Rudiš • Beginn: 21 Uhr • Eintritt: 8€ und 10 € Foto: Swen Reichhold 19.03. Schaubühne Lindenfels Eine Buchpremiere mit Jaroslav Rudiš und der Illustratorin Halina Kirschner. Moderiert von Egbert Pietsch. → Richtung Trieste und anderswohin ← Jaroslav

VORPREMIERE BEI ILSE! 17. 3.2022 20:00, Ilses Erika Eintritt 5€ | INHALT I E G E Z N A : Inhaltsverzeichnis MUSIKALISCHE LESUNG »Musik gegen jeden Anlass« – Vorpremiere zur Autobiografie der Maria König Kapelle Maria König und Gunter Schwarz präsentieren 75 Minuten voll humorvoller Geschichten rund um die Maria König Kapelle, Leipzig und die Subkulturszene zwischen Mauerfall und Millennium. Dazu spielen sie im Duo Musik von Kult- Schlager bis Achtziger-Trash. »Leipzig, mein klein Las Vegas!« Dieses Buch ist eine großartige Zeit- reisemaschine für alle, die in den Neun- zigerjahren oder danach in Leipzig gelebt und wilde Partys gefeiert haben. Wer zu dieser Zeit in Clubs wie naTo, Moritzbastei, Spizz, Ilses Erika oder auf dem Honky Tonk unterwegs war, kam an einer Formation nicht vorbei: der sagenumwobenen Maria König Kapelle. Sie war die unbestrittene Kult-Combo der Messestadt und begeisterte mit ihren furiosen Liveshows ein hungriges und feierwütiges Publikum. Dieses Buch kata- pultiert die Leser schnurstracks zurück in diese wilde Zeit. Es geht um Leipzig, seine Subkulturszene, den Aufbruch, die Nachwendezeit, das Erwachsenwerden und vor allem natürlich um die Musik. mariakoenigkapelle.de kreuzerbooks.de 03 Editoial 06 »Lob de Spache«: Karl-Markus Gauß erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 08 Samenköne leen: Letztes Jahr 26 n die Beenun: 2022 jährt sich José Saramagos Geburtstag zum hundertsten Mal 28 Liteaische Nachlese: Portugiesische Lektüretipps von Übersetzerinnen hatte die Klimabuchmesse Premiere – ein Ausblick auf die zweite Ausgabe 30 Aus Beeisteun: Ein Projekt widmet sich dem lyrischen Übersetzen 10 »Es wid elesen!«: Insa Wilke, 32 Nicht von Kunst allein: Im Leben Vorsitzende der Leipziger Buchpreis- Jury, über das Kunststück, eine Long- list kurz zu kriegen TITELGESCHICHTE 12 Sichtba machen: Die Arbeit von Lite- raturübersetzerinnen geschieht im Verborgenen, doch ohne sie wäre der Zugang zu anderssprachiger Literatur unmöglich – gleichzeitig ist ihre Tätig- keit weit mehr als eine Dienstleistung 18 »he Büche inen unte«: Interview mit Sonja Finck, Übersetzerin der Bücher von Annie Ernaux 20 Histoische Gewodenheit: Lena Dorn über die gesellscha liche Relevanz des Literaturübersetzens MAGAZIN 22 Untem Rada: Autoren aus afrika- nischen Staaten werden hierzulande kaum wahrgenommen 24 Tea inconita: Franz Hammerbacher über seine Entdeckung der portugie- sischen Literatur von Autorinnen spielen Brotjobs eine wichtige Rolle 35 Feieist: Im Dezember 2021 starb Verleger Klaus Wagenbach – ein Nachruf 36 »Wehha bleiben«: Heike Geißler, Be ina Wilpert und Kaśka Bryla über ihre neuen Bücher 38 »ch schaff e ein Gewebe«: Wie Ulrike Draesner Sprache in Literatur verwandelt 39 Veboenem zuewandt: Sibylla Vričić Hausmann weiß, warum Gedich- te notwendig sind 40 Epische Rinkampf: Eine Buch-Ba le zwischen den Super-Mi elgewichten Leipzig und Frankfurt 42 »Sehnsuchtsot«: Jaroslav Rudiš und Halina Kirschner über ihr neues Buch »Trieste Centrale« 44 De Antiquaiatsundan 2022 | IMPRESSUM kreuzer Spezial – Die Frühlingausgabe des :logbuch 2022 erscheint als Gesamtbeilage im Märzheft des kreuzer sowie in der Aboauflage von Journal Frankfurt und Sax Dresden Herausgeber: KREUZER Medien GmbH Leipzig Verlagsleiter: Egbert Pietsch, Tel. (0341) 2 69 80 70 Chefredaktion: Tobias Prüwer (V.i.S.d.P.) Redaktion dieser Beilage: Martina Lisa Redaktionsassistenz: Michelle Schreiber Gestaltung/Satz: DIE WERFT Kommunikationsdesign, Elisa Merino Vazquez, Tanja Kirmse Produktionsleitung: Andrea Kathrin Kraus, Tel. (0341) 2 69 80 42 Autoren: Sebastian Adam, Lucia Baumann, Katharina Bendi- xen, Clemens Böckmann, Josef Braun, Alida Bremer, Thomas Brückner, Eva Johanna Burmeister, Thorsten Bürgermann, Sven Crefeld, Lena Dorn, Giorgio Ferre i, Yannik Gölz, Franz Hammerbacher, Marcel Hartwig, Benjamin Heine, Maurus Jacobs, Nils Kahlefendt, Anna Kow, Andrea Kathrin Kraus, Nora Deetje Leggemann, Martina Lisa, Linn Penelope Mick- litz, Sarah Nägele, Adefunmi Sophia Olanigan, Egbert Pietsch, Tobias Prüwer, Franziska Reif, Pauline Reinhardt, Myriel Rich- ter, Bri Schlehahn, Hanna Schneck, Michelle Schreiber, Suse Schröder, Joachim Schwend, Fabian Schwi er, Heidi Stecker, Nele Thiemann, Sibylla Vričić Hausmann, Stephanie Wagner, Jobst Welge, Frank Willmann, Juliane Zöllner 4 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN I R E L B E R O C R A M : O T O F Kaum ein anderer Schriftsteller denkt nachhaltiger über Europa nach als Karl-Markus Gauß : Karl-Markus Gauß und das unaufhörliche Glück des Schreibens Karl-Markus Gauß erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022, ein Porträt von Alida Bremer I n seinem zuletzt veröffentlichten Buch »Die unaufhörliche Wanderung«, dessen Titel sich auch als Überschrift für sein gesamtes Opus eignen würde, beschreibt Karl-Markus Gauß im Kapitel »Österreich-Ungarn, Jugosla- wien, Europäische Union: Drei Einigungsver- suche« die Dynamik der Vereinigungen und der Zerstörungen von Vielvölkerstaaten, wobei er mit der ihm eigenen sprachlichen Eleganz einen Umstand hervorhebt: Nachdem destruk- tive Kräfte alles getan hatten, um die alte Monarchie zu zerschlagen, begann man sich in den Nachfolgestaaten bald mit großer Nostalgie ihrer Werte zu erinnern. Am Ende dieses kur- zen Kapitels warnt der Autor: »Unverzeihlich wäre es, dabei zuzusehen, wie die (Europäische) Union von gesinnungslosen Egomanen und nationalistischen Lumpen in Trümmer gelegt wird, sodass unsere Nachfahren dereinst in un- seren zerknirschten Nekrologen davon lesen müssten, was wir verpatzt haben.« Hätte er nicht jene Tausende von Seiten geschrieben, die sein einzigartiges Werk ausmachen, dann hätte auch dieses Kapitel genügt, um Karl- Markus Gauß als einen großen und differenziert denkenden Europäer auszuweisen (siehe auch »Das Europäische Alphabet«). Die beiden untergegangenen multinationalen Staaten gehören zu den unerschöpflichen Quellen seines poetischen Universums, seines Reiches aus Worten, aus Chroniken und Lektü- ren, in dem er einen Raum für bedrohte Min- derheiten, für entschwindende Sprachen und Kulturen, für unterdrückte Erinnerungen geschaffen hat. Auf den Seiten seiner Bücher finden Roma und Gagausen, die romanioti- schen und sephardischen Juden, Aromunen, Zimbern und Arbëresh würdige Plätze unter der Sonne seiner Gelehrsamkeit und seiner Empathie, die ein Gegenstück zum voyeuristi- schen und kolonialistischen Blick vieler her- kömmlicher Reisender aus der Gattung der Reiseliteratur darstellen. Es scheint, dass sich die Fähigkeit, den »Anderen« auf Augenhöhe zu begegnen, sogar vererbt: »Sechs Monate in Afrika hatten meine Tochter überzeugt, dass den Afrikanern am meisten geholfen wäre, wenn sie von den Europäern in Ruhe gelassen würden; sogar von Europäerinnen, die wie sie nach Afrika gingen, um unentgeltliche Sozial- arbeit zu leisten« (»Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer«). Diese humorvollen Zeilen enthalten eine Wahrheit, die sich uns auch bei der Lektüre seiner Reportagen offenbart. Wir verstehen, während wir beobachten, wie leidenschaftlich sich Gauß etwa für literarische Größen aus den sogenannten kleinen Sprachen einsetzt, dass hier einer spricht, der sich tat- sächlich für andere interessiert, ohne ihnen die eigenen Ansichten – und seien es auch noch so wohlgemeinte – aufzwingen zu wollen. An- dererseits verschont er niemanden vor berech- tigter Kritik: »Mit den nationalen Heiligen lässt sich noch heute trefflich für jeden Unsinn fechten« (»Ruhm am Nachmittag«). Im Unterschied zu jenen Vertretern der domi- nanten Kulturen, die besserwisserisch aufzu- treten pflegen und dadurch die Kommunika- tion mit weniger privilegierten Menschen stören, da sie diese nicht als Subjekte ihres Schicksals, sondern als Objekte der eigenen Anliegen betrachten, interessiert sich Gauß für Künstler oder für Speisen, für Feste, Bräuche und Institutionen, für merkwürdige Überzeu- gungen, Erinnerungen oder Traumata aller Mitmenschen auf dieser Welt, so wie er sich für die Geschichte seiner eigenen Familie interes- siert, für die eigene Kindheit, die er mit leben- digen und klugen Sätzen zu beschreiben ver- mochte (»Das Erste, was ich sah«); genau solche verfasste er auch über Menschen aus den entlegensten Gebieten der Welt (»Die Hundeesser von Svinia«; »Zwanzig Lewa oder tot«; »Die sterbenden Europäer«; »Im Wald der Metropolen«). Die Bücher von Karl-Markus Gauß verorten sich jenseits aller Gattungen, sie bilden ihre eigene Poetik und ihre eigene Gauß-Gattung. Seine überwältigenden Kenntnisse der Ge- schichte und der Literatur sind allerdings ein Hindernis dafür, eine Gauß-Schule zu gründen – einem Leser oder einer Leserin seiner Schriften wird schnell klar, dass es unmöglich ist, mit seiner Gelehrsamkeit und mit seiner sprachlichen Gewandtheit mitzuhalten. Sein Opus magnum ist eine einzigartige Erschei- nung in der deutschsprachigen Literatur. Der Protagonist seiner Bücher, ein neugieriger und gebildeter Ich-Erzähler, ein Vielschreiber, 6 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN : Klimakrise im Kopf und unter der Haut Klimakommunikation und mehr Nachhaltigkeit der Buchbranche sind die Hauptt hemen der zweiten Leipziger Klimabuchmesse I ch blicke gen Horizont. Dort sind sie, die gro- ßen weißen Wolken, die so sehr zum Stadt- bild gehören. Sie erheben sich aus den zwei Kühltürmen des Atomkraftwerks Grafenrhein- feld. In ihrer Betrachtung wird sich mein zehn- jähriges Ich immer wieder bewusst: Wenn jetzt etwas passieren würde, hätt e ich keine Chance. Das Ausmaß einer nuklearen Katastrophe in Deutschland erzählt eindrucksvoll »Die Wolke« von Gudrun Pausewang. Ein Buch, das mir als Jugendlicher regelrecht Angst machte, ein Stück Umweltliteratur, das viele Generationen geprägt hat. Auch Gisela Wehrl von der Klimabuchmesse hat das Buch sehr beeindruckt: »Ich glaube, ich habe damals nach dem Lesen zwei Tage nicht das Haus verlassen, da machte sich meine Mutt er richtig Sorgen«, erzählt die Drehbuch- autorin. Sie sitzt vor dem Bildschirm in ihrem Büro, hinter ihr an der Wand hängt ein Poster zum Klimastreik. Seit 2019 ist sie bei den Parents for Future in Leipzig. Ebenfalls zuge- schaltet ist die Autorin Anne Weiss, die zusammen mit Sven Olsson den deutschen Zusammenschluss der Writers for Future organisiert. »Die Literatur der achtziger Jahre hat meine Kindheit und Jugend geprägt. Angefangen bei Astrid Lindgrens Werk ›Ronja Räubertochter‹, in dem man so intensiv Natur erlebt. Weiter über ›Die Wolke‹, die mich als Zeitzeugin der Tschernobyl-Katastrophe ext- rem geprägt hat, bis hin zur ›Unendlichen Geschichte‹ von Michael Ende mit dem Nichts, das die Welt von allen Seiten auffrisst«, fügt sie hinzu. Wir reden über die Klimabuchmesse. Die Welt der Literatur hat beide Frauen stark beeinflusst und bereits in ihren jungen Jahren Samenkörner für ihr späteres Engagement für den Klimaschutz eingepflanzt. Angeregt durch die Idee der Parents for Future fand im Jahr 2021 zum ersten Mal im Rahmen von Leipzig liest extra die erste – digitale Ausgabe – der deutschen Klimabuchmesse statt . Die Idee »Im November gibt es alljährlich einen bun- desweiten Vorlesetag. Zu dem Anlass hatt e ich spontan eine Woche zuvor die Idee: Wir, un- sere Parents-for-Future-Ortsgruppe Leipzig, könnten einen Vorlesetag speziell fürs Klima organisieren«, berichtet Wehrl. Allen Beteilig- ten bereitete die Durchführung großen Spaß und die Veranstaltung war sehr erfolgreich. In der buchaffinen und buchmessebegeisterten Runde ergab sich daraus die Idee, Klimabücher auch auf der Leipziger Buchmesse vorzustellen. »Im Kontakt mit den Writers for Future stellte sich heraus, dass sie ebenfalls bereits diesbe- zügliche Pläne für die Buchbranche hatt en. Gemeinsam wurde dann die Idee der Klima- buchmesse geboren und weiterentwickelt. Nun werden wir von ganz vielen Teilen und Or- ganisationen der For-Future-Bewegung unter- stützt, lokal und deutschlandweit«, berichtet Wehrl. »So helfen unter anderem die Students for Future bei der technischen Umsetzung von gestreamten Veranstaltungen und die Teachers und Schools for Future bei der Umset- zung von Lehrmaterialien für das Kinder- und Jugendprogramm.« In diesem Jahr soll die Veranstaltungsreihe aus der digitalen Welt in die präsente hinaus- getragen werden: Lesungen und Diskussionen sind sowohl auf dem Messegelände als auch im Werk 2 in der Stadt geplant. Damit das Thema ein möglichst breites Publikum erreicht, blei- ben digitale Formen erhalten und alle Events sind kostenfrei zugänglich. Im Fokus der Ver- anstaltungen stehen Bücher, die Umwelt und Klima als Thema in den Mitt elpunkt stellen, und zwar in allen Genres: Belletristik, Fantasy, Dystopien, Sach- und Kinderbücher. Die richtigen Bücher auswählen »Bei dem jetzigen Programm haben die meis- ten Bücher einen sehr starken Klimabezug. Dennoch finde ich es wichtig, dass Bücher nicht explizit das Klimalabel tragen oder einen immer fassungslos zurücklassen müssen, weshalb wir auch Bücher ausgewählt haben, die auf leichte Art und Weise eine Geschichte erzählen«, sagt Wehrl. »Bücher, in denen Klima und Umwelt auch – aber eben nicht nur – eine Rolle spielen, setzen oft ganz andere Denkprozesse in Gang und werden auch von einem anderen Publikum gelesen, das sich oder den eigenen Kindern sonst nie spezifisch ein Umweltbuch gekauft hätt e«, ergänzt sie. Beide Ansätze seien gleichermaßen wichtig. Die Frage der Klimakommunikation ist ein großes Diskussionsthema der Klimabuch- messe. Welche Erzählformen können sowohl journalistisch, literarisch, aber auch drama- turgisch genutzt werden, um von einem Weg zur Klimagerechtigkeit zu erzählen und dabei möglichst viele mitzunehmen? Welche Stim- men lässt man dabei zu Wort kommen? Weiss und Wehrl plädieren für einen Ansatz, der durch mehrere Protagonistinnen auch mehr Stimmen zulässt. Das zweite große Thema ist die Frage, wie man die hohen Emissionen in der Buchbranche ANZEIGE L e s u n g u n d B u c h - v o r s t e l l u n g 1 8 . 3 . , 1 8 U h r H o r n s E r b e n A r n d t s t r . 3 3 Hardcover 12 × 19 cm ca. 384 Seiten 26 € erscheint 17.3. 978-3-948049-15-7 8 Der neue Roman von Roman Israel Nektar Meer Nektar Meer Nektar Meer Nektar Meer Nektar Meer Nektar Meer Die beiden Pleitiers, der Beinahe- Kubaner Henri und der Viertel-Pole Lenin, haben endlich wieder einen Job. Für einen Berliner Clan soll das Duo Schutzgeld erpressen. Doch aller Anfang ist schwer. Ihren ersten Auftrag vermasseln sie. Der nächste entpuppt sich als Kamikazeeinsatz. Sie werden als Geiseln genommen, unter Drogen gesetzt, von einem Biker-Club und von der Polizei gejagt. Unter dem Einfluss der verabreichten Drogen stürzt die Barriere zwischen Realität und Fiktion zusammen. Beide Welten beginnen miteinander zu verschmelzen und bald wissen sie nicht mehr, wo genau die Grenze verläuft. Eine bissige Satire über schicksal- hafte Begegnungen, Vorurteile und den Schulterschluss eines Mafia-Clans mit Granden aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN F O T O : I M A T H A S B O T H O R Es wird gelesen: die neue Jury-Vorsitzende Insa Wilke : »Der Text muss funkeln!« Insa Wilke ist die neue Vorsitzende der Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse S ie promovierte über Thomas Brasch, leitete das Literaturhaus Köln, verwaltet den Nachlass von Roger Willemsen und arbeitet als Literaturkritikerin für Print, Radio und Fern- sehen, unter anderem für SZ, WDR und SWR. Seit letztem Jahr ist sie Vorsitzende der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises: Insa Wilke hat nicht die schlechtesten Voraussetzungen für den Jury-Vorsitz zum Preis der Leipziger Buch- messe. Das siebenköpfige Gremium entschei- det über die Preise in den Kategorien Belletris- tik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung, die am 17. März 2022 vergeben werden. Außer Wilke sind Moritz Baßler, Miryam Schellbach und Shirin Sojitrawalla neu in der Jury, der wei- terhin Anne-Dore Krohn, Andreas Platt haus und Katharina Teutsch angehören. :logbuch: Frau Wilke, fü r den Preis der Leip- ziger Buchmesse wurden im letzten Herbst 441 Titel eingereicht. Was macht die Jury, damit daraus 15 nominierte und schließlich 3 ausgezeichnete Bücher werden? INSA WILKE: Es wird gelesen! Und zwar so, dass alle gegenseitig an den Lektüren beteiligt werden. Wir haben von Beginn an per E-Mail Leseeindrücke ausgetauscht und haben uns dann zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine begrenztere Auswahl von Titeln geeinigt. Die werden in einer ersten Jury-Sitzung so lange diskutiert, bis wir auf die dreimal fünf Titel kommen, die dann Mitt e Februar bekannt gegeben werden. :logbuch: Wie sollte eine Jury zusammen- gesetzt sein, damit die Arbeit mit ihr Spaß macht und gute Ergebnisse hervorbringt? WILKE: Am besten mit Personen, die neu- gierig sind auf die Einschätzungen der Kolle- ginnen und Kollegen und so offen in die Dis- kussion gehen, dass man gemeinsam die herausragenden Titel ermitt eln kann. Von Vorteil ist zudem immer, wenn eine Jury multiperspektivisch besetzt ist. Da spielen literaturkritische Schwerpunkte, Lesebiogra- fien, Bildungswege, aber auch biografische Aspekte wie Alter und Geschlecht eine Rolle. :logbuch: Und wie schafft man es, dabei möglichst unvoreingenommen auf große Namen zu schauen und neuen eine faire Chance zu geben? WILKE: Das ist unser täglich Brot, und es ist gar nicht so schwierig: An erster Stelle steht der Text. In der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse ist ja für Gleichberechtigung gesorgt, weil alle auf der Messe ausstellenden Verlage zwei Titel einreichen dürfen. Und die werden selbstverständlich von der Jury auch alle geprüft. :logbuch: Wir schauen diesmal besonders aufs Übersetzen. Was macht in Ihren Augen eine ausgezeichnete Übersetzung aus? WILKE: Das erste und wichtigste Kriterium ist die Qualität des deutschsprachigen Textes. Der muss funkeln! Erst danach kann man andere Kriterien hinzuziehen und die sind dann unterschiedlich zu gewichten, je nach vorlie- gendem Werk und übersetzerischem Anliegen. Die gängigste Frage ist: Wie genau wurde von einer in die andere Sprache übertragen, was Semantik, Syntax, Klang angeht. :logbuch: Wie beurteilt man das denn, wenn man die übersetzte Sprache gar nicht beherrscht? WILKE: Da kann man sich durchaus auch Hilfe bei Kolleginnen und Kollegen holen, die der Ausgangssprache mächtig sind. Es geht aber nicht immer um eine wortwörtliche Genauigkeit. Gerade die führt manchmal voll- kommen an einer Poetik vorbei, für die es in der anderen Sprache ja eine Entsprechung zu finden gilt. Da sind manchmal Einfälle und Lösungen preiswürdig, die vom Text in der Ausgangssprache erst einmal wegzuführen scheinen. Und dann gibt es ja auch den Ansatz einer ganz freien Bearbeitung, der eine Vorstellung von einer künstlerischen Begeg- nung über eine zeitliche und räumliche und sprachliche Entf ernung hinweg zugrunde liegt. So hat das Thomas Brasch einmal formuliert, der Tschechow und Shakespeare grandios ins Deutsche übertragen hat. INTERVIEW: BENJAMIN HEINE Unser Autor ist Teil des Teams, das für die Messe »Leipzig liest« organisiert. Bei einer der insgesamt drei Jury-Sitzungen durfte er dennoch nicht Mäuschen spielen. Schade! 10 www.kreuzer-leipzig.de

