Geo Klein: Bude alle Bilde. Hambu: Rowohlt . S., »Unten ist meist wichtiger als oben: igelhoch frei muss ein fairer Zaun sein.« : Leestelle Leben Emma Cline erzählt in »Daddy« Geschichten von Männern ohne Macht E inst war er mächtig, der Mann, der in der Entzugsklinik am Beckenrand sitzt und dessen Beschreibung nicht von ungefähr an Harvey Weinstein erinnert. Im Resort, zwi- schen lauter Süchtigen auf Entzug, hält er sich an seinen Betreuer, streichelt Hunde und versucht den Kontakt mit den anwesenden Frauen zu vermeiden. Die spekulieren, erzäh- len sich gegenseitig, wie oft der Mann, der in der Geschichte »A/S/L« nur G genannt wird, wegen sexueller Belästigung angezeigt wurde. Emma Cline betrat die literarische Bühne 2016 mit einem großen Knall. Ihr Debütroman »The Girls« um eine Gruppe junger Frauen, die einen Charles-Manson-artigen Guru anhimmeln, sorgte noch vor Erscheinen wegen der hohen Vorschüsse, die dafür gezahlt wur- den, für Aufsehen. Fünf Jahre später legt sie nun mit »Daddy« einen Storyband nach. Wieder spielen die meisten Geschichten in Kalifornien, wieder gibt es Anklänge an reale Figuren und Deba en, im Zentrum steht jene um sexuellen Missbrauch in der Filmindustrie (MeToo). Was gleich von Beginn an überzeugt, ist das klare Konzept hinter Clines Geschichten. Ihre Figuren könnten sich allesamt schon auf Partys, beim Einkaufen oder in teuren Restaurants begegnet sein, sie entstammen demselben Kosmos. Häufig sind es Frauen, die die Macht suchen, und Männer, die sie einst hat- ten, jetzt aber im Angesicht einer neuen Zeit zusehen müssen, wie sie ihnen zwischen den Fingern zerrinnt. Am eindrücklichsten vielleicht beschrieben in der Eröffnungsge- schichte »Was macht man mit einem Gene- ral«, wo ein alternder Vater beim Familien- treffen zunehmend an den Rand gedrängt wird. Niemand interessiert sich mehr für ihn, »Das war ein schöner Gedanke, aber unwahrscheinlich.« die Lesenden könnten Mit- leid empfinden, wären da nicht die Anspielungen auf eine gewal ätige Vergan- genheit, die wie so vieles in diesen Geschichten nebulös bleiben. Belletristik, die zu Diskursen beitragen möchte, wandert auf einem schmalen Grat. Vor allem Diskussio- nen, die noch in vollem Gange sind, lassen Li- teratur, die sich daran abarbeitet, oft kra- chend scheitern. Nicht so im Falle von Cline, die in »Daddy« klug konstruierte Geschichten schreibt und sich darauf versteht, das eine Detail zu finden, das einen Charakter schein- bar erklärt, so lange, bis er etwas völlig Unvorhergesehenes tut. JOSEF BRAUN ▶ Emma Cline: Daddy. Aus dem Enlischen von Nikolaus Stinl. München: Hanse . S., ANZEIGE Provokativ, hintergründig und boshaft-komisch Mit seinem »Herrn Oluf« ist Christopher Ecker das überzeugende Porträt eines zutiefst verunsicherten Mannes gelungen, dem alle liebgewordenen Gewissheiten entgleiten. »Brillanter Roman über Kunst, Philosophie und einen unerträg lichen Menschen. Unglaublich witzig und wahnsinnig tragisch.« »Saukomisch und gnadenlos gut geschrieben. Herr Olufs Reise nach Husum ist ein origineller Trip mit Tiefgang.« www.keuze-leipzi.de Marion Rave, schiefgelesen.net Andrea Ring, NDR Kultur Christopher Ecker Herr Oluf in Hunsum Roman ISBN 978-3-96311-523-3 39 mitteldeutscher verlag

: Musik ohne Schwanz In ihrem Songbook stellen die Grether- Schwestern Lieder von Frauen vor BELLETRISTIK | Reinhard Tötschinger liest in Frankfurt I E G E Z N A E s ist nicht ganz leicht, diese Rezension zu schrei- ben, weil es zu dem hier zu besprechenden Buch eine begleitende Spotify-Liste gibt, in die ich mal kurz reinhören wollte, zur musikalischen Unterma- lung beim Durchblä† ern, aber jetzt kann ich die Playlist nicht mehr ausmachen, weil sie halt einfach so viele gute Lieder enthält, dass ich das nächste auch noch unbedingt hören will, aber da fast alle der Interpretinnen auf Deutsch singen, fordern sie stark meine Aufmerksamkeit. Doch das ist gut, denn darum geht es den Herausgeberinnen Sandra und Kersty Grether, die man aus allen möglichen feministischen Zusammenhängen mit Musik kennt, da sie unermüd- lich für die gute gleichberechtigte Sache kämpfen – egal ob in ihren Bands (Parole Trixie, Doctorella), Abhandlungen (Spex u. a.), Veranstaltungsreihen oder wie jetzt in einem Songbook: Aufmerksamkeit wollen sie schaffen für weibliche Musikerinnen, die in Kellern, Proberäumen oder Wohnzimmern der hiesigen Nachbarschaft grandiose Songs hervorbrin- gen. Und von denen erstaunlich wenige auf Festival- bühnen und im Fokus der medialen Aufmerksamkeit landen. Immer wieder hört man auf Nachfragen bei Veranstaltern, warum denn da fast nur männliche »Mich interessiert nich, wer von euch hier dicke Bälle hat, denn wenn ich will, sitzt ihr bis Ladenschluss im Bällchenbad.« Menschen auf ihrem Line-up stünden, dass es halt so wenige tolle Musikerinnen gebe. Dass das Quatsch ist, zeigt dieses Buch, das 70 Musikerinnen von Acht Eimer Hühnerherzen bis Zuckerclub vorstellt, neben Liedtexten auch mit Bildern, Notizen, Noten – gra- fisch im schönsten DIY-Stil zusammengebracht. Mit Zeilen wie »Ihr denkt, ihr seid im Märchen, und seid nur blöde Pärchen« (Lassie Singers) oder »Standing in the rain with a bo† le of champagne« (Ki† y Solaris) geben sie Inspirationen für fast alle Situationen des Lebens. Ein Buch wie ein cooles Festival. JULIANE STREICH ▶ Kesty und Sanda Gethe (H.): Ich bauche eine Genie – Sonbook. Belin: Mikotext €‚. “€” S., ‚•,•• … : Wolken, Wind, Wasse und Rassismus Ma hes & Seitz legt John Muirs »Yosemite« von neu auf F ür alle, die den Nature-Writing-Klassiker des leidenschaftlichen Wanderers und Entdeckers John Muir noch nicht gelesen haben, schafft Band 71 der Naturkunden-Reihe einen neuen Anreiz zur Lektüre, die es in sich hat – auch auf ganz uner- wartete Weise. Da werden, wie wir Muir kennen, präzise alle Arten von Wasserfällen, die Reise auf einer Lawine, die Bewegung einer Wolke und die Berge so detailliert beschrieben, wie man es niemals für möglich gehalten hä† e. Der sympathisch zauselig aussehende Muir mit Rauschebart und seine Texte sind längst Ikonen geworden. Umso bedeutender, dass Herausgeberin Judith Schalansky dem Altbekannten eine neue Stimme vorangestellt hat: Das Vorwort des keniani- schen Naturschützers und Ökologen Mordecai Ogada lässt den vielzitierten Muir in neuem Licht erschei- nen. Am Beispiel des Yellowstone-Nationalparks macht er deutlich, was auch für andere Parks gilt und das Kernproblem dieser Form des Naturschutzes beschreibt: Yellowstone ist »ein zwei Millionen Hektar großes Gebiet, von dem man die Vorfahren der Kiowa- und Crow-Nationen vertrieben hat, um ein Erholungs- gebiet für Siedler zu schaffen. Naturschutz war und ist auch weiterhin ein integraler Bestandteil des Kolo- nialismus, denn er ›enž ernt‹ indigene Völker aus der Landschaft«. Und so findet sich auch in Muirs Schilderung des Yosemite kaum eine Begegnung mit der indigenen Bevölkerung. Die Begegnungen aber, die geschildert werden, sind umso erschü† ernder. Wenn er trocken erläutert, dass die drei Gipfel www.keuze-leipzi.de »Three Brothers« ihren Namen von den 1852 gefan- gen genommenen und ermordeten drei Söhnen des Yosemite-Häuptlings Tenaya haben. Und wenn er schreibt: »Alle zivilisierten Völker dieser Erde schaffen sich immer neue und grö- ßere Gärten und Parkanlagen, weil sie den innewohnenden Wert für sich erkannt haben.« Es wird Zeit, das kolo- niale Erbe der Nationalparks anzuerkennen und aufzuarbeiten. Und die »Legende von John Muir nun nicht mehr als Inspiration für die Zukunft [zu] begreifen, sondern als ein Prisma, durch das wir jenes irrige Konstrukt betrachten können, das wir als ›Na- turschutz‹ bezeichnen«. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ John Mui: Yosemite. Aus dem Ameikanischen von Jens Lindenlaub. Mit einem Vowot von Modecai Oada. Belin: Ma hes & Seitz €‚. ƒ S., ƒ … »Genauso schnell stieg sie [die Wolke] aber plötzlich auch wieder hinab und eilte, ihren zerfransten Schweif durch die Kiefern schleppend und deren Wipfel mit unendlicher Zärt- lichkeit streichelnd, über die Wiesen, glitt auch hinter ein Wäldchen und einzeln stehende Bäume und brachte auf diese Weise deren sich in feierlichem Rhythmus wiegende Umrisse besonders zur Geltung.« Elegant und leicht zugleich erzählt Reinhard Tötschinger die Geschichte vom Triumph des Schönen über die Hässlichkeit der Macht. Meisterlich! Nils Mohl Freitag, 22.10., 11.00 Uhr Forum der Unabhängigen Messe, Halle 3.1, E 105 Picus Verlag 1 Halle 3.1, D 35 41 41