| TITEL : Aus dem Schatten aufs Cover Weltliteratur gibt es nur übersetzt oder: Wege des literarischen Übersetzens D urch unsere Lektüre haben wir alle zwangsläufig immer wieder mit literarischen Übersetzungen zu tun, nur wird es uns vermutlich nicht jedes Mal bewusst. Die Arbeit, einen literarischen Text aus einer Sprache, einem Kontext, einer Kultur, in eine neue Sprache und Umge- bung zu transferieren, war und bleibt eine unsichtbare Tätigkeit – wie das Schreiben an sich eine solche ist. Doch auch wenn am Ende ein Buch erscheint, interessieren sich die wenigsten dafür, wer den Text über- tragen hat. Zumal dieser Name sehr lange ganz klein im Impressum stand. Das ändert sich allmählich, mittlerweile erscheinen, bei einigen vorbildlichen Verlagen zumindest, die Namen der Übersetzerinnen auch auf dem Cover. Das ist ein klares Bekenntnis zur Literaturüberset- zung als einer besonderen Art der Autorschaft. Denn das Übersetzen ist eine Form des literarischen Schreibens. Die Literaturübersetzerinnen haben ihr Schattendasein verlassen und betreten immer häufiger die Bühne. Richtig so. Denn oft sind sie es, die als Kulturmittlerinnen und Agentinnen im Dienste der Sprache und der Autorinnen agieren, vor allem, wenn sie aus sogenannten kleinen Sprachen übersetzen, die die meisten Verlagslektorinnen weder sprechen noch lesen können. Da sind sie auf die Arbeit der Übersetzerinnen angewiesen, die dann auch Gutachten erstellen, sprich: den Inhalt eines Buchs kurz zusammen fassen, ihr fundiertes Urteil abgeben und somit Überzeugungsarbeit leisten. Wenn dies getan ist und der Verlag zusagt, endet die Arbeit nicht mit der Fertigstellung des Textes, meist schlüpfen die Übersetze- rinnen in die Rolle der Moderatorinnen und Lesenden und begleiten ihre Autorinnen bei Veranstaltungen. Sie sind also weitaus mehr als nur die Stimme im Dienste ihrer Autorinnen. Der polnische Autor und Übersetzer Andrzej Kopacki spricht von einer Theateranalogie – die Translation sei eine künstlerische Handlung, die der Inszenierung des Textes auf einer Bühne entspricht. Ein charman- tes Bild. Die Texte leben weiter, und das Übersetzen ist ein performativer Akt, dessen Umsetzung sowohl Handwerk als auch Kunst verlangt. Die Inszenierung wird, je nach dem, wer da gerade Regie führt, jedes Mal ein bisschen anders, denn die Übersetzung ist auch ein interpretato- rischer Akt, bei dem man jedoch alle Merkmale des Ausgangstextes beachten muss – vor allem die unausgesprochenen, das Kultur- und Kontextwissen; in der einen Sprache wird es selbstverständlich mitgele- sen, in die neue muss es mittransferiert werden – womit die künst- lerische Freiheit natürlich gebunden ist. Dass es aber eine künstlerische Arbeit ist, steht nicht zur Debatte. Die Gemeinschaft Wie wird man Literaturübersetzerin? Frei nach dem bekannten Sprich- wort von den vielen Wegen, die zu einem Ziel führen. Denn viele, wenn nicht sogar die meisten, sind Quereinsteigerinnen, kamen über die all- gemeine Translatologie oder aber über einen ganz anderen Weg dazu, wie es Schreibende im Allgemeinen auch tun. Manche studieren es, man- che nicht. In Düsseldorf und München gibt es Masterstudiengänge, es existieren Aufbaustudiumsmöglichkeiten oder andere Fort- und Weiterbildungsseminare. Um vieles kümmert sich der Berufsverband der deutschsprachigen Übersetzerinnen (VdÜ), in dem die meisten sich organisieren und engagieren. Neben Rechtsschutz und Beratung findet – unter nichtpandemischen Umständen – ein Jahrestreffen mit selbstor- ganisierten Seminarangeboten in Wolfenbüttel statt, die Mitglieder sind dadurch gut vernetzt und mit Informationen versorgt – zum Bei- spiel, wenn es um die so wichtigen Stipendien und Seminare geht. Für die ist im deutsch- sprachigen Raum vor allem der Deutsche Über- setzerfonds (DÜF) zuständig, dessen Radius sich aber ständig erweitert. Ein Beispiel für die Erweiterung ist das Toledo-Programm, benannt nach der kastili- schen Stadt, wo es dem Mythos nach im 12. und 13. Jahrhundert eine hochgelobte Überset- zerschule gegeben haben soll. Das Programm als digitales Labor und Begegnungsort wurde 2018 gegründet und engagiert sich für die Ge- meinschaft der Übersetzerinnen. Die Leiterin, Aurélie Maurin, selbst Übersetzerin ins Fran- zösische, der ihr Beruf schnell zur Sucht ge- worden ist, spricht von der charakteristischen Experimentierfreudigkeit und vielen neuen digitalen Veranstaltungsformaten. Die Liebe zum Übersetzen sei das Fundament ihrer Arbeit und als Akteurin der Freien Szene freue sie sich, im Dienste der Kolleginnen zu agieren. Man befinde sich in bester Gesellschaft, sagt sie und zitiert einen Vers von W. H. Auden als Sinnbild des Übersetzerethos: »If equal affection cannot be, / Let the more loving one be me.« Auch die Bilanz der Pandemiezeit fällt durchaus positiv aus: Dank Neustart Kultur wurden neue Wege im digitalen Raum ausgelo- tet, besonders die Toledo-Talks-Reihe »Berüh- rungsängste« habe großen Widerhall gefunden. Die Website (www.toledo-programm.de) bietet allen Literaturinteressierten vor allem durch die Journale, in denen Übersetzerinnen ihre Arbeit reflektieren, spannende Einblicke hinter die Kulissen der Bücher. Für ihre eigene Über- setzungsarbeit hat Maurin nicht allzu viel Zeit, aber die Sucht bleibt, und als Lyriküber- 12 www.kreuzer-leipzig.de

| TITEL T K N U P A K A J N A : O T O F H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F 2009 organisiert der Verein Veranstaltungen, bei denen Übersetzerinnen im Mittelpunkt ste- hen. Bühne frei ist hier das Programm, und das dank der dezentralen Struktur an möglichst vielen Orten, nicht nur in großen Städten. Das Publikum sei in der Regel ganz baff: »Also, das war ja mal interessant, darüber hab ich noch nie so nachgedacht.« Vor allem Formate wie »Das gläserne Übersetzen«, wenn Kolleginnen live vor Publikum übersetzen, oder »Übersetzer- Slam« haben sich bewährt, berichtet Kraetsch. Neben den beiden Buchmessen gehört der Hieronymustag am 30. September zu den wich- tigsten Terminen. An diesem Tag organisiert der Verein (etwa in Kooperation mit den Goe- the-Instituten) deutschland- oder gar weltweit Veranstaltungen rund ums Übersetzen. Die Pandemie zwang auch die »Weltlesebühne« zum Umdenken – so konnte (dank Förderung) die »digitale Weltlesebühne« mit eigenem Youtube-Kanal entstehen. Doch die Sehnsucht nach Präsenzformaten ist überall groß. Leipzig – ein Ort des Übersetzens Noch mehr Veranstaltungen, in dem Über- setzerinnen über ihre Arbeit sprechen, wünscht sich auch Thomas Weiler, denn fast immer kämen viele Nachfragen und großes Staunen, sagt er. Der mehrfach ausgezeichnete, in Leipzig lebende Übersetzer überträgt als einer der wenigen auch belarussische Literatur ins Deutsche. Als Diplomübersetzer für Pol- nisch und Russisch kam er irgendwann zur Literatur und blieb zum Glück dabei. Die meisten können vom Übersetzen allein nicht oder kaum leben, bei Weiler hilft womöglich der Wechsel zwischen drei Sprachen und allen möglichen Genres – vom Kinderbuch zum Romanbrocken –, was er bei seiner Arbeit sehr genießt. Eine gute Übersetzung nehme die Leserinnen ernst und könne mit der Fremde umgehen, sagt er und erklärt, wichtig sei ihm, dass nicht zu viel eingemeindet und in die ei- gene Kultur gezerrt wird. Die letzten zwei Jahre waren nicht einfach: Mit Homeschooling sei die Arbeit am heimischen Schreibtisch nicht kompatibel. Dennoch erlebt er immer wieder euphorische Momente beim Übersetzen, zum Beispiel, wenn das Deutsche ihm unverhofft Geschenke macht. In seiner aktuellen Überset- zung aus dem Belarussischen und Russischen (Alhierd Bacharevič: Сабакі Эўропы | Europas Hunde) spielt eine Plastiktüte eine zentrale Rolle. Ein verdrehtes Bibelwort – »Soll ich mei- ner Tüte Hüter sein?« (1. Mose 4:9) – funktio- niere im Deutschen noch schöner als im Origi- nal, zumal, wenn gleich danach ein Junge mit Hütchen auftaucht. Der 900-Seiten-Roman erscheint 2024 bei Voland und Quist. »EINE GUTE ÜBERSETZUNG NIMMT DIE LESERINNEN ERNST UND KANN MIT DER FREMDE UMGEHEN« Die Situation in Belarus beschäftige ihn umso intensiver, auch viele Autorinnen und Kolleginnen mussten mittlerweile das Land verlassen. Dass politische Spannungen, Um- stürze oder gar Kriege auch Aufmerksamkeit für die jeweilige Literaturszene bedeuten, ist nichts Neues. Auch aus Belarus gibt es nun im- mer wieder Texte und Stimmen zum aktuellen Geschehen. Wer einen Einstieg in das große Belarus-Thema sucht, dem legt Weiler »Minsk. Sonnenstadt der Träume« von Artur Klinaŭ (Edition Suhrkamp 2006) ans Herz sowie das dokumentarische Journal desselben Autors »Acht Tage Revolution« (ebd. 2021). Die Leipzigerin Katharina Hinderer war zwölf Jahre festangestellte Filmuntertitlerin aus dem Englischen und Tschechischen, bevor sie zum Literaturübersetzen kam. Ihr Weg führte über Seminare und Austausch mit Kollegin- nen vor allem zu Comics und kürzeren literari- schen Texten. »In dem Bereich, in dem ich vorwiegend arbeite, geht es darum, das Publi- kum zu unterhalten, über alle sprachlichen Hürden und kulturellen Unterschiede hinweg, und das oft unter erschwerten Bedingungen«, 14 www.kreuzer-leipzig.de www.kreuzer-leipzig.de

H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F | TITEL F O T O : I B E A T R C E B A R T H T K N U P A K A J N A : O T O F die Kontinuität, was in diesem Fall mit dem italienischen Keller-Verlag, wo seine Bücher erscheinen, wunderbar funktioniere. Nicht mit allen Übersetzerinnen ist die Kommunika- tion so intensiv – mal so, mal so, sagt Meyer: »Mit Katy Derbishire, die mich ins Englische übersetzt, gab und gibt es einen regen Aus- tausch. Ebenso mit Bojana Denić aus Serbien, die ich auch mehrfach in Belgrad besucht habe.« Von manch anderen habe er wiederum kein Wort gehört und plötzlich war ein Buch auf Türkisch da. Die Leipzigerin Katharina Bendixen, die Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwach- sene schreibt, kennt beide Perspektiven sehr gut. Bevor sie ausschließlich vom eigenen Schreiben leben konnte, hat sie für einen Kin- derbuchverlag Bücher aus dem Englischen übersetzt, sechs umfangreiche Bücher sind es im Laufe der Jahre geworden. Als Autodidak- tin musste sie sehr viel lernen, fuhr zu Semina- ren, arbeitete eng mit der Lektorin zusammen. Und unterhaltende Literatur zu übersetzen, ergänzt sie, sei noch mal etwas anderes, da gebe es selten noch die zweite oder dritte Ebene, sondern es gehe eben ums Unterhalten. Das falle ihr leicht und mache Spaß. Außerdem habe sie dabei gelernt, Unterhaltung mehr zu schätzen. Auf ihr eigenes Schreiben habe die Arbeit aber wenig Einfluss gehabt, doch ihr Blick für die Übersetzung wurde geschärft. Gute Übersetzung sei eine, der man es gar nicht anmerkt, sagt sie und fügt gleich zwei Beispiele hinzu, die sie zuletzt überwältigt haben: Antje Rávik Strubels Übersetzungen von Lucia Berlin und Hinrich Schmidt-Henkels »Das Ende von Eddy« von Édouard Louis. Dass ihre Texte in andere Sprachen übersetzt werden, findet sie toll. Im Austausch mit ih- rem Griechischübersetzer habe sie gemerkt, dass Übersetzerinnen die Texte noch einmal ganz neu lesen und darin auch Dinge entde- cken, die sie vielleicht gar nicht bewusst ange- legt habe. Gerade freue sie sich auf die spani- sche Übersetzung ihres Erzählbands »Mein weißer Fuchs«, denn es sei eine sehr schöne Er- fahrung, wenn man die Sprache selbst spricht. Ihr griechischer Übersetzer und sie haben sich im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) am Wannsee kennen gelernt. Alexandros Kypriotis ist ein Tausendsassa: Übersetzer, Dichter, Theaterautor, Literaturagent und Verleger, neben dem Deutschen übersetzt er auch noch aus dem Persischen. Literaturüber- setzer ist er geworden, als er an seinem ersten Theatertext geschrieben habe und einen Text aus Goethes »Die Leiden des jungen Werther« brauchte. Damals, 1995, gab es noch keine griechische Übersetzung. Sein Stück habe er zwar nicht zu Ende geschrieben, dafür aber seinen ersten Auftrag bekommen: zwei Texte von Thomas Mann. Über Grenzen hinweg Kypriotis übersetzt nur Bücher, die ihm gefal- len, denn wenn er übersetzt, kann er weder lesen noch selbst schreiben, und nur als freier Autor in Griechenland zu leben ist schwierig. Also übersetzt er viel und schreibt, in einer Art Manie, zwischendurch. Durch die Erfahrung mit den Texten des persischen Dichters Mo- hammad Hemati, der aus politischen Gründen nicht im Iran veröffentlicht, hat seine Arbeit für ihn noch einen anderen Sinn bekommen: »Übersetzung ist für mich die waffenlose Erhe- bung der von Gott Bestraften. Sie ist Verban- nung. Sie ist ein ständiges Reisen mit gefälsch- ten Papieren. Sie ist das Überschreiten von unbewachten Grenzen. Sie reißt Zäune und Mauern nieder. Sie ist Flucht und Rückkehr. (…) Eine schwere, aber schlecht bezahlte Arbeit, wie viele andere, aber sie ist eine Arbeit, die ich kann.« »WAS MACHEN WIR MIT DEINEN ERZÄHLUNGEN? ICH GLAUBE, ICH MUSS DICH ÜBERSETZEN!« Vielen deutschsprachigen Autorinnen hat er seine Stimme geliehen, auch vielen zeitgenös- sischen wie Botho Strauß, Elfriede Jelinek, Teré- zia Mora, mit manchen wie Jenny Erpenbeck ist er mittlerweile gut befreundet, mit anderen im regen Arbeitskontakt. Dazu gehört auch die Leipzigerin Katharina Bendixen. Zur selben Zeit hatten sie ein Stipendium im LCB und Kypriotis interessierte sich für ihre Texte. Schon weil sie aus Leipzig komme, die Stadt wirke seit seiner Jugend bezaubernd auf ihn. Er wollte sich eine Pause vom Übersetzen gönnen und las Bendixens Erzählung aus »Der Whiskyflaschenbaum«. »Was für eine Erfah- rung war diese Lektüre!« Er las sie noch mal, Arbeiten konnte er nicht mehr, auch nicht mehr im Zimmer bleiben. Er wollte sich ein Bier in der Küche holen und raus ins Freie, in der Küche traf er Bendixen. »Was machen wir mit deinen Erzählungen? Ich glaube, ich muss dich übersetzen«, erzählt er voller Begeiste- rung. Sie hätten viel kommuniziert und es sei eine sehr produktive Zeit gewesen, obwohl er sich die ganze Zeit mit düsteren Texten be- schäftigen musste, habe er gute Laune gehabt. Die intensivste Schulung des eigenen Schreibens Dass Autorinnen zu Übersetzerinnen werden, ist keine Seltenheit, in der Lyrikszene gilt es um so mehr. »Für mich ist das Übersetzen die beste und intensivste Form der Schulung für das eigene Schreiben«, sagt der Lyriker, Essay- ist und Übersetzer Norbert Hummelt. Als handwerkliche Feinarbeit sei es unbezahlbar für das eigene Schreiben, eine Fortbildung im besten Sinne. Angefangen hat alles mit T. S. Eliots Gedichten, ein langer Prozess sei es gewe- sen, ein inniger Wunsch, damals noch ohne Aussicht auf Veröffentlichung. Mittlerweile liegen Eliots »Das öde Land« sowie »Vier Quar- tette« in Hummelts Übersetzung auf Deutsch vor. Doch er wagt sich auch an Übertragungen aus Sprachen, die er nicht spricht. So hat er schon mehrere Bände aus dem Georgischen übertragen. Ein Zufall? Schon früher habe er an Projekten teilgenommen, in denen sich Dichterinnen in Workshops gegenseitig über- setzen – auf der Grundlage von Interlinear- übersetzung (einer kommentierten Wort-für- Wort-Übersetzung) und mithilfe von Dolmet- scherinnen. »Das Nachdichten ist keine direkte Übersetzung, weil ich da schon mit einer Rohübersetzung arbeite. Es ist auf eine gefährliche Weise machbar«, kommentiert Hummelt. Drei Gedichtbände der georgischen I I K S N G A B A R U A L : O T O F 16 www.kreuzer-leipzig.de

| TITEL F O T O : H U N D T , H A M M E R , S T E N I Auch Übersetzen ist eine körperliche Tätigkeit: die Übersetzerin Sonja Finck : Erschreckend aktuell Die Übersetzerin Sonja Finck im Gespräch über die Texte von Annie Ernaux :logbuch: Sie sind ausgebildete Artistin und haben, wie ich gelesen habe, Ihr Übersetzungsstudium mit dem Jonglieren finanziert. Sehen Sie Parallelen zwischen diesen beiden Tätigkeiten? SONJA FINCK: Es gibt keine unmittelbare Parallele, so wie sie sich in der Metapher anbietet, aber beide Berufe lassen sich vergleichen: Beide sind künstlerisch und prekär. Was die soziale Absicherung betrifft, bin ich also vom Regen in die Traufe gekommen. Natürlich hat mir die Artis- tik trotzdem sehr viel mitgegeben: Jonglieren ist eine sehr körperliche Tätigkeit, und das Körperliche ist auch in der Sprache wichtig – zum einen muss es dem Körper gut gehen, damit ich gut übersetzen kann, zum anderen spielen auch hier Rhythmus, Atmung und Melodie eine große Rolle. :logbuch: Annie Ernaux gilt als Grande Dame der französischen Gegen- wartsliteratur, ihr Werk wurde aber erst durch Ihre Übersetzung in den letzten fünf Jahren in Deutschland rezipiert. Wie kam es dazu? FINCK: Es gibt drei alte Übersetzungen aus den 1980er bzw. 1990er Jahren, die wurden damals aber überhaupt nicht wahrgenommen. Ein Text wurde zum Beispiel eindeutig falsch vermarktet – als erotische Literatur. Frank Wegner von Suhrkamp hat dann das Buch »Les années« entdeckt, und der Verlag hat relativ früh die Rechte gekauft, nur wurde mit der Veröffentlichung bis zum Messeschwerpunkt Frankreich 2017 gewartet. Deswegen kam das Buch auf Deutsch erst nach Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« heraus, was in deutschen Medien oft zu einem falschen Rückschluss führte: Als müsste erst der Mann kommen, um der Frau den Weg zu bereiten, aber das stimmt einfach nicht. :logbuch: Der Roman ist ein sehr herausforderndes Buch zum Über- setzen, schon aufgrund der vielen Bezüge. Wie haben Sie sich dem Text angenähert? FINCK: Ich war anfangs leicht verzweifelt, mir war klar, dass es ein ganz schöner Brocken ist. Es ist vermutlich auch das schwerste Buch, das ich je übersetzt habe. Ich habe aber sehr eng mit dem Lektor zu- sammengearbeitet, schon während des Übersetzungsprozesses – das war toll und hat mir sehr geholfen. Ich arbeite prinzipiell so, dass ich meine Rohfassung vier bis sechs Mal überarbeite: Anfangs bin ich sehr nah am Original, später lese ich meine Übersetzung als deutschen Text, dann kehre ich wieder zum Original zurück und vergleiche Satz für Satz. Und was die kulturellen Bezüge angeht: Das versuche ich sub- til zu lösen. Ich will die Leserinnen und Leser nicht damit allein lassen, also füge ich hier und da eine kleine Erklärung ein, aber sie muss unbe- dingt plausibel klingen, so als hätte sie Annie Ernaux in dieser Form schreiben können. Das ist mein Ziel. :logbuch: Ernaux meinte, sie hätte das Buch nicht ohne ihre vorhe- rigen schreiben können. Haben Sie ihre anderen Bücher im Vorfeld auch gelesen? FINCK: Ich habe beim Übersetzen immer mal reingelesen, aber richtig intensiv beschäftigt habe ich mich mit den anderen Texten erst danach. Sonst hätte ich mir vielleicht einige Fragen erspart, aber man muss nicht ihr gesamtes Werk kennen, um »Die Jahre« zu übersetzen. Im Deutschen werden die Bücher in einer anderen Reihenfolge veröffent- licht, was auch interessant ist: Der Roman ist ein Rundumschlag, in den anderen Texten nimmt sie sich immer einen Aspekt vor, der in »Die Jahre« schon angelegt ist, und sei es nur in einem Satz. :logbuch: Ernaux bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«, schreibt autofiktional, und etwas verknappt formuliert nach dem Motto: »Das Private ist immer politisch.« Was macht es mit einer, in diese Welt einzutauchen? FINCK: Es geht mir auf jeden Fall nah, auch wenn ich einer anderen Generation angehöre. Ich stehe eng mit der Autorin im Dialog, persön- lich, aber auch durch die Texte – da habe ich oft das Gefühl, als würde ich mit der Frauengeneration meiner Mutter kommunizieren. Im Vergleich zu Ernaux ist bei mir der Bildungsaufstieg um eine Generation verschoben: Meine Eltern waren die Bildungsaufsteiger aus proletari- schen Verhältnissen. Ich finde da wirklich sehr viel aus meiner eigenen Familiengeschichte wieder. Und ich hätte beim Übersetzen von »Die Jahre« gern meine verstorbene Oma dazu befragt, wie die Leute damals in den 1950er Jahren gesprochen haben, aber das ging leider nicht. Also versuchte ich mich daran zu erinnern, wie sie über diese Zeit erzählt hat. Mit meinen Eltern habe ich mich wiederum viel über die studen- tische Sprache der Achtundsechziger ausgetauscht. :logbuch: Die Klassenfrage bei Ernaux und später bei Eribon war sowohl in Frankreich wie in Deutschland entscheidend für den Erfolg der Bücher. Liegt es vielleicht daran, dass diese Debatte in 18 www.kreuzer-leipzig.de

| TITEL F O T O : I B E A T R C E B A R T H Übersetzend die Gesellschaftsänderung denken: die Übersetzerin Lena Dorn : Streiten ums Literaturübersetzen Ist Übersetzen nationalistisch? Romantisch? Kolonialistisch? Unkritisch? I m Jahr 2021 geschah etwas Außergewöhnli- ches. Eine Debatte entbrannte über die Frage, wie man ein Gedicht übersetzt und wer es tun soll. In den Feuilletons herrschte großes Interesse an der Übersetzungskritik. Es ging um das Gedicht der jungen Lyrikerin, Aktivistin und Afroamerikanerin Amanda Gorman, die unter den Augen und Ohren der Weltöffent- lichkeit bei der Inauguration des US-Präsi- denten Joe Biden auftrat. Ihr Gedicht sollte – man konnte damit rechnen, dass die Nachfrage da sein würde – auch in Europa veröffentlicht und übersetzt werden. Aber wie eigentlich? Lässt sich der Text ohne seine Performance überhaupt übersetzen? Braucht man für die Anspielungen und sprachlichen Finessen eine erfahrene Englisch-Übersetzerin, oder muss man für ein Verständnis der gesellschaftlichen Position des Sprachklangs eine Person engagie- ren, die auf ähnliche Erfahrungen mit gesell- schaftlichem Rassismus zurückgreifen kann? Sollte eine Künstlerin die Entscheidungen über Wörter, Satzbau, Rhythmus, Ton, Bedeu- tungsfelder treffen oder eine Aktivistin? Gibt es eine richtige Antwort auf die Fragen? Für einen kurzen Moment schien die ganze histo- rische und gesellschaftliche Relevanz der Übersetzung von Literatur auf. Der große Streit zwischen der Relevanz des Universellen und dem Recht des Partikularen liegt im Literaturübersetzen ja tatsächlich of- fen zutage. Es ist unübersehbar, dass eine Übersetzerin nicht über dasselbe gesellschaft- liche Wissen und die identischen Erfahrungen verfügt, wie die Autorinnen, die sie übersetzt. Wir übersetzen auf der Basis unserer geform- ten Subjektivität und auf Basis des Vertrauens in etwas, das intersubjektiv kommunizierbar sein muss. Im Fall Gorman gab es etwa den Ansatz des Verlags Hoffmann und Campe, der drei Über- setzerinnen mit unterschiedlichen Erfahrungs- horizonten und Kompetenzen engagierte, nämlich Kübra Gümüşay, Hadija Haruna- Oelker und Uda Strätling. Die jeweiligen Erfah- rungen und Expertisen sollten zusammenge- nommen »kürzere Einfühlungswege« ermögli- chen, um den Begriff von Frank Heibert zu verwenden. Janice Deul wies in der Debatte in den Niederlanden auf Marktlogiken hin – die Auftragsvergabe habe doch eine Gelegenheit dargestellt, schwarzen Spoken-Word-Aktivis- tinnen auch in Europa mehr Aufmerksamkeit zu geben. Christian Metz vertrat, dass man reflektieren sollte, wer sich welche Geschichten aneignet und in den ökonomischen Kreislauf einspeist. Und Mithu Sanyal dachte über die Frage nach, wer an welcher Stelle die Erlaubnis und Möglichkeit bekommt, sich zu universali- sieren. Zunächst einmal können alle alles. Aber in den historisch gewachsenen Herr- schaftsverhältnissen kann die eigene Fähig- keit, sich einzufühlen, durchaus überschätzt werden. Wenig überraschend: Übersetzen findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt. In ihm brodelt sein Gewordensein weiter. Nationalistisch? Romantisch? In der Übersetzung steckt die Geschichte der Übersetzungsdebatten und der Sprachen. Die Nationalsprachen kommen nicht aus der Natur oder der Steinzeit, sondern hängen am moder- nen Nationsbegriff, in Europa Produkt des 19. Jahrhunderts. Dieses Erbe des Übersetzens schlägt sich bis heute nieder, etwa in Gedanken- figuren wie der des »Brückenbauens«, bei dem 20 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN I E L G N R P K R A M : Tradierte eurozentrische Arroganz Der Übersetzer Thomas Brückner über die nicht erhältlichen Bücher eines Nobelpreisträgers : O T O F A ls im vergangenen Oktober mit Abdulrazak Gurnah der Literaturnobelpreisträger verkündet wurde, ging ein beträchtliches Rau- nen durch die Medien. Kaum einer kannte den 1948 geborenen Sansibari, der seit Jahrzehnten in Großbritannien lebt, lehrt und schreibt. Die Folge war – Hektik. In ihr wurde (wieder ein- mal) schlaglichtartig beleuchtet, wie es um die Rezeption afrikanischer Literatur in Deutsch- land bestellt ist. Mit der hektischen Jagd nach Informationen zum Preisträger ging eine ebenso eigentümliche wie wenig neue Verdrän- gung einher, die sich zu erklecklichen Teilen aus tradierter eurozentrischer Arroganz speist. Schnell nämlich war man mit der Erklärung zur Hand (FAZ und andere), da man den Autor nicht kenne, könne es sich nur um eine poli- tisch hinterlegte Entscheidung handeln, denn die preiswürdigen kenne man schließlich alle. Ein leicht durchschaubarer Versuch, die eigene Unwissenheit zu kaschieren. Dabei ist Unwis- senheit nichts Schlimmes, weil man etwas da- gegen unternehmen kann. Und sie zuzugeben ehrt eher, als suchte man die eigene Winzigkeit durch das Postulat der Überlegenheit zu ver- bergen. Doch da war er wieder, der unselige Geist des literarischen Quartett spielers: »Den Nobelpreis sollte wohl erst Updike bekommen und dann Philip Roth, aber es werden beide ihn nicht bekommen, denn es wird sich ja sicher noch irgendjemand aus dem Sudan finden. Dass die nicht schreiben können, spielt gar keine Rolle. Eben weil sie nicht schreiben kön- nen im Kongo, muss man denen den Nobel- preis geben.« (Marcel Reich-Ranicki, »Das Lite- rarische Quartett «, 05.03.1992). Von da führt eine direkte Spur zurück ins 18. und 19. Jahr- hundert zu Kant und Hegel. Andere, wie die LVZ, verhielten sich weit cle- verer. Sie taten gar nicht erst so, als interessiere sie der preisgekrönte Autor und beließen es beim Abdruck der DPA-Meldung. Was auch auf die Berichterstatt ung zum Prix Goncourt und zum Booker Prize zutrifft, die neben dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels für Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe ebenfalls an afrikanische Autoren verliehen wurden: Der in Frankreich lebende Mohamed Mbougar Sarr erhielt den Prix Goncourt, der Booker Prize ging an Damon Galgut aus Südafrika, der Inter- national Booker Prize an den Franzosen David Diop, der wie Sarr senegalesische Wurzeln hat. Ein »afrikanisches« Jahr in der Bücherwelt des Westens. Legt diese Häufung wirklich den Schluss nahe, dass extraliterarische Gründe – politische oder dem Zeitgeist geschuldete – dabei eine Rolle spielten? Oder verhält es sich so, dass aus afrikanischen Literaturen jüngst so viel Herausragendes erschienen ist und man im Westen schlichtweg nicht mehr daran vor- beikonnte? Das seit Jahren Offensichtliche wahrnehmen musste, die Bereicherung erken- nen, die uns im Westen durch diese Kunst zuwächst? Die Wahrnehmung dieser Literaturen im frankophonen wie im anglophonen Raum ist – unter anderem historisch und sprachlich be- dingt – natürlich weit größer und fortgeschrit- tener als im vergleichsweise engen deutsch- sprachigen Raum. Warum diese räumliche Begrenztheit geistige Enge wie in den angeris- senen Beispielen zur Folge hat, ist jedoch nicht nachzuvollziehen. Zugegeben, die Notwendig- keit der Übersetzung bedingt einigen zeitli- chen Verzug. Zweitens sind es vor allem kleine und unabhängige Verlage, die mit viel Engage- ment, Können, Weitblick und Beharrlichkeit den Blick der Öffentlichkeit auf die afrikani- schen Literaturen gelenkt haben und lenken. Das bringt aufgrund fehlender Werbemitt el und Vertriebsstrukturen aber auch mit sich, dass die von ihnen vertretenen Schriftsteller meist »unter dem Radar der medialen Auf- merksamkeit fliegen« und sich »am Markt« nur schwer durchsetzen können. So verhielt es sich auch mit Abdulrazak Gur- nah, von dem bis in die frühen 2000er Jahre immerhin fünf Romane in deutscher Überset- zung erschienen waren. Danach leider nichts mehr, weil die Bücher sämtlich kein größeres Publikum erreichen konnten. Zum Zeitpunkt der Vergabe des Nobelpreises an Gurnah waren diese Bücher nicht mehr lieferbar und auch Übersetzungen neuerer Werke nicht erhältlich, weil kein Verlag das unternehmerische Risiko eingehen mochte oder konnte. Das bedeutet, dass die unabhängigen Verlage am Autor nicht festhalten, ihn nur selten »pflegen« können. Trotz einer relativ beständigen »Leserge- meinde« haben es diese Verlage selbst mit »gro- ßen« Autoren aus dem subsaharischen Afrika schwer, relevante Verkaufszahlen zu erreichen. 22 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN : Im Wunderland der Sprache Der Autor und Ex-Verleger Franz Hammerbacher über die Entdeckung der Liebe zur portugiesischen Literatur PESSOA M ein Interesse für Sprachen und Länder ging immer von der Literatur aus. So war es auch bei Portugal, von dem ich anfangs, als junger Student, so viel wusste wie die meisten meiner Generation: nichts. Kein Klischee, keine vorgefertigten Bilder, nicht mal eine tou- ristische Sehenswürdigkeit hätte ich nennen können. Portugal war Terra incognita. Darin lag ein gewisser Vorteil, gab es mir doch die Frei- heit, das Land unverstellt mit eigenen Augen und über die Literatur zu entdecken. im Portugiesischen so viel wie »Person, Maske, Fiktion, Niemand«. Als ich im Jahr darauf endlich, mit dem »Buch der Unruhe« im Ge- päck, nach Portugal reiste, stand ich ehr- fürchtig vor jeder Gedenktafel, auf der »Pessoa« zu lesen war. Es waren unglaublich viele! Als Pessoa dann auch auf Preislisten und im Fahr- stuhl (»max. 8 Pessoas«) auftauchte, dämmerte mir, dass es mit Kontemplation allein nicht getan war. Ich beschloss, die Sprache zu lernen. TORGA Das einzige Lehrbuch für Portugiesisch, das damals auf dem deutschen Buch- markt erhältlich war, war ein Langenscheidt- Sprachkurs mit Tonbandkassette aus dem Jahr 1971. Aus der Zeit vor der Nelkenrevolution. Die damals übliche Methode war Pattern- Drill. Noch heute kann ich die Satzmuster aus den ersten Lektionen auswendig, und sie werden vermutlich auch einer möglichen Alz- heimer-Erkrankung von mir standhalten: »Das Wasser kocht schon«, »Die amerikanischen Ingenieure waren noch nicht an der Algarve«, »Du darfst nicht in der Sonne lesen, auch nicht mit Sonnenbrillen«. Sätze, die in der Praxis anzuwenden ich mich auf Portugalreisen stets bemühte. Was mich im Kopf aber ebenso begleitete, waren die literarischen Texte, die ab der sechsten Lektion im Lehrbuch vorkamen: kurze Geschichten und Dialoge zeitgenössischer Autorinnen wie Luís de Sttau Monteiro und Agustina Bessa-Luís, die für mich Sinnbilder einer gesellschaftlichen Wirklichkeit waren, die sich von der unseren in Mitteleuropa unter- schied. Ebenso gab es Ausschnitte aus den Tagebüchern von Miguel Torga, dessen Origi- nalausgaben ich dann in Buchhandlungen in Lissabon und Porto vorfand: schlicht gestaltete Bücher mit ungeschnittenen Seiten; man musste sich den Zugang zum Text also indivi- duell mit Messer oder Schere verschaffen. Auf dem weißen Umschlag stand jeweils nur »Miguel Torga«, der Werktitel und »Coimbra«, was nicht etwa ein Verlagsname, sondern der Erscheinungsort war. Torga war ein rebellischer Geist, der sich zeit- lebens weigerte, seine Bücher der Zensurbehörde oder anderen Prüfinstanzen vorzulegen. Die aus seinen Einkünften als Arzt selbst bezahlten Exemplare brachte er von der Druckerei zu befreundeten Buchhändlern, die sie unter der Theke verkauften. Wurde eine Auflage beschlagnahmt, ließ Torga eine weitere folgen. Hätte Miguel Vom »Buch der Unruhe« von Fernando Pessoa hörte ich zum ersten Mal 1988, in einer Radiosendung zum 100. Geburtstag des Autors. Ich war augenblicklich entflammt. »Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuch- halter in einem Stoffgeschäft oder in irgend- einem anderen Geschäft in irgendeiner Unter- stadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.« Dass es einmal »das traurigste Buch Portugals« genannt wurde, befeuerte nur meine Begeisterung. Poesievernarrt, wie ich schon immer war, faszinierten mich Nebenbedeutungen oft mehr als die Hauptbedeutung eines Wortes. So ver- fehlte auch der Klappentext des Buches seine Wirkung nicht. Pessoa, hieß es da, bedeute Torga den Literaturnobelpreis bekommen, für den er in den 1980er Jahren im Gespräch war, wäre er der erste und einzige Nobelpreisträger gewesen, der seine Bücher im Selbstverlag herausgab. Seine insgesamt 16 Tagebücher (1941–1993) sind nach wie vor nicht ins Deutsche übersetzt. TAVARES Portugal ist mir immer als ein Wunderland der Poesie erschienen. In Portugal wachsen Erdbeeren auf Bäumen. Aus den Früchten wird der hochprozentige Medronho-Schnaps gewonnen. Es gibt Ortschaften mit Namen wie Penso (ich denke), Pêra (Birne), Laranjeiras (Orangenbäume) und Guerreiros do Rio (Flusskrieger) und ein Bergdorf namens Aldeia da Serra (Bergdorf). Meine Liebe zu diesem Land ist ungebrochen, und eigentlich würden mir Portugal und Tschechien auf Dauer reichen, um meine Reisesehnsüchte zu stillen. Als ich im Jahr 2000 die Edition Korrespon- denzen gründete, klammerte ich das Verlegen von portugiesischer Literatur bewusst aus. Manche Dinge sollte man sich fürs Private be- wahren. Der Verlag hat seinen Fokus auf Mittel- und Südosteuropa – woran sich auch nichts geändert hat, seit Reto Ziegler die Verlagsleitung übernommen hat. Auf der Leip- ziger Buchmesse machte ich 2019 aber eine folgenschwere Entdeckung. Damals geriet mir am Portugal-Stand der schmale Band »O Senhor Brecht« von Gonçalo M. Tavares in die Hände. Ich begann diese Kürzestgeschichten zu lesen, und mit jeder Minute wurde mir kla- rer, dass wir für diesen genialischen Autor voll funkenschlagendem Witz und Fantasie eine Ausnahme machen mussten. »Herr Brecht« ist aber nur einer von insgesamt zehn illustren Herren, die Tavares in einem fiktiven Stadtviertel versammelt hat und denen er jeweils ein eigenes Buch widmete. Wir sto- ßen auf Namen wie Breton, Calvino, Kraus und Valéry. Diese höchst vergnüglich zu lesenden Bände sind kleine Hommagen, die die Sprache des jeweiligen Schriftstellers und seine spezi- fische Sicht auf die Welt aufnehmen und mit alltäglichen Problemen kollidieren lassen. Mittlerweile, im März 2022, liegen die ersten sechs Bände aus dem Zyklus »Das Viertel« von Gonçalo M. Tavares in bibliophiler Ausstattung in der Edition Korrespondenzen vor. Franz Hammerbacher ist Autor und Lektor. Bis 2006 war er Verleger des von ihm gegründeten Wiener Verlags Edition Korrespondenzen. 24 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F De Liteatuwissenscha le Jobst Wele plädiet r Relektüe des potuiesieschen Nobelpeistäes José Saamao : Vom Ribatejo in die Welt Im November jährt sich der Geburtstag von José Saramago (–) zum . Mal. Eine (Neu-)Lektüe seines Wekes lohnt sich Z E R A V L A S O L R A C : O T O F A ls José Saramago 1998 den Nobelpreis für Literatur erhielt – als erster und bisher einziger Autor der portugiesischsprachigen Welt überhaupt–, waren nicht wenige der Meinung, dass diese Auszeichnung eher an seinen Landsmann António Lobo Antunes hätt e gehen sollen. Mit dem historischen Abstand zum Werk des 2010 mit 87 Jahren ver- storbenen Saramago steht heute jedoch außer Frage, dass es sich hier in der Tat um eine der herausragenden literarischen Leistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt. Am 16. November dieses Jahres jährt sich nun der Geburtstag von Saramago zum hundertsten Mal. In Portugal sind eine Reihe von Gedenkveranstaltungen geplant, die schon letztes Jahr mit einer Serie von Konferenzen der Saramago- Stiftung begannen. Das Zelebrieren von Jahrestagen ist übliche Praxis im Literaturbetrieb; warum aber sollten wir Saramagos Bücher heute (wieder) lesen, worin besteht ihr bleibender Wert und ihr Interesse? Ein naheliegender Ort zur Beantwortung dieser Frage ist der späte Roman »Die Stadt der Blinden« (1995), eine kraftvolle, verstörende Erzählung über eine Pandemie. Eine ungenannte Stadt in einem ungenannten Land wird durch eine anste- ckende weiße Blindheit heimgesucht. Der Roman beschreibt in bedrü- ckender Deutlichkeit anhand der Situation einer Massenquarantäne die Abgründe menschlichen Verhaltens und den plötzlichen Zusammen- bruch zivilisatorischer Gewissheiten. Einzig die »Frau des Arztes« (die Figur erscheint nur mit dieser Bezeichnung) ist auf unerklärliche Weise nicht infiziert und wird so zur sehenden Zeugin niedrigster Gewalt, aber auch Handlungen der Mitmenschlichkeit. Die »Blindheit« der Menschen ist für Saramago ein Zeichen für das ethische Versagen der Menschheit – dies wird aber nicht als Lehre ausbuchstabiert, sondern alles verbleibt ganz auf der Ebene der starken (inneren) Bilder, der labyrinthischen Räume und der pulsierenden Sprache der Erzählung. Es geht Saramago anhand dieser kollektiven Extremsituation um grundsätzliche Bedingungen von Menschlichkeit und Gesellschaft; der parabelhafte Gestus erinnert literarisch nicht zufällig an Kafka, Camus oder Golding (mit Anklängen an Dantes »Inferno«). Es ist interessant zu verfolgen, wie diese letzte, allegorische Phase Saramagos Kontinuitäten mit seinem bisherigen Werk aufweist, welches jedoch durch verschie- dene Entwicklungsphasen gekennzeichnet ist. Nach seinen Tätigkeiten als Journalist, Literaturkritiker und Überset- zer ab Mitt e der 1950er Jahre kam Saramago nach einem frühen Roman- versuch (1947) erst Mitt e der 1960er Jahre wieder zum literarischen Schreiben. Bezeichnenderweise setzte sein Erfolg als Romanautor erst nach der portugiesischen Nelkenrevolution (1974) ein. Sein Roman »Hoffnung im Alentejo« (1980; auf Portugiesisch: »Levantado do chão«, wörtlich: »Aufgehoben von der Erde«) verfolgt drei Generationen einer Landarbeiterfamilie in einer der ärmsten Regionen Portugals vom Be- ginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre. Saramago, seit 1969 Mitglied der kommunistischen Partei Portugals (PCP), war in diesem Roman auch durch das Leben seiner Großeltern, landloser Bauern aus seinem Geburtsort im Ribatejo, einer Provinz im Landesinneren, inspi- riert. Hier knüpft der Autor noch deutlich an die Tradition des portu- giesischen Neorealismus an. In der Schilderung der Sozialkämpfe ist der Roman parteilich, die literarische Form findet zu einem poetischen Ausdruck der Mündlichkeit und zu einer beeindruckenden, für Sara- magos weiteres Schaffen kennzeichnenden Mehrstimmigkeit und Multi- perspektivität – in diesem Fall zählt dazu auch der Blick eines Milans aus der Luft. Die mitt lere Phase seines Werkes, DIESE ROMANE INSPIRIEREN DAZU, SICH VON FESTEN in den 1980er Jahren, wird durch eine Reihe von »postmodernen«, selbstreflexiven Romanen gekenn- zeichnet, die die Zeit der Gegen- wart mit historischen Ereignissen der portugiesischen National- und Kulturgeschichte sowie mit fantasti- schen Elementen und universalen VORSTELLUNGEN ZU LÖSEN UND SICH INS OFFENE ZU BEGEBEN Themen verquicken. »Das Memorial« (1982) ist eine satirische Fabel aus dem 18. Jahrhundert mit vielen Anspielungen auf Kunst, Musik und Rhetorik dieser Zeit. Die Errichtung des Nationalpalastes und Klosters in Mafra durch den absolutistischen Hof, eingebett et in den Kontext der Inquisition, erscheint hier aus der Perspektive der Liebesgeschichte zwischen einem Kriegsinvaliden und einer mit seherischen Fähigkeiten versehenen jungen Frau, Baltasar und Blimunda. Diese Geschichte wird verfremdet durch das utopische Element eines durch einen jesuiti- schen Wissenschaftler entwickelten Luftschiffs, dessen Treibstoff der »menschliche Wille« ist. 26 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN : Portugal lesen? Lektüetipps von Übesetzeinnen VON MARTINA LISA D urch die Messe-Absage im vergangenen Jahr wurde auch der Gastauftritt Portugals um ein Jahr verschoben. Viele Bücher wurden nun ins Deutsche übersetzt. Aber wo fängt man da an? Was soll man am besten lesen? Wir haben uns Lektüretipps bei den Kennerinnen geholt, bei den Übersetzerinnen aus dem Portugiesischen. MARIANNE GAREIS übersetzt Literatur aus dem Portugiesischen und Spanischen, sie empfiehlt zwei Romane: »Aber wir lieben dich« von Afonso Reis Cabral erzählt eine eindringliche, auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte zum Thema Gewalt gegen Transsexuelle. Beschrieben wird die Beziehung zweier am Rand der Gesellschaft stehender Menschen, die sich im Laufe des Romans zunehmend verändert und aufgrund von Gruppenzwängen in einem Gewalt- verbrechen endet. »Galveias« von José Luis Peixoto beschreibt den faszinierenden Mikrokosmos eines portu- giesischen Dorfes in den 1980er Jahren. Trotz der manchmal etwas fantastisch anmutenden Verfremdung machen die Sensibilität und das Feingefühl, mit der José Luis Peixoto sein Heimatdorf porträtiert, diesen Roman zu einer besonderen Lektüre. ▶ Afonso Reis Cabral: Aber wir lieben dich. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. München: Hanser . 34 S., 4 € ▶ José Luis Peixoto: Galveias. Aus dem Portugiesischen von ren, fast alchemistischen Sinn. Tochter einer polnischen Mutt er aus Łodz und eines mehr- fach inhaftierten portugiesischen Vaters von der Algarve, die sich vor dem Krieg in Paris kennenlernten und zu Hause miteinander nur Französisch sprachen. Der Roman taucht tief ein in die Landschaft der Algarve mit ihren Stränden und Legenden, ihrem Aberglauben, und kreist um das Schicksal einer Familie, die wiederholt emigrierte. ▶ Maria Velho da Costa: Myra oder Zwei Tage Glück. Aus dem Portugiesischen von Markus Sahr. Leipzig: Leipziger Literaturverlag 4. 6 S., ,5 € ▶ Yvett e K. Centeno: Im Garten der Nußbäume. Aus dem Portugiesischen von Markus Sahr. Leipzig: Leipziger Literaturverlag 4. 4 S., 4,5 € MARIE-T. CERMANN ist Übersetzerin für Slowakisch, Französisch und Portugiesisch. Ihr Tipp? Der Roman des brasilianischen Autors Michel Laub »Tagebuch eines Sturzes«, der über drei Generationen den Sturz einer Familie schildert und von Auschwitz nach Brasilien führt. Der Großvater will sich nicht erinnern, der Vater erkrankt an Alzheimer und kann es nicht und erst dem Enkel gelingt es, zu den Wurzeln der Erinnerungen vorzudringen. Außerdem solle man José Saramago lesen, zum Beispiel: »Alle Namen«, einen Roman, der einen schön langsam und fast sadistisch in die verrückten Ideen und Handlungen seines Helden hineinzieht. ▶ Michel Laub: Tagebuch eines Sturzes. Aus dem Portugie- Ilse Dick. Wien: Septime . 3 S., 4 € sischen von Michael Kegler. Stutt gart: Klett -Cott a 3. MARKUS SAHR lebt als Übersetzer aus dem Portugiesischen und Englischen in Leipzig. Zwei »seiner« Autorinnen haben ihn besonders beeindruckt: Das Buch der 2020 verstorbenen Maria Velho da Costas »Myra oder Zwei Tage Glück«. Myra, eine minderjährige russische Emigrantin, zieht im Winter querfeldein durch den Süden Portugals. Sehnsucht nach Russland, die in Erinnerungen an die Großmutt er immer wieder aufscheint, Neugier auf das fremde Land, dem sie sich auf der Flucht, auch vor der eigenen Familie, ausgeliefert weiß. Einziger Gefährte: Rambô, ein Kampfhund, den sie zuvor aus einer Strandbaracke befreit hat. Yvett e K. Centenos »Im Garten der Nuß- bäume« spielt wenige Jahre nach der Nelken- revolution 1974, die Sprache ist das Werkzeug von Yvett e K. Centeno und dies in einem tiefe- 76 S., ,5 € ▶ José Saramago: Alle Namen. Aus dem Portugiesischen von Ray-Güde Mertin. Hamburg: Atlantik 6. 34 S., 5 € MICHAEL KEGLER übersetzt seit den 1990er Jahren portugiesischsprachige Literatur aus drei Kontinenten und empfiehlt die Reihe »Das Viertel« von Gonçalo M. Tavares. Darin macht sich der portugiesische Ausnahmeautor und Philosoph Gonçalo M. Tavares in kleinen Paraphrasen über (letztendlich von ihm selbst erfundene) berühmte Gestalten der Weltlite- ratur lustig und lässt sie auf ihre jeweils eigene Weise über die Welt und noch manch anderes nachdenken. Der neueste, sechste Band »Herr Calvino und der Spaziergang« erscheint pünkt- lich zur Leipziger Buchmesse. ▶ Gonçalo M. Tavares: Herr Calvino und der Spaziergang. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Wien: Edition Korrespondenzen . 8 S., 6 € 28 www.keuze-leipzig.de