Verkannte Leistungsträger:innen Berichte aus der Klassengesellschaft Herausgegeben von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey edition suhrkamp SV »Aber hier spricht das Papier, und da habe ich nicht so viele Chancen.« : Selten sichtbar, aber unverzichtbar Oliver Nachtwey und Nicole Mayer- Ahuja versammeln Stimmen ver- kannter Leistungsträger K latschende Menschen auf den Balkonen – das sind die Bilder, die in der Pandemie um die Welt gingen. Für eine kurze Zeit schien das Virus deutlich zu machen, wie immens wichtig die Arbeit vieler Menschen für die Ge- sellschaft ist. Ob im Gesundheitswesen, in der professionellen Sorgearbeit, in der Lebensmit- telindustrie, dem Einzelhandel oder dem Hy- gienegewerbe, für alle war plötzlich klar: Sie halten den Laden am Laufen, ob nun gerade Pandemie ist oder nicht. Oliver Nachtwey und Nicole Mayer-Ahuja bezeichnen sie als »ver- kannte Leistungsträger« – unverzichtbar für die Reproduktion der Gesellschaft, ihr Beitrag für dieselbe jedoch nur selten sichtbar. Um das zu ändern, haben die beiden Herausgeber ih- nen nun einen Sammelband gewidmet. Er soll den Blick dafür schärfen, wer sie sind, wie sie arbeiten und leben. Vor allem aber sollen die Leistungsträger eines: endlich wahrgenom- men werden. Wer dieses Buch liest, fühlt sich vielleicht schnell in die Unizeit zurückgeworfen, ver- sammelt es doch eine Reihe an wissenschaft- lichen Aufsätzen: eine Anmerkung da, ein Quellenhinweis hier und nicht zu vergessen das Literaturverzeichnis. Kein Wunder: So- wohl Mayer-Ahuja als auch Nachtwey sind Pro- fessoren, ebenso sind die jeweiligen Autoren alle wissenschaftlich tätig. Dennoch bieten sie mit ihrem Band einen sprachlich wie auch in- haltlich guten Zugang zur Welt der verschiede- nen Leistungsträger. Grund dafür sind vor allem die persönlichen Gespräche mit den Arbei- tern, welche die Grundlage für jeden einzelnen der insgesamt 22 Sammelbeiträge bilden. Durch eine Reihe von persönlichen und aus- giebigen Zitaten rücken die porträtierten Men- schen der versprochenen Sichtbarkeit ein wenig näher. ANNA HOFFMEISTER ▶ Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey (Hg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2021. 380 S., 22 € : Li-La-Laudatiobär Eigenlob stinkt: »Die nachhaltige Stadt« feiert Wien (zu Recht) Ja, Wien ist eine großartige Stadt. Rüstkam- mer und Kaffeekultur, grüne Oasen, alther- gebrachte Angeberarchitektur und super ÖPNV. Man macht so einiges, ja, vieles richtig in Wien – darauf ein einfaches Eigenlob zu sin- gen, macht noch kein Manifest für »die nach- haltige Stadt«. Das allerdings versucht Thomas Madreiter, Wiener Planungsdirektor. Es ist tatsächlich beeindruckend, was Wien zum Beispiel im Bereich Wohnen geleistet hat – über Jahrzehnte hat die Stadt eigenen sozia- len Wohnraum geschaffen, was Spekulationen den Boden abgräbt. Madreiter räumt mit dem Mythos auf, Stadt und Land seien krasse Ge- gensätze oder sogar Kulturgrenzen, und er zeigt, dass die Zukunft der Nachhaltigkeit in den Städten entschieden wird. Alles leider im- mer nur am Beispiel Wien. So wirkt sein Büchlein wie ein Fachvortrag der Best Practice, das richtige Entscheidungen versammelt – die zum Teil aber hundert Jahre zurückreichen. Anleitend als Maßnahme ge- gen Mietpreisdruck heute oder zum Nachden- ken über das urbane Zusammenleben ist das daher sehr bedingt. Im Buch ist nichts falsch, die Erkenntnis, dass die »digitale Stadt« nicht bei den technischen Möglichkeiten, sondern menschlichen Bedürfnissen ansetzt, bemer- kenswert. Aber diese Prosa liest sich leider so: »Und natürlich einen neuen Blick auf das Thema Governance: Am Ende geht es darum, mehrheitlich getragene, attraktive Zukunfts- bilder zu formulieren, denn nur diese sind ver- wirklichbar. Das setzt Kooperation voraus: in- nerhalb der Stadt, regional, national, international; mit anderen staatlichen Ebenen, mit der Wirtschaft, mit der Wissenschaft – und natürlich mit allen Bürger*innen.« Von der Lebendigkeit, die eine Stadt aus- macht und für die auch das schöne Wien be- kannt ist, fehlt in dieser Li-La-Launelaudatio leider alles. TOBIAS PRÜWER ▶ Thomas Madreiter: Die nachhaltige Stadt. Städte als Laboratorien des Wandels (Wiener Vorlesungen). Wien: Picus 2021. 64 S., 12 € »Ein derart großes Angebot setzt den privaten Wohnungsmarkt bezüglich Preis und Qualität gehörig unter Druck.« www.kreuzer-leipzig.de I E G E Z N A Josefine Mutzenbacher Kritische Ausgabe nach dem Erstdruck Hg. v. Clemens Ruthner, Melanie Strasser und Matthias Schmidt Mit Beiträgen von Oswald Wiener 424 S., Klappenbroschur in Bütten, Fadenheftung, Format: 16,5 × 23 cm ISBN 978 3 85449 575 8 € 34,– » der wohl einzige deutsche pornographische roman von weltrang Oswald Wiener » »Es handelt sich um den Schlüs- sel(loch)roman der Wiener Jahr- hundertwende, der lange vor Wolf Haas aus dem Wiener Dia- lekt eine Kunstsprache machte. Die Mutzenbacher zeigt uns – buchstäblich – die Kehrseite der Ära Wiens um 1900, indem sie manisch von dem spricht, wovon der literarische Kanon jener Zeit schweigt: ein fröhlicher Kinder- und Sozialporno des Vorstadt- Elends der ›entrischen Gründe‹ von Ottakring – eine ebenso artistische wie bedenkliche Parallelaktion zu Schnitzlers Reigen und Freuds Theorie einer infantilen Sexualität. Deshalb verdient die unzüchtige Mutzen- bacher eine anständige Edition, die einen kritischen Diskurs über sie ermöglichen soll. Es gilt, ein literaturwissenschaftliches Ver- säumnis wettzumachen.« Clemens Ruthner 43 sonderzahl

SACHBUCH | : Frieden auf Lanzarote Kunstkritiker und Schriftsteller Daniel Schreiber widmet sich in seinem neuesten Essay-Projekt dem Alleinsein I E G E Z N A E ssays sind nicht »Wie sich herausstellte, konnte man nirgends besser vor sich weglaufen als in den Bergen um den Vierwaldstätter See.« unbedingt die Paradedisziplin der aktuellen deutsch- sprachigen Literatur. Umso schöner ist es, wenn ein Schriftstel- ler die Kunst des eleganten und dabei gleichzeitig tief- schürfenden Essays beherrscht, so wie Daniel Schreiber. Der Kriti- ker und Schriftsteller schreibt Essays, die vom Persönlichen ausgehen, dann aber einen zweiten Bogen schlagen zu Kunstgeschichte, Literatur und Wissenschaft. Empfehlenswert sind seine bereits erschienenen Bücher »Zuhau- se«, in dem er darüber reflektiert, was ein sol- ches ausmacht, und das viel gelobte »Nüchtern. Über das Trinken und das Glück«. »Allein« reiht sich beinahe nahtlos in diese Reihe und passt darüber hinaus perfekt in un- sere Zeit, in der die Frage des Alleinseins für viele Menschen ungemein drängend geworden ist. Schreiber selbst gehört zu diesen Menschen. Zu Beginn der Pandemie hat er keinen Partner, gleichzeitig macht er die Erfahrung, dass sich die Menschen aus seinem Umfeld in ihre Familien zurückziehen und er zurückbleibt. Das bringt ihn dazu, über sein Bild eines Netzes aus Freunden neu nachzudenken, seine Lebenssituation ohne Partner zu hinterfragen. Mithilfe von Jacques Derrida, Roland Barthes, Maggie Nelson, Silvia Bovenschen, Janosch Schobin und vielen anderen reflektiert er in »Allein« über Freundschaft, den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein, das Wan- dern in der Schweiz und auf Lanzarote und seine Therapieerfahrungen. Gleichzeitig zeich- net er in berührender Sprache eine persönliche Reise nach, die das Lesen zu einer intimen Erfahrung macht. Hier öffnet jemand sein Herz, ohne sich selbst auf unangenehme Weise in den Mittelpunkt zu stellen, sondern vielmehr in dem Versuch, dem eigenen Erleben nachzu- spüren, eine Erfahrung fühlbar zu machen. »Allein« ist vermutlich mit das Beste, was man zur Corona-Krise lesen kann, gerade weil es kein Buch über Corona ist. JOSEF BRAUN ▶ Daniel Schreiber: Allein. Berlin: Hanser Berlin 2021. 