| MAGAZIN : Wenn Dichterinnen sich gegenseitig übersetzen Wekstatteinblick in ein kleines Übesetzunspojekt zwischen Leipzi und São Paulo A us der Kooperation zwischen den Univer- sitäten Leipzig und São Paulo ist ein selbstorganisiertes Übersetzungsprojekt entstanden, in dem sich sechs Dichterinnen- Paare gegenseitig übersetzen. Andra Schwarz, Danilo Serpa und Jan Schaldach sprachen mit dem :logbuch über die Idee, die Herausforde- rungen und ihre Begeisterung fürs Übersetzen. Seit einigen Jahren arbeiten die beiden Unis zusammen an einem wissenschaftlichen Pro- jekt, in dem es, etwas allgemein gesagt, um das Übersetzen von Gedichten geht. Einige der Teilnehmenden wollten auch die praktische Seite ausprobieren und fingen an, die eigenen Gedichte gegenseitig zu übersetzen. Daraus wurde ein neues, selbstorganisiertes Projekt, erzählt Jan Schaldach. Der Leipziger Literatur- wissenschaftler gehört zusammen mit Matheus Guménin Barreto, der damals an der Uni Leipzig zu Gast war, und seiner Leipziger Kolle- gin Marit Heuß zu den Initiatorinnen. Ganz neu ist die Idee nicht, ähnliche Projekte oder Werkstätten organisiert zum Beispiel das Haus für Poesie in Berlin. Kurz wurde auch über eine mögliche Zusammenarbeit nachge- dacht, doch am Ende haben sie sich für eine eigene Sache entschieden. Sechs Paare haben sich zusammengefunden, viele kannten sich schon vorher persönlich. Neben Jan Schaldach und Matheus Barreto sind es: Marit Heuß und Sofia Mariutti, Douglas Pompeu und Timo Berger, Lubis Prates und Odile Kennel, Nina Rizzi und Cornelia Hülmbauer sowie Andra Schwarz und Leila Danzinger. Die Leipzigerin Andra Schwarz kam etwas später dazu, ihre brasilianische Tandempartnerin kannte sie vorher nicht: »Ich habe Leila im Netz recher- chiert, ob ich da andocken kann, und fand es sehr interessant, weil sie auch als bildende Künstlerin viel zu historischen Momenten ar- beitet, viel recherchiert und ähnlich geht sie auch in ihren Texten vor.« Das habe ihr zuge- sagt, erzählt Schwarz und war sofort dabei, obwohl sie selbst kein Portugiesisch spricht. Da ist sie nicht die Einzige. Und das ist auch der Reiz des Projekts, einander auch ohne die jeweiligen Sprachkenntnisse zu übersetzen. Unterstützt werden die Dichterinnen dabei von Danilo Serpa, Rafael Silveira und Christian Erst, die für sie Interlinearübersetzungen an- fertigen. Danilo Serpa, gerade als Gastwissen- schaftler in Leipzig, ist zwar kein hauptberuf- licher Übersetzer, aber ein ausgesprochener Kenner der literarischen Szene. »Ich versuche so vorzugehen, wie man es aus einigen älteren zweisprachigen Ausgaben, zum Beispiel von Hölderlin kennt, also Wort für Wort. Natürlich muss ich darauf achten, dass der Zusammen- hang nicht verloren geht. Ich versuche so zu übersetzen, dass der Text für sich steht, aber ich mache auch immer wieder einige Kommen- tare – und warte auf Rückfragen, damit ein Dialog entstehen kann«, berichtet Serpa. Erst kürzlich führte Andra Schwarz ein längeres Gespräch mit »ihrem« Interlinearübersetzer Rafael Silveira. Sie hatte noch einige Fragen: »Und es war richtig schön, darüber in Aus- tausch zu treten. Denn umso mehr man darü- ber kommuniziert, umso mehr erschließen sich AUS DER ÜBERSETZTUNGS-WERKSTATT: Ein Gedicht von Sofia Mariutti in der Nachdichtung von Marit Heuß o primeiro escorpião era vermelho e me veio depois da febre numa espécie de parto Jener erste der Skorpione war wohl knallrot und besuchte mich nach dem Fieber, eine besondere Geburt o segundo era preto ninguém quis matar lançaram à neve depois foram sete, amarelos, não sei bem como cabiam no apartamento os gatos brincavam com eles sem medo logo vieram onze de uma vez todos marrons, debaixo da cebola no braço do sofá subindo pelas paredes entre as roupas por fim veio você enfim você no seu ritmo jener zweite war glutschwarz, von keinem zu töten, ich warf ihn in den Schnee danach gab es sieben, citrusgelb, oh was weiß ich, wie sie ins Appartement passten, die Katzen spielten mit ihnen ohne Angst später kamen elf auf einen Schlag, alle braun, krochen unter der Zwiebel, der Sofalehne hoch über Wände zwischen den Kleidern am Ende kamst du endlich du in deinem Rhythmus 30 www.keuze-leipzig.de N E Y T S E B E S O K D L I I : O T O F T A V R P I : 4 - 2 S O T O F I K S R E L E M O T O F : O T O F

| MAGAZIN : Können Sie davon leben? Brotjobs & Literatur: Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben sich längst in mehreren Welten eingerichtet A m 13. Oktober 2020 hat Dinçer Güçyeter (*1979) ein Foto von sich im Blaumann gepostet. Güçyeter ist, wie er sagt, »vielspurig« unter- wegs: als Dichter, Schauspieler, Leiter einer freien Theatertruppe und seit 2011 Verleger des auf Lyrik spezialisierten Elif-Verlags in Nettetal. Daneben arbeitet der Vater von zwei Kindern seit drei Jahren auch für einige Stunden am Tag als Staplerfahrer. Ein Minijob. »Ich kenne die Chefin der Speditionsfirma, bei denen war Not am Mann, den nötigen Schein hatte ich noch aus meiner Werkzeugmechanikerlehre. Und dem Verlag gings damals wegen einer Finanzamtsnachzahlung nicht so gut. Also habe ich zugesagt.« Das Facebook-Posting nach einem halben Jahr im Corona-Modus geschah aus einem wütenden Impuls des Sich-nicht- mehr-verstecken-Wollens. Eine Initialzündung: Über 300 Likes und etliche Kommentare später beschließen Julia Dathe, Kathrin Schadt und Christoph Wenzel sowie Iuditha Balint vom Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, eine Anthologie mit Texten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern herauszubringen. Die Fragen, um die es ihnen geht, werden immer noch viel zu selten gestellt: Unter welchen Bedingungen wird Literatur geschrieben? Wie hängen der existenzsichernde Broterwerb und das literarische Schreiben zusammen, wie wirken sie sich aufeinander aus? 19 Autorinnen und Autoren sind es schließlich, die in »Brotjobs & Literatur« (Verbrecher Verlag) unge- schönte Einblicke in die ökonomischen Rahmenbedingungen ihres Schreibens geben. Das Spektrum reicht vom Verleger der Parasiten- presse, Adrian Kasnitz, der die Perspektive des schreibenden Haus- manns einbringt, bis zum Autor und Gestalttherapeuten Thorsten Krämer, der einen in Kategorien des Geniekults feststeckenden Kultur- betrieb skizziert. Michael Schweßinger sorgt mit seinem buchstäb- lichsten aller Brotjobs – er ist Teilzeit-Bäcker – für die beste Pointe des Bandes. Auch der Kleinverleger Güçyeter ist mit von der Partie und zeigt uns die Mühen der Ebene. »Brotjob: ständiger Rollenwechsel, auch wenn du emotional wie ein gerupfter Vogel im Käfig stehst, sich zu einem Wildvogel projizieren, aus Nichts Glitzerillusionen gebären können.« Für seine gesammelten Kritiken und Interviews fand der Bayer Karl Bruckmaier vor fast dreißig Jahren den schönen Titel »I’m only in it for the Zeilenhonorar«. »Wir nennen es Arbeit«, hatten Holm Friebe und Kathrin Passig ihr Buch über »intelligentes Leben jenseits der Festan- stellung« 2007 betitelt. Das waren die Jahre der digitalen Bohème. Im Jahr 2020 betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen der bei der Künstlersozialkasse im Bereich »Wort« versicherten Autorinnen und Autoren 22.349 Euro – weit weniger als das, was Erwerbstätige mit ver- gleichbarem Bildungsniveau erzielen. Zwar steigt die Zahl der in diesem Bereich selbständig Tätigen (von 24.675 im Jahr 1998 auf 41.569 im Jahr 2018), doch kann das Erwerbsmodell des hauptberuflich tätigen Autors noch immer als Ausnahme gelten. Die Literatursoziologin Carolin Amlinger kommt in ihrer wegweisenden Studie »Schreiben. Eine Sozio- logie literarischer Arbeit« (Suhrkamp 2021) zu dem Schluss, dass der Erwerbsalltag von Autorinnen und Autoren de facto durch ein prekäres Pendeln zwischen verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen gekenn- zeichnet ist: »Als Alleinunternehmer sprechen Autorinnen darum häufig von einer individuellen Mischkalkulation, in der durch Mehrfach- beschäftigung, befristete Anstellungsverhältnisse, Teilzeitarbeit, Literaturpreise oder Stipendien das nicht existenzsichernde literarische Schreiben kompensiert wird.« Warum die prekäre Dimension der Arbeit das Selbst-verständnis der Kreativen nur partiell prägt, weiß Amlinger auch: Das Freiheitsversprechen des »autonomen Original-Genies« über- lagert die prekäre »Ich-AG-Logik«. 32 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN T O K O K A H C S A S : O T O F und Performerin in Leipzig lebt, glaubt nicht, dass Herablassung in der Frage steckt. »Das Unsicherheitsmoment, das in der freien Künstler- existenz steckt, ist vielen suspekt.« Hefter kann nicht vom Verkauf ihrer Bücher leben, auch wenn der jüngste Band »In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen« (kookbooks) von der Kritik gefeiert wird. Dennoch konnte sie von Anfang an von ihrer Arbeit leben, ohne auf fachfremde Brotjobs zurückgreifen zu müssen. Ihr Arbeitsalltag spielt sich in einer Art »Gemischtwarenladen« ab. Dazu gehören Lesungen und Performan- ces ebenso wie Stipendien und unregelmäßige Lehraufträge, etwa an der Wiener Sprachkunst, am DLL oder der Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein. »Ich kenne viele, die die Unsicherheit künstlerischer Arbeit nicht ausgehalten haben«, sagt Hefter, die jedoch keinesfalls »Armut als Voraussetzung für Kunst« fordert. Eher geht es um eine »Dringlichkeit«, die für sie mit »Mut und dem Willen zur Freiheit« zu tun hat. Und mit genug Zeit für die »eigentliche« Arbeit. Martina Hefter ver- öffentlichte ihren ersten, hochgelobten Roman (»Junge Hunde«, Alex- ander Fest 2001) noch während ihres Studiums am DLL, zur Zeit des »Fräuleinwunders«. Nach zwei weiteren Romanen schlug sie mit dem Lyrikband »Nach den Diskotheken« (kookbooks 2010) einen ganz anderen Weg ein. Momentan arbeitet sie – Überraschung! – an einem Versepos und einem Roman. »Ich bin Künstlerin – und möchte so viel wie möglich ausprobieren.« »And sorry to tell you that we do not accept little kids as it really troubles other writers who need to concentrate«, war die Antwort auf eine Anfrage an ein Künstlerhaus, ob die Möglichkeit bestehe, zu dem bereits zugesagten Aufenthaltsstipendium mit Familie anzureisen. Obwohl sich Katharina Bendixen (*1981), freie Autorin und Mutter zweier Kinder, in Pandemie-Zeiten nur schwer konzentrieren konnte, hat sie zusammen mit Sibylla Vričić Hausmann, Barbara Peveling und David Blum im Februar 2020 die Website other writers need to concentrate über die komplexen Verbindungen zwischen Autorschaft und Eltern- schaft eingerichtet. Bendixen hat 2009, zwei Jahre nach Abschluss ihres Studiums der Buchwissenschaft und Hispanistik, ihren ersten Erzähl- band (»Der Whiskyflaschenbaum«, Poetenladen) veröffentlicht, dazu als Übersetzerin und Prosa-Redakteurin der Zeitschrift poet gearbeitet. Seit 2014 lebt sie »allein vom Schreiben«, ne- ben Lesungen sicherten vor allem Stipendien und Residenzen den Lebensunterhalt. Mit Geburt des ersten Kindes änderte sich das. »Ein scheinbarer Karrierestopp, der mich sehr nachdenklich machte.« Mit der Other-writers- Seite, neben der im Januar 2021 ein Verein ent- stand, rannten Bendixen und ihre Kolleginnen fast offene Türen ein; in Corona-Zeiten war Care-Arbeit in aller Munde. Rund fünfzig Auto- rinnen und Autoren – darunter Franziska Gerstenberg, Kirsten Fuchs oder Selim Özdo- gan – bloggen inzwischen über das Leben und Schreiben mit Kindern, außerdem gibt es Lek- türeempfehlungen zum Thema Elternschaft und künstlerischer Prozess sowie Hinweise zur Familienfreundlichkeit von Aufenthaltssti- pendien. Das scheint nicht folgenlos zu bleiben: Als eine der bundesweit ersten Kommunen ist Dresden, wo Katharina Bendixen in diesem Jahr für sechs Monate das Amt der Stadt- schreiberin bekleiden wird, dabei, das Thema Aufenthaltsstipendien zeitgemäßer zu gestal- ten – die Autorin wird stärker im digitalen Raum, als Pendlerin zwischen Dresden und Leipzig sowie Beruf und Familie, in Erschei- nung treten. »Inzwischen«, so Bendixen, »bietet die Stadt sogar an, sich um Betreuungs- plätze zu kümmern.« Welcome to reality! Nicht nur in Leipzig, wo man gerade über ein Aufenthaltsstipendium im Namen des Heizers und Büchnerpreisträgers Wolfgang Hilbig nachdenkt, ist man von solch revolutionären Umtrieben noch immer meilenweit entfernt. NILS KAHLEFENDT 34 www.kreuzer-leipzig.de H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F