192 S., 22 € : Lieber erst mal hinsetzen Bettina Fellmann fordert die Anerkennung der Traurigkeit T raurig, ja beinahe trostlos sind die Zeich- nungen von Künstlerin Rebekka Weihofen, doch lösen die schlichten auberginefarbenen Skizzen seltsamerweise ein Gefühl des Zuhau- seseins aus. Da verwachsen die langgezogenen Glieder einer Person mit den Wänden, ein Mensch wird ins Unendliche reproduziert und aneinandergelegt, so dass sich ein Muster ergibt, in das man auch Stühle hineinlesen könnte. Der Mensch wird zum Möbel, und man fragt sich unweigerlich: Sitzt er noch oder ist er schon besessen? Lange Flure, Schächte, alles nur angedeutet, und dadurch umso massiver. Ein Mensch sitzt am Tisch, seine Arme reichen über die Platte, die Hände sind schon nicht mehr im Bild, gibt es sie überhaupt? Schaudern löst das aus, ein Schaudern, das seine Entsprechung im Text findet. »Ein erschöpftes Heft«, heißt es im Untertitel und, ja, die schöpferi- schen Gedanken Fellmanns lassen einen durchaus auch niederge- schlagen zurück. Der Essay der seit 1998 als Krankenschwester arbei- tenden Fellmann fasst selbst in einem Satz ganz gut die Absichten der Autorin zusammen: »Ich möchte nicht erklären, was Traurig- keit im Speziellen oder in Abgren- sen.« »Ein wesentliches Ziel menschlicher Anstren- gung müsste demnach sein, das verallgemeinernde Gleichheitszeichen durch- zustreichen und alles wie- der in seiner besonderen Gestalt hervortreten zu las- zung zu Depression und Verzweiflung bedeutet. Mir geht es darum zu vermitteln, wie unser bruchstückhaftes da sein mit dem herrschen- den Grauen zusammenhängt – und warum es wichtig ist, sich angesichts dessen zu ›erlau- ben‹, auch traurig zu sein.« Das herrschende Grauen? Die Verwertungslogik der Marktwirt- schaft, die uns ersetzbar macht und gleichzei- tig den Individualismus predigt. Wahlweise lähmend oder zerstörend wirke der daraus resultierende Narzissmus. »Dem ›äußeren Gefängnis‹, das Staat und Gesellschaft bilden, können wir lebend nicht entgehen – und ganz lebendig werden wir darin nicht gelassen«, lautet die Schlussfolgerung. Und der Appell? »Verwirklichen können wir etwas Besseres nur, wenn wir uns selbst in der Welt aushal- ten: Wenn wir lernen, mit unse- ren Beschädigungen gegen die Ursachen zu leben. Das System, das von uns zehrt, verdient nicht, erhalten zu werden.« Ein kluges, trauriges, wunderschö- nes Heft. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Bettina Fellmann: Zur Verteidigung der Traurigkeit. Ein erschöpftes Heft. Gezeichnet von Rebekka Weihofen. MaroHeft #5. Augsburg: Maro 2021. 36 S., 16 € www.kreuzer-leipzig.de 45

»Man ahnte ja noch nicht, wie alles sich wenden würde, aber man hatte doch den Alpdruck und fürchtete.« : Bewegende Dokumente Kurt Landauers Lebensbericht und Briefwechsel mit seiner Frau Maria Baumann A ls die Ultras vom FC Bayern München den ehemaligen Präsidenten Kurt Landauer (1884–1961) zum 125. Geburtstag mit einer überdimensionalen Choreografie ehrten, be- gann die langsame Aufarbeitung innerhalb der Vereinsgeschichte. Seither hat sich einiges ge- tan – es gibt Gedenktafeln, Filme, eine Kurt- Landauer-Stiftung und nun ein Buch, das den Menschen Landauer auf besondere Art vor- stellt. So kommen hier, in unserer heutigen Zeit, in der Zeitzeugen des Nationalsozia- lismus immer weniger werden, die Akteure in ihrer eigenen Zeit zu Wort. Jutta Fleckenstein und Rachel Salamander veröffentlichen im Buch erstmals den Lebens- bericht des Bayernpräsidenten. Handschriftlich, : Naturgrundlagen Nobelpreisträger Frank Wilczek erklärt, was die Welt zusammenhält D ie Fundamentalkritik zuerst: »Fundamen- tals« startet mit einer naiven Wahrheits- theorie und der Falschbehauptung, erst moderne Gesellschaften seien zum Experi- ment fähig. Historische Kulturen hätten nur per Zufall zur technischen Entwicklung gefun- den. Das ist nachweislich falsch. Bleibt der Physiker aber in den Kapiteln darauf bei seinem Leisten, wird die Lektüre spannend. Wilczek beschreibt zehn Prinzipien, auf de- nen die moderne Physik beruht. Das sind ei- nerseits Größen wie Raum und Zeit, Teilchen und Wellen, aus denen die Dinge bestehen. Die zweite Kategorie sind Werden und Entwi- ckeln, Anfang und Ende sowie die Notwendig- keit, die Gegenstände aus vielen Perspektiven zu betrachten, um zur umfassenden Erkennt- nis zu gelangen. Es geht um atomare Puzzles, man erfährt, was es mit der Quantenmechanik so auf sich hat und dass es tatsächlich gar nicht so viele Gesetze gibt, die das Universum und den ganzen Rest bestimmen und bewegen. Auch die offenen Rätsel, die bisher ungeklär- ten Fragen der Physik lässt Wilczek nicht unberührt. Er begreift sie vielmehr als Heraus- SACHBUCH | im Schweizer Exil, auf 77 Seiten Anfang 1945 verfasst, richtet er sich an seine Lebensgefähr- tin Maria Baumann (1899–1971). Mit dem seit 1919 im Amt befindlichen Land- auer feierten die Bayern 1932 ihren ersten Meistertitel. Am 22. März 1933 gab er – der assimilierte Jude – den Posten auf, schaffte 1939 die Ausreise mit Hilfe seiner ehemaligen Freundin Maria Klopfer, die ihn finanziell unterstützte, während vier seiner sechs Ge- schwister im Holocaust starben. In Landauers Lebensbericht geht es nicht um Fußball, sondern um sein Leben mit einer Frau – er ist eine Liebeserklärung. Nach der Pogromnacht 1938 wird Landauer verhaftet. Über seinen Aufenthalt im KZ schreibt er nichts Konkretes: »Ich will mit Absicht all das übergehen«, aber die Beschreibung des ersten Abendessens mit Messer und Gabel lässt das Trauma erahnen. Noch vor Kriegsende steht sein Entschluss fest, dass er nach München zurückkehren wird. Der Bericht endet mit ei- nem Hochzeitsantrag an Maria Baumann, die anschließende Hochzeit findet 1955 statt. In demselben Jahr erhält Landauer finanzielle Un- terstützung aus einem Wiedergutmachungs- prozess. Im Buch finden sich neben dem Lebensbericht die Briefwechsel mit Baumann nach 1945 wie unter anderem auch ein Denun- ziationsschreiben von 1938. Ein Lesemuss! BRITT SCHLEHAHN ▶ Jutta Fleckenstein, Rachel Salamander (Hg.): Kurt Landauer. Der Präsident des FC Bayern. Lebensbericht und Briefwechsel mit Maria Baumann. Berlin: Insel Verlag 2021. 379 S., 28 € forderung für sein Fach und wundert sich mit Recht darüber, dass die Menschheit schon zu so viel Erkenntnis gelangt ist. Man muss sich nicht in Tafelwerken und Formelsprachen aus- kennen, um folgen zu können. Immer hat der Autor bildhafte Vergleiche parat, um auch so unfassbare Phänomene wie die Unendlichkeit irgendwie denkbar darzustellen – von wegen trockene Naturwissenschaft. Wilczek doziert nicht, sondern teilt auf ver- ständliche Art sein Wissen mit. Kenntnisreich und mit Begeisterung für sein Fach lässt er an der Faszination Wissenschaft teilhaben, was das Buch interessant macht und die Lektüre zu einer Freude. TOBIAS PRÜWER ▶ Frank Wilczek: Fundamentals. Die zehn Prinzipien der modernen Physik. München: C.H. Beck 2021. 255 S., 24 € »Es ist schön, das Rätselhafte zu erfahren, und es hat Folgen.« Bücher im Gespräch – Themen, die bewegen: brandaktuell, originell, historisch spannend I E G E Z N A ISBN 978-3-360-01378-1 | 15,00 € ISBN 978-3-360-02800-6 | 15,00 € ISBN 978-3-360-02801-3 | 16,00 € www.kreuzer-leipzig.de 47 www.eulenspiegel.com