| MAGAZIN Ein Hybrid-Interview in der kreuzer-Redaktion : »Dass diese Dinge in die Welt kommen und einen Platz darin finden in Form von Literatur« Ein Gespräch mit Kaśka Bryla, Heike Geißler und Bettina Wilpert über Freundschaft und Widerstand, erzählerische Dringlichkeit und den Umgang mit Zumutungen E s ist ein kalter Tag Mitte Januar, wir sind in der kreuzer-Redaktion zum Gespräch verabredet − geboostert und getestet, die Omikron- Welle rollt gerade heran. Heike Geißler und Bettina Wilpert sind vor Ort, Kaśka Bryla ist aus Wien online dazugeschaltet. Anlass des Gesprächs sind die neuen Romane der drei Autorinnen: »Herumtreibe- rinnen« von Bettina Wilpert, »Die Woche« von Heike Geißler und »Die Eistaucher« von Kaśka Bryla. :logbuch: Frau Geißler, Ihr Roman »Die Woche« handelt von einer Woche, die immer wieder von vorn zu beginnen scheint. Sie schreiben: »Wir sind am Anfang der Woche und noch im Vollbesitz unserer geisti- gen Kräfte. Wir hätten das feiern sollen. Wir feiern später alle Verlus- te.« War das Buch für Sie auch eine Form der Verarbeitung von Corona- Erfahrungen? HEIKE GEISSLER: Um die Pandemie ging es gar nicht direkt, aber ich würde sagen, alles, was ich schreibe, ist Verarbeitung, ist ein Versuch, zurechtzukommen. »Die Woche« ist über mehrere Jahre entstanden. Es war ein langsamer Schreibprozess, unterbrochen durch alle möglichen Sachen, in der Regel andere Aufträge, andere Texte. Fertiggestellt habe ich das Manuskript im Sommer, als die Corona-Zahlen gerade niedrig waren. Das heißt, die Kinder waren endlich wieder in der Schule, Home- schooling war vorbei. Man kann keinen Roman fertigstellen, wenn im Nebenraum Homeschooling ist. Aber gut − im Nebenraum ist immer irgendwas. (Alle lachen.) Ja, das ist wichtig: Ideal und Wirklichkeit. Die Texte, die ich schreibe, müssen auf meine Wirklichkeit reagieren. Dass dieses Gefühl entsteht, dass das Buch auf die Pandemie reagiert, liegt, glaube ich, daran, dass es von Ohnmacht handelt, von Willkürerfahrun- gen. Ich habe gemerkt: Ich verliere all meine Worte, ich werde stumm, weil so viel Hässlichkeit und Brutalität in der Welt ist. Trump, Pegida, die Montagsdemonstrationen, das war der Auslöser damals. »ES GEHT MIR SCHON UM DIE VERBESSERUNG DER WELT« :logbuch: Die Montagsdemonstrationen spielen in Ihrem Buch insofern eine besondere Rolle, als sich die Montage häufen und damit auch die Notwendigkeit der Reaktion darauf. GEISSLER: Ja. Aber es ist kein Buch über die Montagsdemonstrationen, sondern die Montagsdemonstrationen sind ein Ausdruck von Verände- rungen in der Gesellschaft. Worum es eigentlich geht, ist diese Bünde- lung von Zumutungen. Eine der Protagonistinnen erfindet ja ständig Schulungsangebote, Vorlesungen und Seminare, und das ist tatsächlich auch ernst gemeint. Es geht mir schon um die Verbesserung der Welt. Einerseits über die Runden zu kommen, den nächsten Tag zu erreichen, Alltag zu leben. Nicht den Mut zu verlieren und zugleich eben auch wehrhaft zu bleiben in jedweder Beziehung. Auch davon handelt das Buch, am Beispiel einer Freundschaft und dem Versuch, sich zu erweh- ren gegen die Zumutungen der Außenwelt. :logbuch: Frau Wilpert, Ihr neuer Roman »Herumtreiberinnen« handelt von drei jungen Frauen, deren Leben während des Nationalsozialis- mus, den 1980er Jahren in der DDR und den 2010er Jahren durch einen Gebäudekomplex in Leipzig verbunden sind, angelehnt an die Riebeckstraße 63: In der NS-Zeit Drehscheibe für zivile Zwangsarbeit, in der DDR geschlossene Station für Geschlechtskranke und heute eine Geflüchteten-Unterkunft. Was war beim Schreiben Ihres zweiten Romans anders? BETTINA WILPERT: Ich fand es sehr schwierig, das zweite Buch zu schreiben. Diesen Druck, von dem bezüglich des zweiten immer gespro- chen wird, habe ich sehr stark gespürt und war nach meinem Debüt- roman lange damit beschäftigt, überhaupt damit klarzukommen: Jetzt bin ich Schriftstellerin, und Leute sehen mich auch so. Plötzlich grüßen mich Leute, denen ich davor scheißegal war. Das finde ich extrem unangenehm, wenn ich das Gefühl habe, die Leute sind nicht an mir als Person interessiert, sondern an dem, was ich darstelle. :logbuch: Hat sich durch die Pandemie Ihr Schreiben verändert? WILPERT: Corona hat mir in gewisser Hinsicht bei der Arbeit geholfen. Große Teile des Romans habe ich im ersten Lockdown fertiggestellt. Ich habe das Manuskript vor der Geburt meines Kindes abgegeben, das war sozusagen meine Deadline – ich wusste, bis dahin muss ich fertig sein. Erst jetzt im Oktober begann das Lektorat. Das geht auch mit Baby, selbst wenn ich müde bin, weil ich nachts fünfmal gestillt habe. Ansons- ten hat mein Partner unsere Tochter gerade auch mehr, so dass ich mir die Zeit nehmen kann, die ich brauche. Herausfordernd war vor allem das inhaltliche Wiedereinsteigen nach einem Dreivierteljahr Pause. Ich 36 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN : Verstummte Stimmen hörbar machen Zwei Dichterinnen im Gespräch: Sibylla Vričić Hausmann spricht mit Ulrike Draesner über biografische Brüche, die Ränder des Sagbaren und das Übersetzen als Schreibprozess Die :logbuch-Autorin Sibylla Vričić Hausmann trifft Ulrike Draesner an einem Vormittag im Januar per Zoom. Die Autorin und Profes- sorin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig (DLL) ist coronabedingt im Homeoffice in Berlin. Kurz davor ist Draesners neues Buch erschie- nen: »hell & hörig« (Penguin, 2022), eine Zusammenstellung ihrer Ge- dichte aus den letzten 25 Jahren. Anlass, zurückzuschauen, hat Draesner: ihren 60. Geburtstag. :logbuch: Sehen Sie Ihre eigene Geschichte als eine Geschichte der Brüche oder der Kontinuität? ULRIKE DRAESNER: Als eine Geschichte der Brüche. Ich habe ja zu- nächst angefangen, Jura zu studieren, dann habe ich zu Anglistik, Germanistik und Philosophie gewechselt. Ich habe eine Dissertation in Mediävistik geschrieben und hatte eine Unistelle, die ich aber wieder aufgegeben habe. Eine Zeitlang war ich arbeitslos. Damals waren meine Eltern verzweifelt, ich selbst ratlos, was das werden soll. Ständig hat alles gewechselt, erratische Sprünge … Im Nachhinein war es eine tolle Ausbildung als Schriftstellerin. Ich schrieb heimlich nebenbei. Ich war eine unveröffentlichte Autorin, die niemandem etwas zeigt und in Traun- stein lebt. Auch nach dem Bekanntwerden ging es weiterhin munter auf und ab, was Liebesbeziehungen, Wohnorte und Einkommen angeht. :logbuch: Aber das Schreiben ist geblieben. DRAESNER: Ja, das Schreiben ist die einzige kontinuierliche Sache in meinem Leben geblieben. Seit 1989 schreibe ich jeden Tag. Meine Lyrik und Prosa waren zu Beginn ähnlich und haben sich über die Jahre aus- differenziert. Das hängt damit zusammen, dass ich das Schreiben als einen Suchgang verstehe, auch bei den Romanen. Beim Schreiben re- flektiere ich unter anderem, wie in den Wissenschaften Sprache mo- dellbildend wird. Und ich versuche, verstummte Stimmen hörbar zu machen. Die Ränder des Sagbaren in das Licht meiner Sprache zu stellen – das ist es, was mich im Kern antreibt. :logbuch: Widersprechen sich der akademisch-forschende und der po- litische Anspruch manchmal? Wie erhalten Sie sich Deutlichkeit? DRAESNER: Meine Texte sind keineswegs elitär oder akademisch. Ich lese, ich recherchiere, ich profitiere vom Wissen anderer. In meinem Roman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« (btb, 2016) geht es zum Beispiel um das Phänomen der intergenerationellen Traumatisierung. Ich habe es am eigenen Leib erlebt, da mein Vater als Kind aus Schlesien fliehen musste. Bis heute habe ich Träume und Ängste, die nicht zu mir gehören. Durch die Traumaforschung konnte ich endlich verstehen, was ich da erlebe. Das möchte ich durch den Roman auch anderen ermöglichen. Ich habe immer einen politischen Anspruch. Seit 2010 schreibe ich keinen erzählerischen Text mehr, in dem es nur weiße Menschen gibt. In meinem Gedichtzyklus »Die blaue Sphinx« von 2001 thematisiere ich eine Fehlgeburt. So eine Erfahrung galt damals keines- wegs als poetisches Thema und ich war die Erste, die sie ins Gedicht gebracht hat. Zum Glück hat sich seitdem einiges getan. :logbuch: Neben weiblichen Perspektiven sind das Thema Körper und N N A M Z T U B K N M O D I I : O T O F Schreiben bleibt die einzige Kontinuität im Leben der Jubilarin Ulrike Draesner das Nature Writing Schwerpunkte Ihres Schaffens. Wie grenzen Sie sich von patriarchalischen Perspektiven ab, die Frauen aufs »Natürli- che«, den Körper, beschränken wollen? DRAESNER: Ich finde, man darf sich nicht von Klischees vor sich her treiben lassen. Ein Klischee wie dieses darf mir nicht den Zugriff auf ein Thema verschließen. Ich frage mich natürlich immer wieder: Wie wird Weiblichkeit eigentlich erzählt? Traditionell mit einem darüber gegosse- nen männlichen Blick. Hier versuche ich, den Blick zu weiten. Auch die Narrative, die über Natur gestülpt werden, sind extrem eng. Man sieht ja am Anthropozän und am Klimawandel, wo uns das hingeführt hat. :logbuch: Ist Naturlyrik nicht eskapistisch? DRAESNER: Es gibt oder gab sehr erfolgreiche eskapistische Naturlyrik, etwa im 19. Jahrhundert. Beim Nature Writing geht es aber darum, den Gegensatz zwischen Natur und Kultur als konstruiert zu entlarven. Natur soll eben nicht mehr objektiviert und in den Dienst des Menschen gestellt werden. Die Begegnung mit Natur, wie wir sie heute brauchen, besteht daraus, sich dem Erleben von anderen Tieren – wir sind ja auch Tiere – und Pflanzen anzunähern. Es zu übersetzen. :logbuch: Da klingt ein besonderer Übersetzungsbegriff an, der für Ihr Schreiben charakteristisch ist. DRAESNER: Den Arbeitsprozess, aus Sprache Literatur zu formen, nenne ich Übersetzen. Ich habe diese Sprache, wie sie mir entgegen- kommt, und löse sie aus ihrer alltäglichen Verwendung. Was gebe ich auf dem Papier hinzu, damit sie wieder lebendig wird? Ich taste sie ab, rhythmisiere sie, schaffe ein Gewebe, einen Ton für jede Figur. Eine Redakteurin fragte mich einmal zum letzten Satz einer meiner Geschich- ten, warum er so bedeutungsvoll klinge, obwohl er inhaltlich doch eigentlich ganz banal sei. Wir lachten zusammen. Die Antwort liegt natürlich im Gesamtgewebe des Textes, in meiner Textarbeit. :logbuch: Aber auch im engeren Sinne sind das Übersetzen und die Mehrsprachigkeit wichtig für Sie, oder? DRAESNER: Das Englische ist Stück meines Lebenslaufes. Ich bin mit 21 Jahren als Jurastudentin nach Oxford gegangen. Damals war ich richtig abgeschlossen von der deutschsprachigen Welt, hörte null Deutsch für ein Jahr und fremdelte nach meiner Rückkehr damit. Da erst fing ich an, ernsthaft zu schreiben. Ich wechselte zur Anglistik, wurde über Keats, Joyce, Woolf und James mit modernem Erzählen vertraut. Eng- lisch ist mein »subsong«, meine »education language« geblieben. :logbuch: Warum haben Sie Ihr neues Buch »hell & hörig« genannt? DRAESNER: Mir ist es immer wichtig, die Ohren zu spitzen, auf- merksam zu sein, aufzugreifen, was von außen kommt. Bei »hell« höre ich das englische »hell« mit, aber assoziiere auch »fair« (hell, schön). Bringen Gedichte Licht in etwas? Bedeuten sie Hoffnung? Ich denke, ja. Diese Hoffnung kommt natürlich nicht ohne ein Aber aus – das ist das »hörig«. Denn Gedichte sind davon abhängig, gehört zu werden. Hört sie euch also an, seid hörig, hörige Menschen. Nicht im Sinne von abhängig, sondern im Sinne des bayerischen »gspürig«, das Menschen bezeichnet, die viel spüren. INTERVIEW: SIBYLLA VRIČIĆ HAUSMANN H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F 38 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN : Die Buchstadt-Battle Je eine Buchmesse, eine Nationalbibliothek, ein Haus des Buches: Unentschieden! Aber wer hat eigentlich mehr Eigenheiten zu bieten, Leipzig oder Frankfurt? Man muss schon Texte befragen, um den Unterschied zu sehen Im »Atlas des europäischen Romans« von Franco Moretti kommen Frankfurt am Main und Leipzig an der Pleiße leider nicht vor. Skan- dalös? Ach nein. Dort treten nur Schwergewichte auf: London, Paris, Englands Süden (dank Jane Austen) – jeweils im tiefsten 19. Jahrhundert. Das war nicht die Blütezeit des messestädtischen Dichtens. Man suche in neueren Atlanten. Eigentlich dachten wir, Günter Grass wäre ein guter Kampfrichter in der hier beginnenden Buchstadt-Battle. Er beschrieb hundert deutsche Episoden in »Mein Jahrhundert« – da musste doch Leipzig drin sein und Frankfurt. Wer aber öfter? Punkt auf Punkt gewinnt Leipzig: 1903, 1908, 1913, peng! Auch 1990: Leipzig. Kaum etwas trägt Frankfurt bei: ein Stück Reichsautobahn (halber Punkt) und ein wenig Buchmesse (halber Punkt). Das kann ja wohl nicht sein. Beim Stand von 1:4 geben wir drei Extra- punkte an den Main für die älteste Stadtschreiberstelle der Republik (Bergen-Enkheim), für den PR-Geniestreich »Frankfurt liest ein Buch« und für Kulturdezernentin Ina Hartwig, vormals exzellente Literatur- kritikerin. Wie stehts jetzt im Städteduell? Remis. Keine Siegerin. Suchen wir anders. Wo stecken die Bücher der Lokalpatrioten und Nest- beschmutzer, der Heimatkundigen und Zugereisten? Wer wählte diese oder jene Stadt als Kulisse, Protagonistin, Urgrund? Wir lassen beiseite: Kriminalromane, Historienschmöker, den Doppelagenten Goethe. Es bleibt genug Stoff für die volle Distanz eines epischen Ringkampfs. Zwölf Runden im Super-Mittelgewicht, Frankfurt vs. Leipzig! Hier die ersten drei. Runde 1 – Mietwohnung oder Eigenheim? Unschlagbar viele Ortsmarken finden sich im Roman »Die Liebe im Ernstfall« von Daniela Krien. Schon mit unbestimmten topografischen Angaben – ein See, ein Auwald, ein Kanal – ist der Insider orientiert. Dazu kommen Parks, Stadtteile und Cafés mit ihren echten Namen. Leute promenieren von der Nikolai- zur Thomaskirche, treffen sich am Denkmal für Bach oder dem zur Völkerschlacht. Ein literarischer Spaziergang in »Bloomsday«-Manier wäre mit diesem Buch perfekt. Nicht allein ist Leipzig hier ein verkehrsberuhigtes Biotop zum Wohlfühlen und Platzhaben, es wird sogar zum Liebesobjekt. Zwei Joggende reden »über das Glück, in dieser Stadt zu leben« und kommen sich dabei näher. Die Frage ist dann noch: Loft oder Fünfraumwohnung mit zwei Bädern? Nimm das, Frankfurt! Die Mainmetropole lässt das kalt. Wer es dort »geschafft« hat, wer »etwas auf sich hält«, der wohnt ja nicht innen, sondern am äußersten Rand, in der schicken Straße und »Snobsiedlung« Kuhlmühlgraben. Die Anwohner protzen mit Autos und Hunden, verbergen sich ansonsten in ihren Villen. In die Stadt fahren sie, um Geld zu verdienen und in »flotten Büros« Wichtiges zu besprechen oder für Uni-Seminare und Klavierkonzerte. Doch Frankfurt bleibt fern und diffus, geradezu unbe- seelt in »Die Häuser der anderen« von Silke Scheuermann. Das Leben der Arrivierten zwischen Designmöbeln, Tennisclub und Fern- reise ist erkauft mit innerer Abstumpfung. Von unten betrachtet – im Blick der Hundesitter und Putzfrauen – wird diese Exklusivität zu- gleich beneidet, durchschaut und beschmutzt. Runde 2 – Studieren oder inhalieren? Wir begegneten schon Akademikern, aber wie wird man einer? Man hockt in grotesk über- füllten Räumen, atmet schlechte Luft und will die Transzendentalpragmatik begreifen. Frankfurt am Ende der 1980er Jahre: Mit der Philosophie hat der Student in Andreas Maiers Roman »Die Universität« ein Fach gewählt, das dem Genius loci huldigt (Apel, Habermas, Adorno) und tragikomische Episoden liefert. Man sieht den irren »Hegel-Japaner«, überall schwarze Klamotten und eingeübte Coolness, im »Ordenskreis« wird der Professor imitiert. Dies beobachtet der isoliert versumpfende Ich- Erzähler, dessen Bierkonsum zielgerichtet ist, im Gegensatz zum Studium. Frankfurt ist für ihn eine Matratze, die Mensa, das TAT-Café und – betörende Himmelfahrt im Finale – die Autobahn in Richtung Heimat, der Wetterau. Nettes Detail: Um Ostslawistik zu studieren, zieht ein Jonas von Frankfurt nach Leipzig. Ihn gilt es zu beachten in »nichts, was uns pas- siert« von Bettina Wilpert. Denn im Fußball- WM-Sommer 2014, getränkt mit reichlich Alko- hol, passiert etwas mit ihm und einer Anna, das Jonas als Vergewaltigung zur Last gelegt wird. Wie es dazu kam und was daraus wird, hat subtil, aber markant mit Leipzig zu tun, der »Spielzeugstadt«. Man kennt sich vom Sehen, feiert viele Partys und »in Leipzig lief man sich früher oder später wieder über den Weg«. Außerdem haben viele Studierende ein Drogen- problem!? Das sind die Zutaten für einen Streitfall, von dem »ganz Leipzig« erfährt. Da- mit ist zwar eher Connewitz gemeint, doch auch in diesem Buch werden Handlungsorte und Stadtteile sehr konkret kartografiert. 40 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN : Auch in Triest kann man böhmisches Bier trinken Jaroslav Rudiš und Halina Kirschner über Zugreisen, Zeichnen und Zusammenarbeit an »Trieste Centrale« bergs letzte Reise« nach Triest ausbüxen las- sen, wie kam es dazu? RUDIŠ: Ich konnte mich nach dem Roman nur schwer von Winterberg trennen und er begleitet mich immer noch. Nachdem das Buch erschienen ist, habe ich vier weitere Geschich- ten mit oder über Winterberg geschrieben, und eine davon führt eben nach Trieste Centrale. Der ursprüngliche Text ist für den Rundfunk entstanden und später noch in einer Antholo- gie erschienen. Ich habe dann aber weiter daran geschrieben – und das ist das Ergebnis. Jetzt noch ergänzt um die wunderbaren Zeichnun- gen von Halina, was wirklich ein Geschenk ist, für alle Winterberg-Fans … :logbuch: … und für alle Triest-Fans. Die Stadt hat diese Sehnsuchtsaura schon im Roman, und auch in dieser Geschichte sitzen die bei- den Protagonisten in einer Berliner Kneipe und Winterberg träumt sich nach Triest. Was bedeutet Triest für dich? RUDIŠ: Auf jeden Fall ein Sehnsuchtsort … Dieser Moment, wo man das erste Mal aus dem Zug das Meer sieht, der ist einfach um- werfend, und es ist eine der schönsten Bahn- strecken Europas. Schon wenn man in Böhmen losfährt, aber vor allem der Abschnitt ab Wien, über den Semmering nach Ljubljana und dann über den Karst nach Triest, diese Reise würde ich jedem empfehlen. Und dann diese Untergangsstimmung, die man in der Stadt spürt – es war der wichtigste Handels- hafen der Monarchie, unser Hafen. Und man spürt noch so viel von dieser Monarchie. In einer kleinen Bäckerei habe ich sogar die böh- mischen Buchteln gefunden – sie haben genauso geschmeckt wie die von meiner Oma im Böhmischen Paradies. :logbuch: Halina, du warst in Vorbereitung auf die Arbeit das erste Mal in Triest, wie hast du die Stadt erlebt? KIRSCHNER: Ich hatte dabei immer den Text im Hinterkopf und dann war es tatsächlich so, dass die Stimmung schon im Zug dahin ge- nauso war, wie in der Geschichte beschrieben. Es war schönes, sonniges Wetter, dann kam aber auch der Wind – und ich habe mir natür- lich sofort eingebildet, es war der Bora. Aber schon die Wolken dort am Meer sind unwahr- scheinlich schön und es macht auch Spaß, bei solchem Wetter rauszugehen. Ich war auch vom Karst fasziniert, wo man wandern kann und den Überblick über die ganze Stadt bekommt. :logbuch: Wie kam es dazu, dass ihr nun das Buch zusammen macht? RUDIŠ: Winterberg hat uns zusammenge- bracht in Gestalt unseres Verlegers (Egbert Pietsch von kreuzer books, Anm. d. Redaktion). Und ich habe Halinas Bilder gesehen und war sofort begeistert, weil sie in Farbe sind. Ich hatte es mir vorher so düster in Schwarz-Weiß vorgestellt und bin sehr froh, dass es anders geworden ist. Dass sich die Geschichte in den Bildern weiterentwickelt. Es ist nicht nur ein illustrierter Text, sondern es funktioniert als Gesamtkunstwerk. :logbuch: Halina, bist du dann durch die Stadt gelaufen und hast Skizzen gemacht? KIRSCHNER: Ich bin auf jeden Fall mit so einem Blick durch Triest gelaufen, aber am Ende hat man dann immer viel zu viel, und ich musste aufpassen, dass ich bei der Atmo- sphäre und der Geschichte bleibe. Also, ich gehe da meistens wieder zum Text zurück. Und das, was im Text sehr bildhaft dargestellt ist, muss man nicht unbedingt ins Bild bringen. Das Entscheidende ist die Stimmung. RUDIŠ: Hast du auch einen Lieblingsort in Triest? KIRSCHNER: Ich fand es oben im Opicina sehr schön, wenn man da hochfährt und von dort auf die Stadt schaut oder weiter in die Dörfer wandert. RUDIŠ: Da siehst du die Stadt, so wie auch Winterberg sie gesehen hat. :logbuch: Und wo bekommt man das beste Bier in Triest? RUDIŠ: Tatsächlich kann man in Triest sehr gut Bier trinken. Wo ich immer hingehe, ist eine Gaststätte der Brauerei Forst aus Südtirol. Da kann man gut essen und gutes Bier trinken, und es gehen alle Eisenbahner dahin. Aber ich habe auch ein tschechisches Lokal in Triest entdeckt, mit drei oder vier tschechi- schen Biersorten. :logbuch: Noch eine Frage aus dem Text: Mögt ihr lieber gutes oder schlechtes Wetter? KIRSCHNER: Fast das schlechte … obwohl lieber im Wechsel. RUDIŠ: Der Wechsel ist schon spannend, aber ich mag die nebeligen und verregneten Tage, das passt gut zu Mitteleuropa … :logbuch: … und zum Text. Da freuen wir uns schon auf das fertige Buch und die Buch- premiere und wünschen viele begeisterte Leser:innen … RUDIŠ: … die vielleicht sogar mit dem Buch nach Triest reisen, das wäre das Allerhöchste. INTERVIEW: MARTINA LISA T R E B L E F N O V R E T E P : O T O F I R E N H C S R K D L A R A H : O T O F D er Schriftsteller Jaroslav Rudiš hat für kreuzer books seinen Protagonisten Win- terberg nach Triest fahren lassen und die Leip- ziger Illustratorin Halina Kirschner hat die Geschichte gestaltet. »Trieste Centrale« ist das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit. Wir treffen uns nicht im Zug, sondern im Zoom, und unser Speisewagen ist die jeweils eigene Küche vor dem Bildschirm, dennoch kommen wir bis nach Triest. Nur für das Bier ist es noch viel zu früh. :logbuch: Wann seid ihr das letzte Mal Zug gefahren? JAROSLAV RUDIŠ: Ich bin von Berlin über Prag ins Böhmische Paradies gefahren, wo ich herkomme, hier in Lomnice auf dem Bahnhof fangen fast alle meine Reisen an. HALINA KIRSCHNER: Ich bin tatsächlich nach Triest gefahren. RUDIŠ: Von Lomnice kommst du auch nach Triest. Das ist großartig an den Bahnhöfen in Mitteleuropa. Wenn du hier kurz nach fünf in den Zug steigst, bist du abends in Triest. Das zeigt, wie alles verbunden ist. Das würde Winterberg freuen. :logbuch: Jaroslav, du hast in »Trieste Centra- le« deine beiden Protagonisten aus »Winter- 42 www.kreuzer-leipzig.de