: Rassistische Logik brechen Ozan Zakariya Keskinkılıçs Sachbuch »Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes« I E G E Z N A Geoffroy de Lagasnerie SACHBUCH | W enn wir Worte wie »reißerisch« und »po- lemisch« positiv besetzen, solange damit herrschaftskritische Schriften marginalisierter Minderheiten gemeint sind, haben wir die richtigen Adjektive für das Buch »Muslima- niac. Die Karriere eines Feindbildes« des Poli- tikwissenschaftlers Ozan Zakariya Keskinkılıç gefunden. Die Autorin dieser Rezension jeden- falls liebt herrschaftskritische Polemik, weil sie aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft eine klare Grenzüber- schreitung darstellt. Keskinkılıç nimmt rassistische Zuschrei- bungen, Stereo- type, Exotisierung und Hypersexuali- sierung auseinan- der, liefert dabei persönliche Einblicke »Manchmal muss man die rassistische Logik brechen, bevor sie einen bricht.« in sein Leben als »der Fremde«. So erleben die Lesenden, wie sein kleines Kind zur Projekti- onsfläche rassistischer Vorurteile gemacht wird, wie Rassismus sein Selbstverständnis als junge Person prägte, wie die Mehrheitsgesell- schaft auf seine Beziehung mit der weißdeut- schen Ehefrau reagiert und vieles mehr. Seine persönlichen Erfahrungen in Deutschland rahmt er gekonnt ein, indem er auf rassistische, antisemitische, misogyne und homofeindliche Kontinuitäten aufmerksam macht – diese ziehen sich wie ein roter Faden durch die acht Kapitel. Nicht nur aus der Geschichte und Wissenschaft, sondern auch Gedichte und Tweets werden in diesem Buch großzügig zitiert. »Muslimaniac« handelt primär von antimusli- mischem Rassismus – so ist das Buch Marwa El- Sherbini gewidmet, die 2009 im Dresdner Land- gericht von einem Rassisten erstochen wurde. Er hatt e sie zuvor rassistisch beleidigt und saß des- halb auf der Anklagebank. Das Buch stellt aller- dings auch eine wichtige Intervention in Bezug auf Intersektionalität dar – die unterschiedlichen Formen von Diskriminierung also, die gleich- zeitig und zusammen auftauchen. SIBEL SCHICK ▶ Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes. Hamburg: Edition Körber 2021. 272 S., 20 € : Bruchstücke aus der Antike Zwei Journalisten auf den Spuren der »Schatzjäger des Kaisers« W enn eine Dreiviertelmillion Kilogramm antiken Marmors von einem deutschen Archäologen salopp als »Architekturstücke« bezeichnet werden, kann etwas nicht stim- men. Die Rede ist hier vom berühmten Markt- tor von Milet, das 1907 in Kleinasien gefunden wurde und heute noch als eines der prunk- vollsten Ausstellungsstücke im Berliner Perga- monmuseum gilt. akzeptierte lächerlich niedrige Kaufbeträge? Weshalb ließen sich Museumsdirektoren und Sultane in Konstantinopel dermaßen an der Nase herumführen? Indem die beiden Autoren nicht nur die Archäologiegeschichte, sondern auch die politische Situation während der regen Grabungszeiten im 19. Jahrhundert be- leuchten, liefern sie schlüssige Antworten auf diese und andere Fragen. Das Autorenehepaar Zaptcioglu-Gott schlich Ob sich die Geschichten damals alle genau geht in seinem Buch über »die Schatzjäger des Kaisers« der Fundgeschichte antiker Kost- barkeiten nach. Es stellt originale Geheimver- träge, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Briefwechsel und Archivmaterial den offiziel- len Korrespondenzen und Erklärungen der europäischen Museen gegenüber. Die Zusam- menstellung der Quellen deckt auf, wie gut die Grabungsforscher sich damals darauf verstan- den, Marktschacherei zu betreiben, behördliche Vorgaben und geltende Antikengesetze zu um- schiffen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn ein Großteil der gefundenen Schätze wurde nicht selten unverzüglich auf dem Seeweg außer Landes gebracht, statt ihn redlich zu tei- len. Warum aber wehrte sich die Regierung des Osmanischen Reiches nicht gegen den prakti- zierten Kunstraub eines Pergamonaltars und www.kreuzer-leipzig.de so zugetragen haben, wie hier geschildert, wer- den wir wohl nie erfahren. Spannend ist dieser flüssig geschriebene Ritt durch die europäi- schen Beutezüge im Osmanischen Reich und die deutsche Museumsgeschichte bis in die Gegenwart allemal. HANNA SCHNECK ▶ Jürgen Gott schlich, Dilek Zaptcioglu-Gott schlich: Die Schatzjäger des Kaisers. Deutsche Archäologen auf Beutezug im Orient. Berlin: Ch. Links Verlag 2021. 336 S., 25 € »Wollen Sie nicht die ganze Akropolis kaufen?« Ein Werk, das den Rahmen der politischen Theorie tiefgreifend erneuert. struktion der politischen Philosophie, Geoffroy de Lagasnerie Das politische Bewusstsein 0 2 0 2 s i u o L d r a u o d É © Passagen Verlag Hg. von Peter Engelmann Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard 2021. 352 Seiten. Paperback. ISBN 978-3-7092-0473-3 € (AT) 22,60 / € (DE) 22,00 Auch als E-Book erhältlich: eISBN 978-3-7092-5048-8 49 Erhältlich im Passagen Webshop: www.passagen.at

STEFAN SCHMITZER I E G E Z N A KUNST | unter diesem Stück Himmel sowie mit den GPS-Koordinaten versehen. Mehr als die Hälfte der Lager existieren heute nicht mehr. Kusters hat mit seinen Fotografien den kleins- ten gemeinsamen Nenner der systematischen Vernichtung abgebildet — auch abseits großer Namen wie Auschwitz, jenseits schockierender Bilder bleibt irgendwann schlicht nicht mehr als der Himmel über uns. Sicherlich kein einfa- ches Buch, sicherlich kein leichter Effekt. : Blau Ein Fotoprojekt erinnert an die Opfer der Konzentrationslager Gerade in einer Zeit, in der nur noch wenige Zeugen persönlich von den Verbrechen der Nationalsozialisten berichten können, stellt sich die Frage nach dem Erinnern und dem Gedenken. Mit seinem Projekt »1078 Blue Skies/4432 Days« findet der belgische Künstler Anton Kusters eine ungewöhnliche und berüh- rende Antwort. In sechsjähriger Recherche hat er ein Stück blauen Himmels über jedem frü- heren Konzentrations- oder Vernichtungs- lagers der Nazis in Europa fotografiert. 1.078 Himmelsfotos sind so entstanden. Bilder eines Himmels, den auch die Gefangenen der Lager erblickten, wenn sie an einem der 4.432 Tage, die diese Lager existierten, ihren Kopf hoben und nach oben schauten. Ein beklemmender Gedanke und ein nachhaltiger Effekt: Wer den großen, schweren Bildband angesehen hat, dem kommt beim gedankenlosen Blick in den Himmel fortan in den Sinn, was Millionen Men- schen zur Zeit der Nationalsozialisten erleiden mussten. Jedes Polaroid ist von Hand mit der Anzahl der Opfer Aber warum so viele Deutsche beim Geden- ken an die Opfer des NS in Abwehrhaltung ge- hen, ist auch nicht so einfach zu verstehen. Schließlich leben wir, so zeigt Kusters ein- drücklich, unter demselben Himmel — eine besondere Art der Verantwortung, die aus dieser Erkenntnis wächst. Das stete Erinnern als Grundlage dafür, mit der Kollektivschuld eines unvorstellbaren Verbrechens umzuge- hen. Auch in Zukunft. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Anton Kusters: 1078 Blue Skies/4432 Days. Heidelberg: Kehrer 2021. 444 S., 80 € »Feininger war nie lebendiger als in der Anfangszeit am Bauhaus.« : Der Egozentriker Zum 10. Geburtstag erzählt Andreas Platt haus die Lebensgeschichte von Lyonel Feininger Andreas Platt haus, FAZ-Literaturredakteur und bekennender Comic-Anhänger, widmet Lyonel Feininger 2021 zum 150. Geburtstag und 65. Todestag eine umfassende Biografie. Bereits das Cover weist die Richtung. Zu sehen ist Feiningers erstes Selbstporträt mit dem Titel »Selbstbildnis mit Tonpfeife« aus dem Jahr 1910, und damit fiel die Wahl auf keines seiner Werke, die seit Langem schon den Status »Klassiker der Moderne« innehaben: keine Dorf- kirche aus Thüringen, keine Hallenser Stadtan- sicht und auch keine Hafenszene. Vielmehr zeigt es den leicht dämonisch schau- enden Künstler. Das Bild wurde von Feininger im Atelier aufbewahrt und landete beim Umzug von Dessau nach Berlin 1933 im Papierkorb, aus dem es Freund Hermann Klumpp rett ete. Platt haus schaut auf den Menschen Feinin- ger in seiner Zeit. Das Buch erzählt chronolo- gisch von seiner Jugend in Amerika, seinen ersten Aufträgen als Karikaturist in Berlin und Comic-Zeichner für US-amerikanische Blätt er, die Zeit am Bauhaus und die Flucht 1936 in die USA. Andere Protagonistinnen der Zeit – so zum Beispiel die Keramikerin Marguerite Fried- laender – werden ebenso vorgestellt. Drei Bild- teile sind dem Text zur Seite gestellt. Sie zei- gen Arbeiten, wie etwa Blätt er der frühen Comics oder sein Emblem für die Titelseite des Bauhaus-Manifests, und Fotografien aus dem persönlichen Leben. Platt haus gelingt ein sehr komplexes Buch, das sich gut liest und viele Anregungen zum weiteren Schauen liefert. Die Feininger-Gale- rie in Quedlinburg beispielsweise, die auf Ba- sis der Sammlung von Klumpp vor 35 Jahren entstand, zeigt bis zum 9. Januar 2022 die Aus- stellung »Becoming Feininger«. BRITT SCHLEHAHN ▶ Andreas Platt haus: Lyonel Feininger. Porträt eines Lebens. Berlin: Rowohlt 2021. 448 S., 28 € S t e f a n S c h m i t z e r l i s t e de r k ün s t l i c hen ob jek t e au f dem mond g e d i c h t R I T T E R L I T E R A T U R ca. 120 Seiten brosch. ISBN: 978-3-85415-626-0 € 14,90 Eine energiegeladene Dichterrede, deren Ton kraftvoll zwischen archaisierender Weis- sagung und flackernden Beat-Gesten wechselt: Eine singuläre Formfindung lunarer Poesie! www.kreuzer-leipzig.de 51 w w w. r i t t e r b o o k s . c o m

KUNST | : Schau Das Frankfurter Städelmuseum zeigt die Fotoausstellung »Neu Sehen« E rst Ende der 1970er Jahre fanden Fotogra- fien Eingang in große Kunstausstellungen – sei es im Westen bei der Documenta oder im Osten bei der DDR-Kunstausstellung in Dresden. Auch als Sammlungsobjekte wurden sie erst seither in den Museumshäusern aufgenommen. Wenn das Städelmuseum nun eine Ausstel- lung der 1920er und 1930er Jahre samt Katalog präsentiert, fällt dies besonders auf, denn die Mehrzahl der Arbeiten wurde erst im 21. Jahr- hundert für den Museumsbestand erworben. Was allerdings noch mehr auffällt, ist die bürgerliche Auswahl und Sichtweise auf eine Technik, die von Beginn an die Klassenunter- schiede betonte. Die Schau möchte das neue Sehen zeigen. Essays beleuchten die damalige Situation der Fotografie auf dem Gebiet der Ausbildung, Presse, Bildnis, Werbung, Industrie und Pro- paganda. Den über einhundert ausgewählten Fotografien – teils aus dem Museumsbestand, teils als Leihgaben – werden im Katalog jeweils eine Seite zur Verfügung gestellt: von Erich Salomon, dem ersten Bildreporter, der seine Pressefotos auch signierte, über Karl Bloss- feldt im Bereich Naturfotografie, Hugo Erfurth und August Sander mit ihren Porträtaufnahmen hin zu Werbefotografien von Walter Dexel, YVA, Umbo oder Propagandafotografie von den Olympischen Spielen 1936 bis zur Adolf-Hitler- Autogrammkarte aus dem Jahr 1927 von Hein- rich Hoffmann. Eine Ausstellungsthese lautet: »Neues Sehen symbolisiert den Fortschrittsglauben der Wei- marer Republik«. Allerdings beweist die vorge- nommene Auswahl einen sehr eingeschränkten Blick auf die Vergangenheit der Fotografie. Es fehlen dabei die Arbeitslosen der damaligen Zeit, von denen es sehr eindrucksvolle Aufnah- men gibt. So bleibt der Eindruck einer ausge- rechnet den Zeitraum betreffenden Auswahl, die sich – aus welchen Gründen auch immer – der sozialdemokratischen und kommunisti- schen Fotografie verschließt und gleichzeitig eine Vielzahl an nationalsozialistischen Moti- ven bereithält. BRITT SCHLEHAHN ▶ Kristina Lemke, Städel Museum Frankfurt/Main (Hg.): Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre. Berlin: Kerber 2021. 256 S., 49,90 € »Photos fesseln das Auge!« »Brave scouts tell their friends where the sweetest berries grow.« men lässt, wenn man zurückkehrt. »To Be A Brave Scout« ist eine humorvolle Hommage an jeden Pfadfinder-Ratgeber und liefert damit die einzig wahre Waldanleitung: reingehen, lie- ben, genießen, erkunden, staunen. Und nicht vergessen: »the greatest treasure is to find a good fellow«. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Julia Kluge: To Be A Brave Scout. Kassel: Rotopol 2021. 32 S., 10 € Offenlegung: Julia Kluge hat auch schon für den Kreuzer gearbeitet : Wunderwald Julia Kluge liefert eine zauberhafte Anleitung für Abenteuer E in schmales Bändchen ist »To Be A Brave Scout« zwar schon, doch Julia Kluge weiß, wie sie ihre Leserinnen und Leser auf nur 32 Seiten in Staunen versetzen kann. Bonbonfar- ben, psychedelisch und ungeheuer liebenswert sind die Illustrationen der 1989 geborenen Leipziger Zeichnerin. Kluge studierte an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Kommunikationsdesign, absolvierte außerdem ein Masterstudium im Fach Illustration an der Universität der Künste Berlin. Dass sie neben dem Illustrieren auch Schreiben kann, bewei- sen die einzelnen Sätze, die sie in ihre Bilder eingebaut hat – denn mit wenig ganz viel aus- zudrücken, ist auch in der Sprache die große Kunst. Aber worum geht es denn nun? Ganz einfach: um die kleinen Abenteuer im Wald. Darum, dass Brave Scouts ihren Freunden ver- raten, wo die süßesten Beeren wachsen, da- rum, dass sie »crazy in love with flowers« sind. Darum, dass man manchmal traurig in den Wald geht und die Trauer zwischen den Bäu- www.kreuzer-leipzig.de 53

: Gewissensentscheidung »Gegen mein Gewissen«: Von einem, der einfuhr, den Kriegsdienst zu verweigern D ie Idee ist langweilig: Hannah Brinkmann beendet ihr Grafikstudium mit einem Comic über ihre Familiengeschichte – ein Ver- lag bringt sie raus. Gibts im Dutzend, braucht oft kein Mensch, aber dennoch werden diese »künstlerischen« Comics als »anspruchsvoll« gefeiert von Menschen, die unbedingt ein Distinktionsmitt el innerhalb der grafischen Literatur gegenüber Superhelden-Comics und Funnys brauchen. Genug geflucht, zum Lob: Hier hat der Avant Verlag mal wieder eine Perle veröffentlicht. Denn Hannah Brinkmann hat wirklich etwas zu sagen. Es ist nicht das verzagte Kramen im Vagen der eigenen eher bedeutungslosen Clan- geschichte. Sie räumt wirklich auf und berich- tet von heute fast Vergessenem. Ihr Onkel gehört zur frühen Generation der Kriegs- dienstverweigerer – jener, der man das Verwei- gern oftmals verweigerte, die man für ihre Haltung ins Gefängnis steckte. Und dieser Onkel, dieser erstaunliche Her- mann Brinkmann, zerbricht am System. Die Autorin holt jene Jahre wieder hervor, in denen Gremien über das Gewissen entschieden und Menschen brachen. (Was bis in die Neunziger ja nicht ungewöhnlich war.) Dabei vollbringt sie das Wunder, einfühlsam das Einzelschick- sal ihres Onkels zu erzählen und es gleichzei- tig in eine bundesdeutsche Debatt e der dama- ligen Zeit einzubett en. »Gegen mein Gewissen« ist eine meistens in ruhigen Bildern erzählte persönliche Geschichte, die am großen Bogen andockt. Sie steht damit stellvertretend für die ILLUSTRATION & COMIC | so vieler namenloser Kriegsdienstverweigerer. Brinkmann verbindet künstlerische Gestal- tungskraft – ihre schlierenhaften Schraffuren sind sehenswert – mit dem Talent einfühl- samen Erzählens. Das macht »Gegen mein Gewissen« wirklich zu einem Schatz, der unbedingt aus der Ecke der Absolventen-Comics geholt werden muss. Dort einzustauben, stünde ihm nicht gut. TOBIAS PRÜWER ▶ Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen. Berlin: Avant 2020. 232 S., 30 € »Dann eben Knast!