| MAGAZIN F O T O S : I I L E P Z G E R A N T Q U A R A T I I : Der Leipziger Antiquariatsrundgang 2022 D as Jahr 2021 war für das Leipziger Antiquariatswesen ein eher mäßiges. Die anhaltenden Schließungen vertrieben viele Kunden. Und 2022 begann ebenso höchstens durchwachsen. Die Kundenfrequenz in der Innenstadt erreicht noch längst nicht wieder die Zahlen des Jahres 2019. Auch fehlen die Touristen fast ganz. Die Leipziger Antiqua- riatsmesse 2021 konnte nicht stattfinden, wie schon 2020 nach der kurzfristigen Absage der 20er Buchmesse. Zu allem Unheil verstarb auch noch der langjährige hiesige Veranstalter Detlev Thursch im Sommer 2021 völlig überraschend. Sein Sohn Jan führt die Firma Abooks aber weiter. Wir wünschen Kampfgeist, Ausdauer und Erfolg! Die Probleme der Branche bleiben aber die gleichen: Der Handel über das Internet wird für die Antiquariate immer anstrengender. Was für die Leser ganz wunderbar ist, ist für die Antiquare ein Problem: Die allge- meine Preisentwicklung nach unten. Weiterhin katastrophal wirkt hier, ganz ähnlich wie beim Handel mit neuen Büchern, die fatale Rolle des Quasi-Monopolisten Amazon, der seit Langem auch das ZVAB besitzt und unverständlicherweise nach wie vor ungehindert seinen Geschäf- ten nachgehen darf. Seit Jahren ein Fall für das Kartellamt. »Kapitalismus ist Beschleunigung«, sagte Heiner Müller mal in einem seiner legen- dären Interviews. Und nur so konnte es im Netz zu einer so schnellen und so fatalen Konzentration kommen. Auch zahlt Amazon kaum Steuern, nutzt aber eifrig die vom Staat bereitgestellte Infrastruktur. Betriebsräte sind Amerikanern auch unverständlich und daher lästig. Wir rufen auch dieses Jahr mit fester Solidarität den Leipziger Amazon- Lagerarbeitern zu: Bestreikt Amazon! Und für 13,84 Euro pro Stunde den ganzen Tag rumrennen, um fremder Leute meist unsinnigen Kon- sum zu ermöglichen: Das ist die schöne neue Welt des Kapitalismus! Im- merhin soll endlich eine Mindeststeuer kommen. Aber ich schweife ab. Wir beginnen unseren Rundgang wie immer in der Ritterstraße, dem Herz des Leipziger Antiquariatswesens. Zunächst erreichen wir vom Hauptbahnhof kommend das geräumige Leipziger Antiquariat mit den großen Fensterfronten. Hier erfreut Henry Rietdorf mit einem reich- haltigen Angebot aller Gebiete. Und in den Glasschränken verbergen sich die wirklich raren Schätze. Fünfzig Meter aufwärts stoppen wir kurz andächtig: Hier in diesem Schreibwarenladen, Ritterstraße 12, gab es bis Ende März 2021 die Bücherinsel von Caro und Jens Förster, die lei- der ihren Laden geschlossen haben und ihr Geschäft nun als Versand- antiquare weiterführen. Weitere fünfzig Meter die Ritterstraße aufwärts führt Nicoline Thieme ihr Fachbuchantiquariat. Bei ihr gibt es in den Naturwissenschaften, für Technik und Medizin, aber auch in geistes- wissenschaftlichen Richtungen Sachbücher fast jeder Disziplin. Neben soliden Fachpubli- kationen findet hier auch der bibliophile Sammler ältere Spezialliteratur. Der Begriff des Standardwerks entfaltet hier seine Bedeutung. Für Studenten aus der nahen Uni lohnt immer ein Abstecher auf der Suche nach günstigem Lehrmaterial. Im Keller findet sich aber auch eine große Auswahl Belletristik. Gleich dane- ben eröffnete im Oktober 2021 der Zweitau- sendeins-Laden. Zweifellos ein Gewinn für die antiquarische Meile. Zwar gibt es hier kein Anti- quariat im engeren Sinne, aber ein wohlkura- tiertes Angebot an modernem Antiquariat und die klassische Mischung dieser 68er-Errungen- schaft: Tonträger und, nicht zu vergessen, die eigenen Bücher, die häufig sehr edel hergestellt und dennoch sehr günstig zu haben sind. Ein paar Meter weiter hinauf erreichen wir das Antiquariat an der Nikolaikirche von André Brauer. Ein sehr schönes Ladengeschäft, alte Regale aus dunklem Holz beherrschen den Raum und strahlen eine warme Atmosphäre aus. Es gibt ein schmuckes Biedermeiersofa. Das Angebot an Erstausgaben, Klassikern und Kinderbüchern ist erstklassig. Von hier begeben wir uns an den Markt und damit an die absolute Spitze des Antiquariats- wesens in Leipzig: Das Sächsische Auktions- haus und Antiquariat unter den Rathaus- arkaden. Der richtige Ort für das bibliophile Trüffelschwein. Ein gehobenes Angebot er- wartet uns hier. Signierte Erst- und die besten Klassikerausgaben finden sich hier. Inhaber Christian Wend veranstaltet in jedem Novem- ber eine Buch- und Kunstauktion, der zweite antiquarische Jahreshöhepunkt neben der Antiquariatsmesse. Um den wirklichen Leipziger Überblick zu gewinnen, muss der Buchfreund nun in den 44 www.kreuzer-leipzig.de

| BELLETRISTIK | BELLETRISTIK : Ein Onitholoe zieht blank »Den Rest entnehmen Sie bi e dem Internet.« Süß und bi er: »Rheinland Grapefruit«, die Autobiografi e von Rainald Grebe M an würde Rainald Grebe jetzt nicht un- bedingt als Leisetreter bezeichnen, als Freund des Milden und Gefälligen. Da ist schon immer auch Brüllen und Dissonanz im Werk des Lieder- und Theatermachers, Kabare isten und Schauspielers, Tausend- sassas oder eben einfach: Künstlers. Und so brüllt einen seine Autobiografie nun auch groß und schwer an. Dazu bedrucktes Vor- satzpapier, riesige Schrift, keinerlei Rand, aber Fotos, Zeichnungen und ausklappbare Seiten. Und auch vom Geruch her ganz klar: ein Kunstbuch! Noch dazu das mit dem wohl bes- ten Titel aller Zeiten – man kann sich ja gar nicht vorstellen, wie irgendjemand noch mal eine Biografie schreiben soll, nachdem aus Rainald Grebe »Rheinland Grapefruit« wurde. Fünfzig ist er geworden im letzten Jahr, der Herr Grapefruit, und das ist natürlich ein Anlass für so ein Buch, aber das erfahren wir gar nicht. Was wir sofort erfahren, noch vor erster Freundin/Erfolg/Absturz, ist, dass Grebe am 26. März 2017 einen Schlaganfall erli . Seinen ersten, muss man sagen. Und ehe man sichs versieht, liest man gar keine geschönte Erfolgsgeschichte eines, nun ja: Irgendwie-ja- doch-Promis, sondern das Tagebuch eines Fünfzigjährigen, der in der brandenburgischen (»Brandenburg!«) Provinz mehrere Wochen zur Reha ist, weil sein Gehirn von Läsionen übersät ist. Nicht falsch verstehen: Da ist schon genug Legendenbildung, Flunkerei und Rock’n’Roll drin, mit den in Biografien etab- lierten Themen Drogen und Gefängnis, Pup- penspiel und Kürbisse, Ostdeutschland und Ornithologie. Aber da ist eben auch der ja noch gar nicht so alte Mann, der mi en in der Kaufhalle auf einmal vergessen hat, was er da soll, oder der in der Reha mit seiner kleinen Tochter telefoniert und weint. Da ist einer, der sich nackig macht. Nicht nur auf Seite 320. BENJAMIN HEINE ▶ Rainald Gebe: Rheinland Gapefuit. Mein Leben. Mit Zeichnunen von Chiel Fane. Belin/Desden: Voland & Quist . S., : »Hezlich, Händeduck, Dein Fanz Fühmann« Briefwechsel mit Christa Wolf zu Franz Fühmanns . Geburtstag neu aufgelegt Wolf an Fühmann am 20.1.1971: »Kurz und gut, ich kann im Schreiben nur einen einzigen Sinn fi nden, nämlich, daß wir uns selber kennen lernen, was uns ziemlich nötig ist.« C hrista Wolf und Franz Fühmann gehörten zur Spitze der DDR-Literatur. Sie befan- den sich in ähnlichen Positionen. Trotz und wegen ihres Erfolgs rangen beide mit der Kul- turpolitik und versuchten ihre Schreibtätig- keit unbeirrt fortzusetzen. Während ihre ersten Briefe Ende der 1960er Jahre noch kurz und distanziert sind, inten- siviert sich der Briefkontakt in den 1970ern. Als sich nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns die Bedrängung der Literatinnen verschärft, ziehen sich Wolf und Fühmann gegenseitig ins Vertrauen. Ihren Briefen liegen oft auch Kopien ihrer Korrespondenz mit Offiziellen bei. Zensur. So bi et Fühmann Wolf, wichtige Nachrichten per Telegramm zu übermi eln, weil Briefe von Berlin zu ihm nach Märkisch Buchholz drei Wochen dauerten. In ihrem Nachwort zur Erstausgabe des Brief- wechsels in den 1990er Jahren schrieb Wolf, die andauernde Arbeit an der Veränderung des Sozialismus von innen heraus habe sie und Franz Fühmann zusammengebracht. Ihren Briefwechsel wolle sie veröffentlicht sehen, um der »Unkenntnis über die Umstände, unter denen in der DDR Literatur entstand und Schriftsteller miteinander umgingen«, zu be- gegnen. Es ist der Austausch zweier Schrift steller- Man sollte allerdings kein Gespräch in Buch- innen, die sich am System reiben. Sie geben sich Tipps für Leseorte und den Umgang mit form erwarten, denn einen regelmäßigen Briefwechsel wollten sich Wolf und Fühmann nicht aufbürden. Über die einzelnen Briefe des Ehepaars Wolf und Füh- manns hinaus enthält der neue Band auch eine Reihe von Kunst-, Post- karten und Telegram- men. Es überrascht, dass der Briefwechsel mi en im Buch endet. Im hinteren Teil folgen unter anderem Wolfs Trauerrede auf Fühmann, der 1984 starb, und ein ausführlicher Kommentar. NELE THIEMANN ▶ Chista Wolf, Fanz Fühmann: Monsieu – wi fi nden uns wiede. Biefe –. Belin: Au au Vela . S., »Ja. Nein. Oder vielleicht doch. Nein, nein, sicher nicht. Aber… ja. Nein, besser nicht. Oder doch?« : Finstee Vohesaen Zum . Geburtstag: Ein Gesprächsband mit Pier Paolo Pasolini P ier Paolo Pasolini (1922–1975) ist eher als Regisseur be- kannt, doch hat er als Autor von Romanen angefangen und sein Leben lang Lyrik geschrieben. Zwei seiner auto- biografischen Gedichte sind in diesem Band enthalten, den Haup eil des Buches bilden jedoch Interviews, die Pasolini zwischen 1958 und 1975 gab. In ihnen kommt ein pessimistischer Veräch- ter von Kapitalismus und Bürgertum zu Wort. Viel Marx und noch mehr Gramsci hat er ge- lesen, das wird deutlich. Aufkommendes Fern- sehen, Massenkultur, Konsum sind seine Sache nicht. Pasolinis Urteile sind in der Regel kate- gorisch, etwa wenn er erklärt, »dass es keine menschlichen Wesen mehr gibt, es gibt nur mehr komische Maschinen, die aufeinander- prallen«. Schuld sei natürlich der Kapitalismus. Das ist in Teilen für denjenigen lesenswert, der ein Interesse an der jüngeren Geschichte Italiens hat. Alles in allem aber ermüdet die Lektüre, auch weil sich manches wiederholt: Mehrfach erzählt Pasolini von seinem faschis- tischen Vater und seinen ersten Gedichten. Sein Filmschaffen hingegen bleibt als interes- santester Teil seines Werkes leider seltsam schemenhaft. In seinen frühen, sozialkritischen Filmen setzte Pasolini auf Laiendarsteller aus den Vor- orten Roms, später wandte er sich literarischen und biblischen Stoffen zu. Sein letzter Film, »Die 120 Tage von Sodom«, gilt wegen der ex- pliziten Darstellung sexualisierter Gewalt als einer der verstörendsten der Filmgeschichte. Anstelle der Hintergründe zu diesen Arbeiten prophezeit Pasolini den Niedergang der Kul- tur. Noch im letzten Interview – nur wenige Stunden, bevor er ermordet wurde – sieht Pasolini die Gesellschaft von einem Krebsge- schwür befallen. MAURUS JACOBS ▶ Gaetano Biccai: Pie Paolo Pasolini in pesona – Gespäche und Selbstzeunisse. Aus dem Italienischen von Matin Hallmannsecke. Belin: Vela Klaus Waenbach . S., 46 www.kreuzer-leipzig.de