« : Zugehörigkeit »Steinfrucht« erzählt einfühlsam von der schwierigen Suche nach sich selbst und Akzeptanz B ron ist eine Transperson und lebt in einer queeren Beziehung mit Ray. Ihr Verhältnis wird von den schwierigen Familienverhältnis- sen der beiden überschatt et. Ray hat Knatsch mit ihrer Schwester. Bron hat mit einem christ- lich-konservativen Familienkreis zu kämpfen – leidet erst am Nichtkontakt, dann wieder an Gesprächen mit diesem. Zu sich findet Bron nur, wenn sie mit Ray und deren kleiner Nichte Nessie draußen in der Natur herumtol- len kann. »Oh, wär ich eine Ratte, lebte ich Baum, denn so’n Rattenarsch kann sich vieles traun.« Bitt er und traurig ist »Steinfrucht« und wenig hoffnungsfroh. Der Comic führt in ein kompli- ziertes Beziehungsgeflecht, in die schwierige Situation, in der sich Menschen auf der Suche nach Zugehörigkeit befinden, die sich in nichts sicher sind. Es ist ein mutiger Comic, den Lee Lai als Erstling vorlegt, weil er kein alltägliches Thema hat, das jeden direkt anspricht. Er mag Trost spenden jenen, die sich in einer ähnli- chen Lage wie Bron befinden. Alle anderen Menschen können den Comic als leisen Ver- such auffassen, diese Situation irgendwie nachfühlbar zu machen. Vorgeführt oder gar verurteilt wird hier niemand, alles ist auf Ge- fühl gesetzt. Das passiert vor allem durch die Zeichnungen, also jenseits der sorgenvollen Dialoge. Trist und grau sind die Farben, so als sei Brons Inneres nach außen gekehrt. Wenn die gemeinsamen Szenen mit Nichte Nessie auftauchen, erhalten die Figuren Maskengesichter, werden zu Tieren, die in unabhängiger Ausgelassenheit herumtol- len. Bron ist in diesen Momenten ganz bei sich; der innere Frieden findet stellenweise starken Ausdruck. Das sind die kurzen positiven Schwingungen in diesem Buch, das doch schwere Kost ist. Man kann sich hier nur hin- einfühlen – und vielleicht über das offene Ende hinausträumen. TOBIAS PRÜWER ▶ Lee Lai: Steinfrucht. Aus dem Englischen von Henrieke Markert. Berlin: Avant 2021. 232 S., 28 € ANZEIGE

: Kie de Wahheiten Thrill und Ironie: »Fake Story« ist ein doppelbödiger Krimi ILLUSTRATION & COMIC | I E G E Z N A S K O O E bahoe books B H alloween 1938, das Radiogedudel wird unterbrochen von Horror-News. Außer- irdische greifen die Erde an, erobern mit Tripoden die Städte der USA und grillen Menschen. Die geneigte Leserin erkennt: Hier geht die »Fake Story« von Orson Welles durch den Äther, der den »Krieg der Welten« (H.G. Wells) seinerzeit als realistische Bericht- ersta• ung inszenierte. Ein Teil der Zuhörer nahm diese ernst, geriet in Panik und das gab Ärger. In einem Ort namens Grovers Mills war die Sendung der Auslöser für eine sogenannte Fa- milientragödie. Ein Mann tötete seine Frau und sich selbst, um nicht in die Fänge der Ali- ens zu geraten. Ihr Sohn entging knapp dem Tod. Für den Sender CBS sieht es nicht gut aus, sollte sich der Fall bewahrheiten. Um der drohenden Radiolizenz-Entziehung mit Auf- klärung zuvorzukommen, wird der Ex-Journa- list Douglas Burroughs in die Gegend ge- schickt, um die Kalamität zu untersuchen. Er stellt fest, dass nichts so ist, wie es scheint, und steckt alsbald mi• en im Mief von Klein- geist und Rassismus. Dieser Krimi ist flo• und ansehnlich erzählt und liest sich in einem Ri• weg. Zudem ist er mit einem Clou versehen. Burroughs verpackt seine Erlebnisse in Grovers Mills angeblich in einen Roman, der ihm zum Durchbruch als Li- terat verhilft. Noch nie davon gehört? Kein Wunder, denn den Roman hat es nie gegeben. Die Autoren Pendanx und Galandon nutzen also einen Fake, um ihren Comic um Fake und Fiktion zu erzählen. Das ist eine hübsche Pointe in den Hochzeiten medialer Falsch- meldungen. Und der gut unterhaltene Leser kann behaupten, dass es ihm nicht nur um Spannung ging, sondern dass das Ganze auch ironisch gemeint ist – irgendwie. TOBIAS PRÜWER ▶ Jean-Denis Pendanx/Lauent Galandon: Fake Stoy. Hambu: Scheibe & Lese €. ‚ƒ S., €‚,… † »Wir haben meinen Orangenlikör ausgetrunken, wir dachten ja, es sei das Ende der Welt.« O H A B THE ROLLING STONES Das Comic ! »Sachte, Herr Todbringer, ihr erstickt sie noch.« bahoe books B O O KS E O H A B Céka THE ROLLING STONES Graphic Novel / Fotoband Hardcover 21 · 28 cm 192 Seiten | 25 € : Tollpatsch-Saa Aldobrando sucht das Glück – und Gerechtigkeit Fantasy kann ohne Sex- und Gewaltdarstel- lung auskommen; sehr gut sogar. »Aldo- brando« ist ein Musterbeispiel dafür und punktet mit einer herrlichen Geschichte um einen liebenswerten Tollpatsch und mit hoch- feinem Strich. Aldobrando ist kein Glückspilz. Der Junge mit beschränkter Auffassungsgabe sticht sei- nem Zaubermeister beim Mixen einer Rezep- tur fast ein Auge aus. Auf der Suche nach ei- nem Heilmi• el wird er für einen Prinzenmörder gehalten, soll hingerichtet wer- den und verliebt sich dabei in die Königstoch- ter. Der Weg zum Happy End ist für Aldob- rando steinig. Doch es wird gut ausgehen, so viel darf verraten werden. Denn unterwegs passiert so viel, dass man mit dem armen Kerl mitleidet und mitlacht, der, auch wenn er nicht der Hellste ist, durch seinen unbeirrbaren Gerechtigkeitssinn be- sticht. Überall, wo er es für nötig hält, erhebt er Einspruch. Das beeindruckt. Critone und Gipi erzählen mit »Aldobrando« eine Geschichte von großer Kraft. In Zügen er- innert sie an den Klassiker »Die große Macht des kleinen Schninkel« (das früher auch mal bei Carlsen erschien). Die farbigen Zeichnungen sind kleine hinge- tuschte Meisterwerke, an denen man sich kaum sa• sehen mag. Besonders das ausdrucks- starke Mienenspiel der Figuren begeistert, verleiht den gar nicht so tief angelegten Charak- teren trotzdem emotionale Vielfalt. Kraftvoll sind die Farben, pastellig der Naseweis. An diesen Tyrannensturz will man einfach glauben – dann wird er wahr. Die Gerechtigkeit siegt, alle sehen ihre Fehler ein. Ach, wenn die Welt so schön einfach wäre. Man wird ja mal träumen dürfen. Genau dazu ist dieser Comic da. »Aldobrando« wird so zum aufregenden Märchen für Erwachsene, das unterhaltsam und leich¦ üßig daherkommt. TOBIAS PRÜWER ▶ Gipi/Luii Citone: Aldobando. Hambu: Calsen . … S., … † ÉRIC LIBERGE ARNAUD DELALANDE Liberge, Delalande D E R F A L L A L A N T U R I N G DIE GESCHICHTE UND TRAGÖDIE EINES AUSSERGEWÖHNLICHEN GENIES BAHOE BOOKS ABBAS • JD MORVAN / RAFAEL ORTIZ MUHAMMAD ALI, KINSHASA 1974 AL AN TURIN Graphic Novel Hardcover 22 · 30 cm 96 Seiten | 18 € Abbas u.a. MUHAMMAD ALI Graphic Novel / Fotoband Hardcover 21 · 28 cm 138 Seiten | 24 € bahoe books B O O KS E O H A B K JULIA BILLET CLAIRE FAUVEL Der Krieg von Catherine Billet, Fauvel DER KRIEG V. CATHERINE Graphic Novel Hardcover 22 · 30 cm 168 Seiten | 24 € bahoe books B Ducoudray u.a. DER BOXER VON AUSCHWITZ E Graphic Novel Hardcover 22 · 30 cm 128 Seiten | 22 € bahoe books B B O O KS E O H A O www.keuze-leipzi.de 57 57 bahoebooks.net H

: Poetisch und naturnah »Arno und sein Pferd« erzählt von der Verbundenheit der Generationen M anchmal sind die äußeren Werte doch wichtig – so greift man lieber zu einem Buch mit ansprechender Gestaltung, auch wenn der Titel erst mal weniger interessant wirkt. So wie bei »Arno und sein Pferd«: Es ist fest gebunden und die Farben der Zeichnung strahlen auf dem matt en, leicht rauen Material des Einbandes dem Betrachter entgegen. Es lohnt sich aber auch inhaltlich, dieses Kinder- buch in die Hand zu nehmen. Die Geschichte, die die australische Autorin Jane Godwin hier in schlichten Reimen er- zählt, handelt vom Jungen Arno. Der besitzt ein kleines Holzpferd, das er überall hin mit- nimmt. Eines Tages kann er es plötzlich nicht mehr finden. Zusammen mit seinen Freunden sucht er danach, doch das Pferdchen bleibt verschwunden. Schließlich meint sein Vater, Arno solle es besser vergessen und mit seinen anderen Sachen spielen. Doch das Holzpferd ist nicht einfach irgend- ein Spielzeug für Arno: Sein verstorbener Großvater hat es selbst geschnitzt, als er noch als Cowboy über das Land ritt . Es verkörpert Schönheit und Stärke für Arno und erinnert ihn an seinen Opa. Eines Nachts sieht Arno im »Aber plötzlich entdecken wir etwas.