| BELLETRISTIK | BELLETRISTIK : Von den Widespüchen »Ich denke, dass Go eine einsame Kreatur ist, und deshalb beneide ich ihn nicht.« In Kaśka Brylas Roman »Die Eistaucher« stoßen fünf Jugendliche an die Grenzen der Moral W ieder ist Herbst, wieder fegt Saša das Laub auf dem Campingplatz zusammen, und wieder erinnert er sich an jenen Herbst vor zwanzig Jahren, als er beinahe seine beste Freundin Iga verlor – an eine charismatische Geliebte und an ihre neuen Freunde auf der katholischen Privatschule. Erst ganz am Ende dieses Herbstes wird Saša in Igas Freundes- kreis aufgenommen, und das auch nur, weil er eine eigene Wohnung besitzt, die als Basis ei- ner ungeheuerlichen Selbstjustiz taugt. Zwan- zig Jahre nach dieser Tat verläuft der Herbst jedoch anders: Diesmal wohnt ein Fremder auf dem Campingplatz, ein Polizist, der zu viel über Saša zu wissen scheint. In ihrem zweiten Roman »Die Eistaucher« verwebt Kaśka Bryla erneut eine spannungs- reiche Handlung mit großen Fragen und litera- rischen Referenzen, von denen Guy de Mau- passants Schauererzählung »Der Horla« wohl die präsenteste ist. In der Privatschule macht Bryla klassistische Strukturen ebenso sichtbar wie die hohen Bildungsansprüche, die vor allem migrantische Eltern an ihre Kinder stel- len. Im Gegensatz zu ihren Klassenkamera- dinnen hat Iga mit ihrem mathematisch- analytischen Blick keine Probleme, diesen An- sprüchen zu genügen. Doch nicht alles lässt sich berechnen, und vor allem lässt Schuld sich nicht durch Reue aufwiegen und keine noch so schwere Tat durch Selbstjustiz. Und doch: Die Moral, die Iga, Saša und die anderen auf ihrer Seite zu haben mei- nen, ist der falschen Moral der Erwachsenen eindeutig überlegen, und auch das ist eine Leistung dieses Romans – dass er zeigt, wie die gesellschaftlichen Widersprüche die Menschen mit dem Rücken zur Wand stehen lassen, und dann gibt es nur noch die Flucht nach vorn. KATHARINA BENDIXEN ▶ Kaśka Byla: Die Eistauche. Roman. Salzbu: Residenz Vela . S., (escheint am ..) : Feund und Feind Einstige Seelenverwandte stehen verloren im Zentrum von »Paradies und Römer« »Es sind magere Zeiten für Helden.« V iele Kippen werden geraucht und fallen zu Boden im neuen Roman von Patrick Findeis. Die Geschichte handelt von Frankie, Danilo, Ferry und Ellen, die in Nachbarschaft lebend aufwuchsen und Freunde wurden. Der Roman setzt zeitlich später an: Ein »Ich«, das einst mit zur Clique gehörte, beobachtet den mi lerweile erwachsenen und gespaltenen Freundeskreis von einer Position aus, die allein den Toten vorbehalten ist. Liebe, Geld, Drogen, Kriminalität und andere Laster, die Freundschaften zum Brechen bringen können, verwandeln die Beziehungen der Protago- nisten zueinander über die Jahre hinweg in verkeilte Abhängigkeiten. Als Erwachsene wandern sie zwischen En äuschung und Hoff- nung von einem scheinbaren Neuanfang »Aber dann brachte uns das Bedürfnis wieder zueinander, der Ursprung unserer Wiedervereinigung just das, worüber wir nicht länger sprechen dur en.« H anya Yanagiharas »Zum Paradies« sam- melt drei völlig unterschiedliche Bücher in einem. Novelle eins spielt 1893 am Washing- ton Square, wo der reiche Zögling David einer arrangierten Heirat mit dem viel älteren Charles nur en liehen kann, weil sein Lieb- haber Edward ihn mit in den Westen nehmen zum nächsten. Die Freunde en ernen sich von- einander, nähern sich wieder an, um sich er- neut abzuwenden. Sensibel, aber zum Glück völlig unroman- tisch ist die Sprache, der sich Findeis bedient, um die Innenwelt seiner Charaktere in äuße- ren Handlungen und Gesten durchsickern zu lassen. In seinem dri en Roman sind auto- biografische Züge wahrzunehmen. Der reiz- volle Buchtitel »Paradies und Römer« verweist auf die Kreuzung Paradies-/Römerstraße in der Stadt Heidenheim in Baden-Wür emberg – der Geburtsstadt des Autors. Findeis nutzt seine Kenntnisse des Lokalkolorits, um Stra- ßen- oder Kneipenszenen lebendig in litera- rische Form zu übertragen. Mit großer Wahr- nehmungsgabe beschreibt er die fiktiven Bewohner des Stadt- teils und gibt uns ein trauriges Gefühl ihrer Verlorenheit mit. Der Autor schafft stimmige Bilder der Welt, von der er erzählt, wenn zum Beispiel Feuer- wehrmänner, die im Winter einen Wasserrohrbruch auf der vereis- ten Straße reparieren, so wirken, »als spucke die Nacht verlorene Seelen aus, die auf der Suche nach dem Zugang zur Unterwelt strau- cheln«. HANNA SCHNECK ▶ Patick Findeis: Paadies und Röme. München: Liebeskind . S., : Einladun zum Täumen In »Zum Paadies« lässt Hanya Yanaihaa ihe Juns wiede leiden will. Einhundert Jahre später, Kurzgeschichten- sammlung zwei, sitzt ein ganz anderer David mit seinem HIV-positiven Liebhaber Charles auf der Abschiedsfeier eines gemeinsamen todkranken Freundes. In seiner Westentasche ein 126 (!) Buchseiten langer Sehnsuchtsbrief seines royalen und dahinsiechenden Vaters aus Hawaii. Roman drei ist seiner Ga ung ent- sprechend der interessanteste und einneh- mendste Teil von allen. Er spielt in einem von Pandemien zersetzten New York im Jahre 2093 und folgt der hirngeschädigten Charlie, ihr Vater David ist Terrorist, ihr Großvater Charles Architekt der neuen totalitären USA unter Pekings Führung. Das Resultat ist spekulative Fiktion, die Margaret Atwood als Ustopie bezeichnen würde, eine Mischung aus Utopie und Dystopie. Denn sie bezeichnet eine genau lokalisierbare Möglichkeit und zugleich einen Nichtort, der hier aus Regulie- rungszwang, Panik und Terror entsteht. Yana- gihara zeigt in ihren Charakteren das Ge- fängnis des normativen Denkens und regt zum Träumen an, dem Streben nach Utopien, hin »Zum Paradies«. In zart schmelzender Prosa erzählt sie dabei als Chronistin reicher Familien über drei Jahrhunderte von dem, was sie am besten kann: sadistisches Leiden und masochistische Liebe unter Männern. Das von Stephan Kleiner hervorragend, wenn auch oft recht wortgetreu übersetzte Buch ist zugleich Wiederholung und Variation des erfolgreichen Vorgängers »Ein wenig Leben«, nur verschachtelter und größenwahnsinniger – aber keineswegs weniger lesenswert. MARCEL HARTWIG ▶ Hanya Yanaihaa: Zum Paadies. Aus dem Enlischen von Stephan Kleine. Belin: Ullstein . S., 48 www.kreuzer-leipzig.de

| BELLETRISTIK | BELLETRISTIK : Ein Holz llen wie das Rauschen des Atlantiks bei Potwein und Feijoada »Neue Gedichte aus Portugal« und das »Übersetzen als poetische Utopie« zur Latinale da, wo Cláudia Lucas Chéus Gedicht »Der Frau wog etwas schwer auf der Brust« kurz und knapp und in seinen Schlussfolgerungen etwas enigmatisch bleibt: »Sie verstand, sodann.« Oder da, wo Bascos »VIII« durch die eigenwillig- zweispaltige, die Worte listenartig verein- zelnde Anordnung verwundert. Also da, wo die Gedichte eben nicht wie verhinderte Raps Buchstabe für Buchstabe stumm auf dem Pa- pier verkümmern. Beinahe programmatisch erscheint der Titel dieser kleinen Anthologie aus dem Portugie- sischen (er steht auch über einem Gedicht von Francisca Camelo), als löschten die Gedichte in deutscher Sprache ihr Wunder gleich selbst, um es auf der Ebene ihres Übersetztseins wieder hervorzuzaubern. Lakonisch halte ich – wahrscheinlich einen Druckfehler korrigie- rend – mit Sara F. Costa fest: »Die andere Seite der Welt ist genau wie / die andere Seite der Welt.« Und dann ist die andere Seite der Welt doch anders. Wirkt der alte Kontinent, die frühere Kolonialmacht Portugal, trotz stellenweiser Aufmüpfigkeit etwas schal, tri ihm latein- amerikanische Schärfe in der Verschmelzung der digitalen Hektik mit dem geschäftigen Lima in Julio Barcos Texten entgegen. Die über- setzten Häppchen der »Translator’s Choice« sind durchaus »Hähnchenschlegel«, die im Hals steckenbleiben. Und dies obwohl auch sie im weltliterarischen Einheitsbrei »derselben Rea- litätsdimension« von »Goethe« und »Pessoa« zu zerkochen drohen. Was eine geschickte Zu- sammenstellung dieser zu wenigen Worten zerkochten Brocken jedoch leistet, zeigt Ana Martins Marques mit ihren luziden Gedichten: »nachdenken / mich ausziehen // zwei Dinge / die ich heute / gemacht habe // die Kleider / liegen / verstreut auf dem Boden // die Gedan- ken / nicht«. Da pfeffert die Brasilianerin dem ehemaligen, patriarchal-rassistischen Koloni- alherrn eine ordentliche Feijoada auf den Teller: »wenn er kommt, / um Geburtstage zu verderben / und Fleisch von den Knochen zu nagen«. Dass den Übersetzungen anlässlich der Latinale 2021 jeweils eine Einführung der Übersetzerinnen und eine Antwort der Autorinnen voran- bzw. nachgestellt ist, rundet den würzigen Band geschmacklich ab. Gut, dass nicht zu viel Theorie zur Überset- zung das Gericht versalzt. Vielmehr kitzelt die Vielfalt der übersetzten Zutaten selbst die Geschmacksnerven. Jedenfalls sitze ich gerne bei einem Glas Porto am Tisch, schaue übers Meer, lausche der Musik der Brandung, bestelle die Chef’s Choice vom Kontinent gegenüber und rufe dem Kellner, der meine Bestellung notiert hat, mit dem Titel von Marques’ jüngstem Band hinterher: »Streich diese Worte« nicht! FABIAN SCHWITTER ▶ Wie man ein Wunde löscht – Neue Gedichte aus Potual. Aus dem Potuiesischen von Beatice Codie und Lauine Ime. Köln/Leipzi: Paasitenpesse . S., ▶ Timo Bee, Rike Bolte, Alina Neumeye (H.): Tanslato’s Choice – Übesetzen als poetische Utopie. Köln/Leipzi/Belin: Paasitenpesse . S., Die andere Seite der Welt ist genau wie / die andere Seite der Welt. G edichte. Gut, dass sie übersetzt werden. So bewahren sich diese «Neuen Gedichte aus Portugal» das »Wunder« des Außergewöhn- lichen. Zwar verlieren sie auf dem Weg We- sentliches, nämlich diese spezifisch portugie- sische Musikalität, die in einem Auf und Ab ein Übermaß an Vokalen mit verschluckten Konsonanten zur Brandung des Atlantiks mischt. Was im Deutschen dann hart wie Holz- fällen klingt und meist weder thematisch noch kompositorisch Verblüffendes präsentiert, rehabilitiert sich durch die Vorstellung, dass es aus Portugal kommt. Und fasziniert stelle ich fest: Auch in Portugal schreiben sie also Gedichte. Wo Patrícia Lino die Personwerdung in »Wun- derbare Prosopopöie« mit Dave Brubecks »Take Five« musikalisch inszeniert, entsteht tatsäch- lich Wunderbares. Und wunderbar ist es auch : Chinesische Runen Gui Minhais Gedichtband »Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand« K lar, alle Gedichte müssten in chinesischer Schrift gesetzt werden. Himmlische Zei- chen wie Wegweiser ins Nirvana. Gut, dass Gui Minhais Gedichtband »Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand« in einer zwei- sprachigen Ausgabe erscheint. Die abstrakte Schönheit dieser Schriftzeichen, ihre filigrane Knappheit entrückt. Die kalte Funktionalität der lateinischen Let- tern dagegen, deren immer neues Arrange- ment etwa im Gedicht »Unverhoffte Begegnung mit Odin« ausufernde Zeilen bildet, vermi elt ein Gefühl für die bedrückende Ent stehung dieser Gedichte. Seit 2015 hält die Regierung der Volksrepublik Gui wegen des Verkaufs unliebsamer Bücher in der Volksrepublik fest, obwohl er nach dem Tian’anmen-Massaker 1989 das Land verlassen ha e und schwedischer Staatsbürger geworden war. Im Gefängnis imaginiert Gui – mal pathetisch ein Gelage mit Odin ersehnend, mal sarkastisch die Idee des Heldentods in einem Spiegelei bewahrend – seine schwedische Wahlheimat. Dass ein schwedischer Dichter aus China mit seinen Schriftzeichen nicht nur vom sagen- haften Urchaos »Ginnungagap« schreibt, son- dern sich nach einem Tod in Runen sehnt, ist sinnfällig. Ohnehin überblenden sich die nordische Sagenwelt und das »Sumpfland« der asiatischen Realität, wenn im Gedicht »Lucia« das Böse Giftströmen zwischen dem Eis und dem Feuer Ginnungagaps entsteigt und Gui im Gedicht »Nacht auf dem Mekong« seine Verschleppung durch die Regierung der Volksrepublik auf dem Mekong in Thailand darstellt: »Auf dem Fluss treiben blutgetränkte Sätze«. Das Vorwort der Tochter Angela Gui sowie das Nachwort des Journalisten Kai Stri - ma er erzählen die Geschichte dieser Ge- dichte und werfen ein Licht auf die unrühmli- che Rolle der europäischen Diplomatie. FABIAN SCHWITTER »Ich sehne mich danach, in einen Teppich aus Runenschri gewickelt zu sterben.« ▶ Gui Minhai: Ich zeichne mit dem Fine eine Tü auf die Wand. Aus dem Chinesischen von Kain Betz. Leipzi: Leipzie Liteatuvela . S., , 50 www.kreuzer-leipzig.de

| BELLETRISTIK : Jade auf de Haut »Wovon wir träumen« von Lin Hierse ist ein berührendes, fulminantes Debüt D er Roman beginnt mit einem Flug nach China, die Protagonistin möchte dort an der Besta ung ihrer Großmu er teilhaben. Was folgt, ist die Auseinandersetzung mit ge- sellschaftlichen Rollen: als Tochter, als junge, allein lebende Frau, die nicht heiraten und keine Kinder bekommen möchte. Es ist die autofiktionale Ausgestaltung einer Identitäts- suche, dem Bemühen nach Zugehörigkeit und dem Schmerz, der auf die Worte »Das ist, weil du keine echte Chinesin bist« folgt. Die Erzählerin beschreibt den Wunsch nach Zärt- lichkeit und Zuneigung sowie das gleichzei- tige Bewahren einer gewissen Distanz, eines gewissen Schweigens zwischen ihr und ihrer Mu er. Es werden Lebensentwürfe und -ziele thematisiert, es wird in verzerrte Traumwel- ten abgetaucht und immer wieder die Frage gestellt: Wovon träumen wir und warum? Hierses Debüt erzählt von einem roten Kof- fer, mit dem die Mu er der Protagonistin einst nach Deutschland zog, von Sprache als Schlüssel zur Welt sowie als zwischenmensch- licher Barriere. Der Roman berichtet von dem Gefühl eines Jadearmreifens auf der Haut, dem Geschmack von Melonen, wie es ist, den eigenen Namen schreiben zu lernen und dabei die Striche zu zählen. Wie in ihrer zweiwöchigen in der Taz erschei- nenden Kolumne »Poetical Correctness« wählt die Journalistin lyrische Formulierungen, die den Leser mit sprachlicher Schönheit und entwaffnender Ehrlichkeit konfrontieren. Ich lerne dazu: Lin Hierse nicht in der Öffent- lichkeit lesen, um nicht mit verquollenen Au- gen aus dem Bus zu steigen. Es ist ein Roman, an dessen Ende man sich ein bisschen zer- brochen und schließlich auf neue Weise tröst- lich geborgen fühlt. MICHELLE SCHREIBER ▶ Lin Hiese: Wovon wi täumen. München: Pipe . S. , »Sie sieht viel chinesischer aus als du«, sagte Ma einmal beinahe beiläufi g, und ich brauchte fünfzehn Jahre, um diesen Satz wieder abzustreifen. »Es gibt Gedanken, die nur im Dunkeln zu uns kommen.« : De alte Baum und die Genzen Krisha Kops’ Migrationsmärchen »Das Ewige Rauschen« K risha Kops’ »Das Ewige Rauschen« bein- haltet eine extrem originelle Erzähl- stimme: Als Ich-Erzähler fungiert ein alter Banyanbaum. Mit dem steht Abbayi, ein in Deutschland geborener Junge mit indischen Wurzeln, in einer parabelhaften Verbindung. Einsetzend mit dessen Geburt holt der Baum Rat bei den Winden Vayu und Rudra ein, die Geschichten von Abbayis Vorfahren säuseln. Die Geschichte dieser Vorfahren führt durch das Deutschland des Zweiten Weltkriegs, durch Ste in, durch Jugoslawien und durch ein Indien im Hinterland von Neu-Delhi, wo die Kolonialzeit noch in die Gegenwart strahlt. Die Winde erzählen süffisant und kurzweilig, mal wie Tratsch, mal wie Tragödien, mal poetisch, mal sagenhaft. Die Prosa fühlt sich in jedem Sinne fabelhaft an, so sehr, dass zwischendurch fast untergeht, was für ein tief- trauriges Buch man da gerade liest. Die Figu- ren haben gemein, dass sie entwurzelt durch die Geschichte geweht werden. Manchmal rappeln sie sich auf, nur um dann noch ruppi- ger zu Boden geworfen zu werden. Und doch hat »Das Ewige Rauschen« eine klare Linie: Hinter dem Mythos scheint der Autor es auf eine Frage anzulegen, die spät im Buch genau so ausgesprochen wird: »Woher kommst du eigentlich?« Kops beantwortet diese Frage, indem er ihr die Schwere von Ge- nerationen entgegenstellt, die ihr innewohnt. Als würde das Mahlen der Geschichte die volle Dimension des »Willst du das wirklich wis- sen?« tragen. Leichte Kost bietet diese Baum- struktur an Familienschicksalen nicht. Aber lässt man sich darauf ein, findet sich darin ein aufrichtiges Erkunden dessen, was unaus- gesprochen in einer postmigrantischen Gesell- schaft steckt. YANNIK GÖLZ ▶ Kisha Kops: Das Ewie Rauschen. Züich: Ache . S., (escheint am ..) »Es gibt Fragen, von denen wir nicht wissen, dass es sie gibt, bevor sie jemand fragt, Fragen, die wir mit uns herumtragen wie Abbayi die Fragen des Mädchens: Wo kommst du her? Was bist du?« : Wi müssen eden Fatma Aydemirs neuer Roman »Dschinns« über Familiengeschichten und Geheimnisse E s ist August 1999 und der Familienvater Hüseyn Yılmaz hat eine Wohnung in Istan- bul gekauft. Vor dreißig Jahren ist er nach Deutschland gekommen, um in einer west- deutschen Kleinstadt am Fließband zu arbei- ten, und hofft jetzt, mit seiner Frau Emine in der Türkei seinen Lebensabend verbringen zu können. Doch dieser Traum wird sich nicht verwirklichen: Hüseyn stirbt an einem Herz- infarkt in seiner Wohnung, nur ein paar Tage, nachdem er sie gekauft hat. Das Buch »Dschinns« von der Autorin und Taz-Redak- teurin Fatma Aydemir (mit Hengameh Yaghoobifarah Heraus geberin der Anthologie »Eure Heimat ist unser Alptraum«) erzählt die Geschichte einer kurdischen Familie, die zur Beerdigung des Vaters nach Istanbul reist. Während jedes der Fami lienmitglieder auf seine eigene Weise mit Hüseyns Tod umzu- gehen versucht, wird auch der Einfluss der verwobenen und komplizierten Beziehung zwischen der Türkei und Deutschland auf die Familiengeschichte immer klarer. Es geht um Dinge, die nie gesagt wurden, Geheimnisse, Geständnisse. Aydemir versteht es meister- haft, die einzelnen Kapitel der Sprache ihrer Figuren anzupassen. Dabei zeigt sie nicht nur ihr großes Talent fürs Erzählen, sondern auch ein sehr gutes Gespür für die Zusammen- hänge: Denn die großen Umwälzungen der Geschichte sind auch mit gegenwärtigen The- men wie Klassenunterschieden, Feminismus, Migration und Care-Arbeit verbunden. »Dschinns« ist ein politisches Buch, ein Buch über Trauer, Intimität und das gefährliche familiäre Schweigen. Ein Plädoyer für das Sprechen über Gesellschaft(en) und ihre Risse; über das Aussprechen von Geheimnissen und die Geschichten, die vielleicht die wirklichen Dschinns sind. GIORGIO FERRETTI ▶ Fatma Aydemi: Dschinns. München: Hanse . 52 www.keuze-leipzi.de S.,