« : Wilde Räume »Unsere Grube« fragt nach einem kindlichen Recht auf Abenteuer W as für Kinder ein Abenteuer ist, betrach- ten Erwachsene als Risiko, sich das Genick oder zumindest die Beine zu brechen. Blöderweise fällt darunter fast alles, was Spaß macht. Davon können auch die Kinder in »Unsere Grube« ein Lied singen. Hinter der Turnhalle befindet sich diese Kuhle, in der sie in den Schulpausen am liebsten spielen. Dort bauen sie Hütt en oder einen Parcours und verstecken sich. Die Lehrer warnen davor, was beim Toben auf dem unebenen Gelände alles passieren kann, doch das hält ihre Schüler nicht davon ab. Bis eines Tages ein Mädchen KINDER | KINDER | I E G E Z N A Traum seinen Großvater und bitt et ihn, das Pferdchen wieder zu ihm zurückzuschicken. »Arno und sein Pferd« spielt überwiegend draußen in der weiten Landschaft. Die Natur ist auf nahezu jedem Bild sehr präsent: Die Freunde suchen am Fluss, am großen Baum oder auf der Wiese hinterm Stall nach Arnos Pferd. Die Illustrationen von Felicita Sala neh- men diesen Naturbezug auf. Sie wirken orga- nisch, die Farbpalett e ist erdig und dennoch leuchtend. Besonders wird die Geschichte durch Arnos Traumerleben. Es verbindet die Generationen miteinander auf eine spirituelle Weise – das passt zur erzählten wie zur gezeichneten Na- turnähe und verleiht dem Buch eine poetische Note. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Jane Godwin & Felicita Sala: Arno und sein Pferd. Aus dem Englischen von Kathrin Köller. Berlin: Insel Verlag 2021. 32 S., 15,90 €, ab 3 J. »Das feste Holz in seiner Hand, es trug ihn meilenweit.« auf dem Schulgelände stolpert und sich die Nase blutig stößt. Sofort wird ein Spielverbot für die Grube erlassen. Erst sind die Kinder entt äuscht, doch dann fällt ihnen auf, wie gut sie am Rand der Senke spielen können – noch viel besser als darin! Kurz darauf ist sie zuge- schütt et, auch der Rand ist nun weg. Wo spielen sie jetzt? Die schwedische Autorin Emma Adbåge fin- det für die eigensinnige Kinderschar einen ebenso eigensinnigen Zeichenstil, wobei sie sich den verschiedenen Situationen und Orten anpasst: Klassenzimmer und Pausenhof sind Erwachsenenterritorium und dementspre- chend ordentlich, wirken jedoch leblos. Die Grube hingegen ist das wilde Reich der Kinder. »Unsere Grube« erzählt von einem typischen Konflikt zwischen Jung und Alt: Wie viel Gefahr gehört dazu, wenn Kinder sich zu Menschen entwickeln sollen, die sich etwas zutrauen? Sind die Sorgen der Erwachsenen nicht berechtigt? Und umgekehrt: Haben Heranwachsende nicht auch das Recht darauf, selbstbestimmt Erfahrungen zu machen? Einfache Antworten gibt es nicht. Sicher ist am Ende von »Unsere Grube« nur eines: Kinder haben die Fähigkeit, fast jeden Ort in einen Abenteuerspielplatz zu verwandeln. Man muss sie nur lassen. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Emma Adbåge: Unsere Grube. Übersetzt aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. Weinheim: Beltz & Gelberg 2021. 34 S., 14 €, ab 4 J. JANOSCH. LEBEN & WERK Eine Retrospektive hrsg. von Marie Thiriet & Marc Bastet 240 S., über 240 meist farbige Abb. fadengeheftes Hardcover EUR 38,-- ISBN 978-3-87536-341-8 Ein buntes Bilderbuch! Abwechslungsreich wie das Werk des Künstlers Janosch! Erschienen zum 90. Geburtstag am 11. Mä‡rz 2021. Erstmals überhaupt eine umfassende Retrospektive des künstlerischen Schaffens von Janosch. Unter halt sam und zur Auseinandersetzung anregend! www.kreuzer-leipzig.de 5959 MERLIN VERLAG 21397 Gifkendorf Nr. 38, Tel. 04137-7207 www.merlin-verlag.com

KINDER | I E G E Z N A : Zuvesicht am Kiosk »Hoff nung« basiert auf einem Gedicht des italienischen Autors Gianni Rodari W ir können sie gut gebrauchen dieser Tage, die Hoffnung. Doch wo erhält man sie, wenn selbst in den Kinderbüchern inzwi- schen vom Weltuntergang, dem Klimawandel oder anderen menschengemachten Übeln die Rede ist. 1960 veröffentlichte einer der erfolg- reichsten italienischen Kinderbuchautoren, Gianni Rodari, ein Gedicht mit dem Titel »Hoffnung«. Nach der raschen Ausbreitung des Corona- Virus in Italien zu Beginn der Pandemie und den verheerenden Bildern aus Bergamo und anderen italienischen Krankenhäusern wurde das Gedicht im europäischen Parlament in einem Akt der Solidarität mit dem Land verle- sen und bildet nun auch die Grundlage für ein Kinderbuch. Illustriert hat es Francesca Ballarini. In einer Mischung verschiedener Techniken schafft sie ausdrucksstarke, groß- flächige Bilder, die die einzelnen Gedichtzei- len mit Leben und Farbe erfüllen. Sie va- riiert zwischen bunt und schwarz-weiß, benutzt Acrylfarben, Grafit und Farbstifte, arbeitet mal ganz fein, dann mit dickem Pinselstrich. Da überlagern sich die Farben, da wirkt es manchmal, als könnte man die letzte getrocknete Schicht noch mit den Fingern abkrat- zen. Vers für Vers erwacht er so zum Leben, der dichterische Traum von einem Kiosk, an dem Hoffnung verkauft wird, in rauen Mengen und für wenig Geld. »Und denen, die ganz arm wären / und nichts übrig hä— en, / denen gäbe ich meine ganze Hoff- nung / umsonst«, schrieb Rodari, der 1980 ver- starb. Die Botschaft seines kleinen Gedichtes ist heute so wichtig wie damals. Vielleicht wichtiger denn je. Umso kostbarer ist dieses Kinderbuch, das bunt ist und wild und voller Hoffnung für sich und die anderen, ohne dabei viele Worte zu gebrauchen. JOSEF BRAUN ▶ Gianni Rodai (Text), Fancesca Ballaini (Illustation): »Na, was meint ihr? Hoffnung.« Hoff nun. Aus dem Italienischen von Susanna und Johannes Riede. München: Susanna Riede ‡ˆ‡‰. Š‡ S., ‰‹ Œ, ab ‘ J. www.keuze-leipzi.de 61 t r o P i n o M © r e t h c e a W p i l i h P © : n o i t a r t t s u l l I Philip Waechter präsentiert »Ein Tag mit Freunden« Frankfut, 23. Oober 021 Poetisch, mit leichtem Federstrich erzählt Philip Waechter von fünf Freunden, die sich die Sonne auf den Pelz scheinen lassen und einen großartigen Tag miteinander verbringen. e h c s u r K e t t o l r a h C © Lisa Krusche liest aus »Das Universum ist verdammt groß und super mystisch« Erfut, 2. Okober 021 Nordhausen, 14. Oktober 201 Ein Junge, der nicht sprechen will. Ein Mädchen namens Charles, das mit allen Wassern gewaschen ist. Zusammen unternehmen sie eine supermystische Reise quer durch Europa, von Berlin nach Istanbul. Alle Lesetermine unserer Autor_innen finden Sie unter beltz.de

I E G E E Z G N E A Z N A I KINDER | : Das wars noch nicht »Die besten Weltuntergänge« vereint Utopien und Dystopien in großflächigen Bildern E s gibt zu wenig Sauerstoff zum Atmen in der Luft.« So beginnt das Bilderbuch »Die besten Weltuntergänge«. Gleich auf Seite eins beschreibt es eine Welt, in der die Menschen hinter Glaskuppeln leben und Helme auf dem Kopf tragen, wenn sie von Kuppel zu Kuppel gehen oder auf der Bank, angeschlossen an Sauerstoff, unter freiem Himmel sitzen wol- len. »Die Natur außerhalb der Gebäude hat sich angepasst und die Menschen kennen die neuen Tier- und Pflanzenarten nicht mehr.« Wie sich die Natur verändert, das spielt für alle der hier beschriebenen zwölf Zukunftsvisi- onen eine entscheidende Rolle. Auf je einer Doppelseite werden sie zunächst von Andrea Paluch geschildert und dann von Annabelle von Sperber in Bilder übersetzt. Das ist manchmal gruselig, etwa wenn eine Mad-Max- artige Welt gezeigt wird, in der große Dürre herrscht und die Menschen sich zu kleinen Gruppen zusammengeschlossen haben, die sich gegenseitig bekämpfen. Manchmal ist es aber auch lustig und schön wie in der Kinder- welt, in der die Kleinen dieselben Rechte ha- ben wie die Großen, wo es eine Greta-Thun- berg-Schule gibt und sowieso alles ein bisschen einfacher und schöner zu sein scheint als in unserer realen Welt. Keine der hier detailreich in Szene gesetzten Visionen einer Zukunft ist wirklich neu, das al- les wurde längst in Filmen, Büchern oder Songs durchgespielt. Das tut jedoch weder den Bildern noch den Beschreibungen einer Fami- lie Abbruch, deren Leben durch die verschie- denen Szenarien hinweg geschildert wird. Wie lebt sie ohne Sauerstoff, wie in der Dürre, im Weltraum oder auf dem Wasser? »Die besten Weltuntergänge« bietet Kindern einen Ein- stieg ins große Feld der Science-Fiction, die manchmal gar nicht so fiktiv wirkt. Wer aller- dings sensibel auf Düsteres reagiert, der sollte vielleicht die eine oder andere Stelle überblät- tern, um Albträume zu vermeiden. So hoff- nungslos und drastisch ist das alles zuweilen. JOSEF BRAUN ▶ Andrea Paluch (Text), Annabelle von Sperber (Illustrationen): Die besten Weltuntergänge. Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder. Leipzig: Klett 2021. 32 S., 16 €, ab 8 J. »Dort, wo Menschen leben, ist ihr Zuhause, egal wo sie geboren sind.« Schöne neue Bücher N B S I / ] D [ – , € / . S / r e l i e W s a m o h T n o v n e h c s i n l o P m e d s u A Eine Weltreise durch die Esskultur von 26 Ländern, gespickt mit Anekdoten, zahlreichen Rezepten und unglaublichen Fakten. N B S I / ] D [ € , , . S Während Flo und Papa Während Flo und Papa friedlich schlummern, geschieht vor dem Zelt Ungeheuerliches … N B S I / ] D [ – , € , . S Das weit und breit sympathischste Hasenkind zeigt, was es alles kann: Rennen, schaukeln, planschen! 63 Moritz Verlag »Hä? Ich schimpfe doch nie!!!« : Für immer Freunde »Der Habicht und der Hahn« ist ein Kinderbuch zum gleichnamigen Song von Käptn Peng D ie Rollen sind klar verteilt im Tierreich, das finden wenigstens die Hühner im Stall. Irgendwo in den Lüften lauert ihr großer Feind, der Habicht, und auf der Erde bei ihnen im Stall sitzt der Hahn, der sie vor dem Ha- bicht beschützt. Doch was ist, wenn Habicht und Hahn befreundet sind, wenn sie am Mor- gen Flügel an Flügel aufwachen? Nun, das sorgt für große Empörung, nicht nur bei der Hühnerschar, sondern auch beim Bauern höchstpersönlich. Die Geschichte von der Freundschaft zwi- schen zweien, die sich eigentlich hassen soll- ten, hat der Schriftsteller Robert Gwisdek aka Käptn Peng zu allererst in einem Song erzählt. Jetzt ist aus dem Song ein Kinderbuch gewor- den. Die Illustratorin Melanie Garanin, die im letzten Jahr mit ihrer Graphic Novel »Nils« über den Tod eines Jungen für Furore sorgte, bebildert darin auf unnachahmliche Weise die einzelnen Songzeilen von Käptn Peng. Die Ber- linerin, die zunächst Zeichentrickfilm stu- dierte, entwirft in »Der Habicht und der Hahn« Seite für Seite kleine Szenen, Bewegungsab- läufe, die manchmal an ein Daumenkino erin- nern. Da flattern Flügel, da stürzt sich der Ha- bicht aus der Luft, tanzen Hühner auf Noten. Beeindruckend sind auch die Farbtöne, die Ga- ranin dank ihrer Wassermaltechnik findet und die den Seiten bei aller Aufregung eine gewisse Ruhe verleihen. Die Geschichte von Habicht und Hahn ermu- tigt die Lesenden dazu, außerhalb der Schub- laden zu denken, den eigenen Weg zu gehen. So entscheiden auch der Habicht und der Hahn irgendwann, der Enge des Stalls zu ent- fliehen und eine neue, bisher ungekannte Ver- bindung einzugehen. Was dabei entsteht, ver- rät der Text, die Bilder überlassen es der Fantasie. Die wird allerdings ins Schwelgen kommen, beim Anblick dieses sorgfältig ge- stalteten Kinderbuchs. JOSEF BRAUN ▶ Käptn Peng (Text), Melanie Garanin (Illustration): Der Habicht und der Hahn. Hamburg: Mairisch 2021. 32 S., 15 €, ab 5 J. www.kreuzer-leipzig.de

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talk meets Buchmesse Frankfurt Am 20. Oktober 2021 ist es so weit – lang ersehnt öffnet die Buchmesse in Frankfurt endlich wieder ihre Tore. Auch die taz als überregionale Tageszeitung wird dabei sein. Wir sind für Sie da – direkt vor Ort am Stand in Halle 3.1 C101 oder digital im Rahmen der taz Talks unter www.taz.de/buchmesse – und freuen uns auf persönliche Begegnungen! Sollten Sie nicht vor Ort dabei sein können, dann genießen Sie einen digitalen Ausflug in die Welt der Bücher. Selbstverständ- lich können Sie alle Buchvorstellungen auch im Anschluss auf www.taz.de/buchmesse nachschauen. Montag, 18.10.2021 „Kampf der Identitäten“ Jan Feddersen, Philipp Gessler (Christoph Links) Live in der taz Kantine und im Stream 19 Uhr Das neue Buch von Jan Feddersen und Philipp Gessler ist ein Pa- norama der Identitätspolitik und zugleich eine Streitschri für aulärerischen Universalismus, Solidarität und Pragmatismus. Moderation: Doris Akrap Dienstag, 19.10.2021 17 Uhr „Schwarzes Herz“ Jasmina Kuhnke (rowohlt) Aufzeichnung Jasmina Kuhnke ist eine unüberhörbare Stimme im Kampf gegen Rassismus in diesem Land. In ihrem ersten Roman erzählt sie davon, was es mit einem macht, immer aufzufallen und zeigt, wie Rassismus sich in die Seelen der betroffenen Menschen webt. Moderation: Katrin Gottschalk „Erzählende Affen“ Samira El Ouassil, Friedemann Karig (Ullstein) Live in der taz Kantine und im Stream 19 Uhr Eine starke Geschichte kann die Welt retten – oder sie zerstö- ren. Samira El Ouassil und Friedemann Karig verfolgen diese am- bivalente Wirkungsmacht anhand wichtiger Narrative von der Antike bis zur Gegenwart, zeigen, welche Erzählungen uns heu- te gefährden und warum wir neue benötigen. Moderation: Ulrike Winkelmann Mittwoch 20.10.2021 14 Uhr „Was wäre wenn“ Lizzie Doron (dtv) Live im Stream Am Abend ein Anruf aus dem Hospiz: Yigal, ein Kindheitsfreund und Aktivist gegen die Politik des Heimatlandes Israel, den Lizzie Doron, die Tochter einer Holocaust-Überlebenden, vierzig Jahre lang nicht gesehen hat, bittet sie, sein letzter Besuch zu sein. Moderation: Klaus Hillenbrand „Süß“ Ann-Kristin Tlusty (Hanser) 19 Uhr Live in der taz Kantine und im Stream Plötzlich sind alle Feminist*innen. Bloß kann von echter Gleich- berechtigung keine Rede sein. Ann-Kristin Tlusty betrachtet in ihrer Streitschri die inneren und äußeren Zwänge, die das Leben von Frauen auch heute prägen. Moderation: Katrin Gottschalk Donnerstag, 21.10.2021 14 Uhr „Wozu Rassismus?“ Aladin El-Mafaalani (KiWi) Live im Stream Aladin El-Mafaalani gibt einen Überblick über die Begriffsver- ständnisse, die Geschichte und die Gegenwart dieser menschen- feindlichen Herrschasideologie. Dabei werden die jüngsten Entwicklungen und Diskurse unter die Lupe genommen und eingeordnet. Moderation: Jan Feddersen Freitag, 22.10.2021 14 Uhr „Zeit der Aussteiger“ Andreas Schwab (C. H. Beck) Live im Stream Elf Künstlerinnen und Schristeller führen uns zu den zehn bedeutendsten Künstlerkolonien. Die Aussteiger suchten eine Gegenwelt zum Leben in den Städten, übersteigerten Nationalis- mus und dem allgegenwärtigen Krisengefühl. Moderation: Jan Feddersen 17.30 Uhr „Sensibel“ Svenja Flaßpöhler (Klett-Cotta) Live im Stream Mehr denn je sind wir damit beschäigt, das Limit des Zumut- baren neu zu justieren. Wo liegt die Grenze des Sagbaren? Svenja Flaßpöhler beleuchtet den Glutkern des Konflikts: die zuneh- mende Sensibilisierung des Selbst und der Gesellscha. Moderation: Jan Feddersen Samstag, 23.10.2021 14 Uhr „Ciao“ Johanna Adorján (KiWi) Live im Stream Johanna Adorján hat unsere Gegenwart in einen Roman gegos- sen und entwir eine Gesellschassatire, die extrem komisch ist und gleichzeitig schmerzha heutig. Ist der Untergang des alten weißen Mannes beschlossene Sache oder sollte man mit dieser Spezies doch gnädig sein? Moderation: Doris Akrap 16 Uhr „Ja okay, aber“ Peter Licht (Klett-Cotta) Live im Stream Ein Mann mietet sich in ein Büro ein und hat große Zukuns- pläne. Er denkt nach, geht draußen herum und beobachtet. Alles zerfällt vor seinem Auge, sobald er den Blick zu lange darauf gerichtet hält. „Ja okay, aber“ ist eine Donquichotterie auf die merkwürdige Einrichtung dieser Welt sowie möglicher anderer. Moderation: Doris Akrap Alle Termine und weitere Informationen finden Sie unter: taz.de/buchmesse