| BELLETRISTIK I E G E Z N A : »Eientlich la ich imme daneben« Tobi Lakmaker weiß herrlich von sexuellen Schiefl agen zu berichten S ympathisch erscheint sie anfangs nicht unbe- dingt, diese Sofie Lakmaker, die Protagonistin und Ich-Erzählerin von Tobi Lakmakers »Die Ge- schichte meiner Sexualität«. Doch die kaltschnäuzig reflektierende Erzählstimme hat doch etwas so Ein- nehmendes, dass man das Buch nicht sofort in die Ecke pfeffert. Und es zahlt sich wirklich aus, dabei zu bleiben. Ein paar Seiten, Gedankengänge und Kapi- tel später wird deutlich, dass diese etwas entgleist wirkende Haup igur zunächst mal mit sich selbst ein Problem hat: Sofie ist sich über ihre eigene Identität im Unklaren, behauptet und tut Dinge, die sie eigent- lich nicht will. Die Lesenden sind insofern beständig vor die Frage gestellt, ob die Schilderungen beim Wort genommen werden sollen, was den Text zu einem grandios fadenscheinigen Stück Poesie verwan- delt. So werden Deutungshoheiten lässig in Frage gestellt. Aus Entscheidungsträgern werden Duldende und umgekehrt – durch winzige Veränderungen des Tonfalls: »Ich wurde in der Sarphatistraat entjungfert, in einem Haus am Weesperplein, aus dem ein Fahnenmast ragt. Da- ran erkenne ich es noch heute, denn der Mast erinnert mich an Walters dicke und aufdringliche Erektion. Walter war sehr lieb. An dem Abend sagte er: ›Ich glaube, ich bin nervöser als du.‹« »Ich wollte zwar auch eine Intellektuelle werden, aber jedes Mal,wenn ich ein Buch las, fi elen mir die Augen zu.« Man begreift, dass der Weg von der Heterosexualität zur Homosexualität und schließlich zur Transgender- Identität eine langwierige, quälende Angelegenheit ist und respektiert gern die Tatsache, dass die distanzierende, frech philosophierende Quasselei Lakmakers auf eher sanfte Art für die Zwiespälte und schmerzlichen Erfahrungen sensibilisiert, die mit solchen Prozessen einhergehen. JULIANE ZÖLLNER ▶ Tobi Lakmake: Die Geschichte meine Sexualität. Aus dem Niedeländischen von Chistina Bunnenkamp. München: Pipe . S., : Nudeln mit Bu e Der Roman »Bu er« von Asako Yuzuki über Emanzipation durch Selbstfürsorge, Genuss und Freundscha D ieses Buch hat Nebenwirkungen. Nach dem ers- ten Dri el überkam die Rezensentin das drin- gende Verlangen, einen Zitronenkuchen zu backen. Nach der Hälfte beschloss sie, eine Rezeptsammlung anzulegen. Die weitere Lektüre zog sich in die Länge, weil die Rezensentin mit Kochen beschäftigt war: Gurkeneintopf am Mi woch, Kartoffelpüree am Frei- tag, und so wäre es wohl endlos weitergegangen, wäre ihr nicht Manoko Kaji im Traum erschienen: »Wie konntest du nur Margarine sta Bu er verwenden?« Kaji, die nichts so verabscheut wie Margarine und Feministinnen, ist eine der Haup iguren des 2017 erschienenen Romans »Bu er« von Asako Yuzuki, der nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie sitzt im Gefängnis, weil sie mehrere Liebhaber zuerst durch ihre Kochkunst an sich gebunden und dann ermordet haben soll. Die Journalistin Rika, deren Leben in Tokio sich zwischen ihrer Arbeit, Fast Food in ihrer winzigen Wohnung und der lauwarmen Beziehung zu ihrem meist abwesenden Freund eher ereignislos gestaltet, will der Sache auf den Grund gehen und bemüht sich um ein Exklusivinterview. Aber vorher muss sie Kaji von sich überzeugen. Diese Reise beinhaltet nicht nur den Genuss von sehr viel Bu er, sondern letztlich eine grundlegende Hinter- fragung ihrer Lebenssituation, patriarchaler Struktu- ren und eine Emanzipation von ihrer ambivalenten Lehrmeisterin. Diese Ambivalenz, die den Figuren und ihren Befreiungsversuchen zu eigen ist, ist eine der Stärken des Romans, neben den lustvollen und Lust machenden Essensbeschreibungen und manch- mal lakonischen, immer pointierten Beobachtun- gen. Runter wie Bu er geht das Buch dabei nicht un- bedingt, liest sich eher etwas schwerfällig, während die Handlung in teils abrupten Sprüngen vorangeht. Wie sehr das den Lesegenuss stört, ist Geschmacks- sache; es lohnt sich auf jeden Fall, zu probieren. Und bevor die Rezensentin noch weitere Essens- metaphern hervorholt, machen wir lieber den Deckel drauf. ANNA KOW »Sich nach dem Sex draußen herumzutreiben, um Nudeln zu essen, erwies sich nicht als die Steigerung von Sinnlichkeit, die sie sich vorgestellt ha e.« ▶ Asako Yuzuki: Bu e. Aus dem Japanischen von Usula Gäfe. Belin: Blumenba . S., www.keuze-leipzi.de Zaporoschje in der st Zaporoschje in der st Ukraine, Ende st st Ukraine, Ende Ukraine, Ende i i i i der 1920er Jahre: der 1920er Jahre: der 1920er Jahre: u u u u Darja Katz, gefangen Darja Katz, gefangen Q Q Q Q zwischen Prunk der Zarenzeit und sowje- tischer Propaganda. & & & & d d d d n n n n a a a a l l l l o o o o V V V V Roman 128 Seiten, gebunden ISBN 978-3-86391-323-6 www.voland-quist.de Nichts für Zartbesaitete oder Leute mit schwachen Nerven. I E G E Z N A Was für ein Mensch. Was für ein Leben. VOLAND & QUIST 54

| BELLETRISTIK »Blutsbande sind keine rote Seidenschleife, sondern ein abgenutztes Springseil, eine Nabelschnur, mit der wir an Händen und Füßen gefesselt sind.« : Fahvesuche auf dem pla en Land Der dänische Bestseller »Meter pro Sekunde« erscheint auf Deutsch W ir in Velling wollen was« steht auf dem Orts- schild. Was genau das sein soll, erschließt sich der Ich-Erzäh- lerin in »Meter pro Sekunde« noch nicht so richtig. Mit ih- rem Freund ist sie nach West- jütland gezogen und hat einige Probleme: Sie leidet unter Schlafentzug und sorgt sich, weil ihr Kind nur »Muh!« sagt. Ihr Freund ist Lehrer an der Heimvolkshochschule und wird von einer Schülerin angegraben. Es fällt ihr schwer, mit den Einheimischen in Kontakt zu kom- men. Der Landstrich ist notorisch wortkarg und alle Versuche der Kopenhagenerin, sich im 246-Seelen-Dorf interessant zu machen, laufen ins Leere. kurz weilige Lektüre, die es nahezu verun- möglicht, eine Stelle zu finden, an der man das Buch aus der Hand legen möchte. Stine Pilgaard ist Absolventin der Danish Dazu trägt auch Pilgaards Sinn für die Komik Writers Academy und versteht ihr Handwerk. In ihrem dri en Roman »Meter pro Sekunde« zeigt sie gewitzt den banalen Alltag einer Kleinkindmu er. Ihre Erlebnisse stehen neben den Zuschriften von Leserinnen einer lokalen Zeitung an sie als Kummerkastentante vom Dienst und ihren mehr oder weniger angemes- senen, oft twi ertauglichen Antworten. Dazwischen gruppieren sich alternative Texte für das Liederbuch der Heimvolkshoch- schulen, von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert übertragen. So entsteht eine des Alltäglichen bei. Wir lesen, wie die Ich- Erzählerin und ihr Nachbar erst witzelnd und später immer ernster die Qualität von Feucht- tüchern analysieren – Themen, die nur frisch- gebackene Eltern ernsthaft beschäftigen können. Oder wie alle Gespräche mit ihrer Freundin Krisser immer wieder auf eine Frage hindrängen: »Ist das normal?« Und das fragen schließlich nicht nur junge Mü er, sondern alle. NELE THIEMANN ▶ Stine Pilaad: Mete po Sekunde. Aus dem Dänischen von Hinich Schmidt-Henkel. Belin: Kanon . S., »Ich spaziere gern in der Dunkelheit zwischen den Werken umher und bringe sie mit einer Taschenlampe zum Vorschein. Es ist, als würde man nachts durch ein Korallenriff tauchen.« : Zwischen Bäumen schwimmen In »Ursprung« suchen Eva Tinds außergewöhnliche Figuren sich selbst D rei Menschen aus fragmen- tierten Verhältnissen: Kai, ein junger Architekt mit Heil- kraft in den Händen, dessen Vater seine dänische Mu er verließ und zurück nach Korea ging; Miriam, eine so geniale wie exzentrische Künstlerin mit nebulöser Vergangenheit; und ihre selbstsichere Tochter Sui, die bei Vater Kai aufwuchs, weil Mu er Miriam sie für den großen Durchbruch verließ. Sie alle be geben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und ih- rer Bestimmung: Kai bei einem Yoga-Retreat in Indien, Miriam in einem einsamen Wald- haus in Schweden und Sui zuerst bei ihrer betagten Mu er, die in der Abgeschiedenheit 56 ihr letztes großes Kunstwerk schafft, und anschließend bei der Familie ihres Vaters, die auf einer koreanischen Insel in einem Matri- archat von Perlentaucherinnen lebt. In langen, freimütigen Dialogen verhandeln Tinds Figuren miteinander Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Daneben spielen poetische Naturbetrachtungen eine tragende Rolle im Roman der preisgekrönten dänischen Autorin, von der nun erstmals ein Buch in deutscher Übersetzung erscheint. Miriam will im Wald »als reine Natur leben, frei von der Liebe der anderen Menschen, unsichtbar und vielleicht gerade deshalb zum ersten Mal wirklich sichtbar«. Wasser erscheint in unzäh- ligen Bildern als Nebel, Regen, Fluss, Tränen und schließlich als Ozean. »Ich bin zum Tau- chen geboren. Ich kann mich mühelos im Meer orientieren«, schreibt Sui glücklich aus Korea an ihren Vater. Auch sonst finden sich die Figuren mit traumwandlerischer Sicherheit zurecht. Sie tauchen immer im richtigen Moment am richtigen Ort auf, sie sind erfolgreich und unerschrocken und haben spirituelle Kräfte. Das Ganze mutet erzählerisch wie sprachlich manchmal etwas naiv an. Hat man jedoch den festen Felsen des Wahrschein lichen verlassen und lässt sich unter der Oberfläche treiben, en altet sich eine Geschichte vom Farbenreichtum eines Korallenriffs. NORA DEETJE LEGGEMANN ▶ Eva Tind: Uspun. Aus dem Dänischen von Usel Allenstein. Hambu: Mae . S., ANZEIGE Carl-christian Elzes Carl-christian Elzes fulminantes Romandebüt über ein fulminantes Romandebüt über ein fast erwachsenen Kind, fast erwachsenen Kind, das anders ist das anders ist als die anderen. als die anderen. von Schuld, von Schuld, Verdrängung und Verdrängung und dem unstillbaren Wunsch, dem unstillbaren Wunsch, ein anderer zu sein. ein anderer zu sein. edition AZUR Klappenbroschur www.keuze-leipzi.de 176 Seiten 978-3-94237-554-2

| BELLETRISTIK : Selbstbehauptun made in Meck-Pomm Hendrik Bolz beginnt sein Buch mit einer sachlich und sensibel geschriebenen Triggerwarnung I n »Nullerjahre« schildert Bolz eine Jugend in Stralsund, einer Stadt, die kurz nach der Jahrtausendwende längst zum pi oresken Tou- ristenmagnet hergerichtet wurde. Der Prota- gonist Hendrik lebt allerdings nicht in der schönen Altstadt, sondern dort, wo keiner so richtig hinschauen mag, nämlich zwischen pastellfarbenen Häuserblöcken im Knieper West. Arbeitslosigkeit, Allgegenwart einer or- dinären, zynischen Sprache, Kriminalität, körperliche Gewalt und Machtansprüche von Drogenbanden, Nazigangs und sonstigen Gruppierungen – Hendrik ist jung und intel- ligent, aber er hat kaum eine Chance, sich von seiner Umgebung abzugrenzen. Die fortwäh- rend geschürte Angst schlägt unweigerlich in Aggression um. Er entdeckt Rap, Drogen und Kraftsport für sich und entwickelt sich über die Jahre zu einem, der schulischen Leis- tungsdruck ablehnt, sich tagtäglich zudröhnt und anderen auf die Fresse haut. Der Autor hat ein Händchen für dichte Atmo- sphären und Szenen. Der an knalligen Rap- Lines geschulte Stil, der sicher nicht frei ist von Zuspitzungen, lässt exzentrische und ver- stockte Figuren miteinander Dialoge führen. Es wird mit harten Schni en, Exkursen zur damaligen politischen Situation, verschiede- nen Kommentarebenen und Rückblenden jongliert. Ja, es ist, als würde sich die immanente Be- hauptung des Textes, dass die ostdeutsche Nachwendegeschichte noch einiger Ergänzun- gen bedarf, anklagend ausnehmen, was man gerech ertigt finden kann oder eben nicht. Das Buch stellt eine am- bitionierte, redlich wirkende und gut reflek- tierte Einladung dar, mit der eigenen Biografie aufzuräumen und vor allem mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen. JULIANE ZÖLLNER ▶ Hendik Bolz: Nullejahe. »Mit Scheißegeruch von den umliegenden Feldern, pastellgepinselten Pla en- bauten, Bomberjacken, Möwengeschrei, Hafen- glocken, Spro enköpfen, Donnergrollen, Sturmfl ut, Filmriss.« Juend in blühenden Landscha en. Köln: Kiepenheue & Witsch . S., : Vetaut »Aus unseren Feuern« erzählt von jungen Männern in der Sinnkrise »Nur zu dri sind wir ein Trio!« B ei der Lektüre von »Aus unseren Feuern« setzt sich einem ein vertrautes Gefühl auf die Schulter und liest mit. Kenn ich, denkt man, dieses Milieu, diese Nachwendeostler- geschichten – junge Männer zwischen über- wundenem Sozialismus und verhinderndem Kapitalismus, Coming of Age, erste Liebe, en äuschte Hoffnungen, die Kraft der Freund- schaft, die bleibt, trotz allem. Das Ganze rasant geschrieben, mit Dialogen, die nach ech- tem Leben klingen, und im Inneren läuft so- fort ein Film ab: Die Wörter verwandeln sich in Bilder, die man um die Jahrtausendwende in jungen deutschen Filmen gesehen hat. Im Mi elpunkt des Debütromans von Dome- nico Müllensiefen steht Ich-Erzähler Heiko Persberg – ein unauffälliger Mitläufer mit ge- legentlichen Anwandlungen von Widerspruchs- geist. Er ist Teil eines Trio infernale, zusam- men mit dem cholerischen Thomas und dem nerdigen Karsten. Die drei wachsen in Leipzig auf; geboren noch in der DDR, werden sie in der chaotischen Nachwendezeit sozialisiert. Thomas soll den Schlachthof des Vaters erben, Karsten will mit seinen selbst gebauten Bom- ben alles in die Luft sprengen und Heiko hat keinen Plan, das Leben stößt ihm immer ir- gendwie zu. »Aus unseren Feuern« wirkt etwas anachro- nistisch neben aktuellen Veröffentlichungen, die von Migration, Klimawandel oder gesell- schaftlicher Polarisierung handeln. Doch gerade mit Blick auf soziale Entwicklungen in Ostdeutschland ist Müllensiefens Roman aufschlussreich: Man kennt die geklopften Sprüche, das Bier-Kip- pen-Macho-Gehabe und weiß wieder, dass einem vor zwanzig Jahren die Dinge viel- leicht weniger kom- plex erschienen, sie aber auch nicht besser waren als heute. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Domenico Müllensiefen: Aus unseen Feuen. Belin: Kanon . S., : Ein Spiel wie das Leben Sascha Machts neue Roman »Spydelin« übe die Spielaten des Spiels M an stelle sich folgendes Szenario vor: Acht Bre spiele-Entwicklerinnen treffen auf einem Weingut in der Republik Moldau zusammen, eingeladen von einer mysteriösen Figur namens Spyderling, eine Art Guru in der Welt der Bre spiele-Nerds, um miteinan- der zu reden, um »verstehen zu lernen«. Nur was? Was ein Spiel ist? Was es ausmacht? Wo seine Grenzen sind, was seine Regeln aus- macht, warum wir uns diesen Regeln unterwer- fen und wie alles mit allem zusammenhängt? Für Daytona Sepulveda, die Haup igur in Sascha Machts zweitem Roman »Spyderling«, sind das keine trivialen Fragen, für sie liegen Tod, Schmerz und Traurigkeit in einem guten Spiel verborgen. Und diese Traurigkeit kennt die Haup igur, sie scheint Daytona nicht mehr loszulassen, seitdem sie in ihrer Vergangen- 58 heit verloren ging. Nur das Entwickeln von Spielen verspricht Linderung, womit wir wie- der beim Thema sind: dem Spiel als Flucht, dem Spiel als Re ung, dem Spiel als Bild, als unendlicher Spiegelung in sich selbst und damit dem Spiel als Liste, als Leben, als Kunst. All das erzählt der 1986 in Frankfurt (Oder) geborene Autor quasi nebenbei mit, während unsere Bre spiele-Entwicklerinnen auf be- sagtem Weingut auf die Ankunft Spyderlings warten. Unverständliches geschieht, sprich- wörtliche Welten tun sich auf, die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit – falls sie je- mals da waren – verschwinden. Wenn man versuchen würde, das Buch zusammenzufas- sen, könnte man sagen: Sascha Macht hat ein Buch geschrieben über die Kunst, ihre Mög- lichkeiten, ihre Bedeutung für uns und unser Leben. Und wem das jetzt zu abstrakt klingt, dem oder der kann ich nur raten: Selbst lesen und sich an einer eigenen Zusammen- fassung probieren, es lohnt sich alle- mal! SEBASTIAN ADAM ▶ Sascha Macht: Spydelin. Köln: DuMont . S., »Könnt ihr mein Lachen im Scha en der letzten Gletscher hören?« www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Eineseits veückt, andeeseits nicht In »Ist hier das Jenseits, fragt Schwein« geht es um einen verblüff enden Neubeginn W ie stellen Sie sich das Jenseits vor? Als Garten, als den Himmel, als das absolute Nichts? Oder als Hotelanlage in Meeresnähe, mit Klima- anlage und Liegestühlen und mit einem Nagetier als Rezeptionistin? So jedenfalls sieht das Jenseits in Noemi »Wer hat sich diesen grossartigen Mist ausgedacht, denkt Schwein.« Somalvicos verblüffendem Debütroman »Ist hier das Jenseits, fragt Schwein« aus. In dieser Hotelanlage landet ebenjenes Schwein mit- hilfe des Wechselapparats von Dachs. Damit sind Schwein und Dachs zunächst in Go es Wohnung gewechselt und haben die Erde von oben betrachtet. Dann ist in Go es Wohnung ein Fisch gelandet, der allerdings nicht lange überlebte. Go , der ohnehin zur Melancholie neigt, war untröstlich und wollte den Fisch gern wiedersehen. Also sind die drei weiter- gewechselt, diesmal ins Jenseits – in die er- wähnte Hotelanlage, in der Go allerdings schwer erkrankt und in der dagegen Schwein, das nach einer toxischen Beziehung unter Liebeskummer leidet, sein Talent zum Tanzen entdeckt und sich schließlich in Wüsten- fuchs, seinen Tanzlehrer, verliebt. Klingt verrückt? Das ist es einerseits, ande- rerseits ist es das nicht. Bei längerem Nach- denken sind die Ereignisse in »Ist hier das Jen- seits, fragt Schwein« jedenfalls nicht viel verrückter als das, was uns tagtäglich umgibt. Völlig zu Recht sagen Go es Kolleginnen und Kollegen, als sie seine Schöpfung betrachten: »Willst du so viele Städte, so viel Verkehr? Du hast ja kaum noch freies Land. Warum tust du nichts?« Vielleicht weil er seiner Schöpfung zu nahe ist? Schwein geht es jedenfalls erst wieder besser, als es Abstand zu seiner geschei- terten Beziehung gewinnt. Souverän stellt Noemi Somalvico die ewige Frage nach dem Warum, führt Schwein aus seiner Lebens- krise und ist dabei auch noch wahnsinnig ko- misch. Und das ist für einen ersten Roman erstaunlich viel. KATHARINA BENDIXEN ▶ Noemi Somalvico: Ist hie das Jenseits, fat Schwein. Roman. Belin: Voland & Quist . S., : Bestende Täume im Land de Tänen »Tanz der Teufel« erzählt überbordend von Diamantengier D er junge Tunichtgut Molakisi aus einer kinderreichen und armen Familie flüch- tet aus Zaire (im heutigen Kongo) in die Region Luanda Norte nach Angola, um dort unfass- bar reich zu werden. Denn nichts anderes haben die Glückssucherinnen um die Frau Tshiamuena im kreuzgefährlichen Grenzgebiet im Sinn: Die Diamanten, Klunker und Stein- chen des schnellen Geldes haben es ihnen angetan. Doch bis dahin und dazwischen: Saufereien, wilde Tänze, schwere Körperver- letzung, Mord. Während sich Regierung und Rebellentruppen (je nach Gemütslage gestützt von der Sowjetunion oder den USA) in Angola aus Machtgründen killen, bringen sich die Romanfiguren aus Diamantengier gegenseitig um. In einem Gebiet von kakophonischem Ausmaß fließen die Tränenströme des Leids und der Freude eng nebeneinanderher, kreu- zen sich und vereinen sich wieder zu einem gemeinsamen Strom, dem Zaire, dem Unter- lauf des Kongo, dem Fluss des Todes und des Lebens. Tshiamuena ist Königin und gutböse Hexe der Gegend. Ohne sie, die Madonna, die Hure, die Menschen- fängerin, die Mu er und Menschenfresserin, läuft nichts. Fiston Mwanza Mujila, geboren im Kongo, zaubert ein heftiges Buch auf unsere Lesesofas. Der Text ist irre überbordend, sein Lesen strengt an, auch weil er sich in unzähligen Nebengeschichten ergießt und die Fülle an Figuren und Ereignissen die : Leichen in Badad, Behöden in Belin »Der Erinnerungsfälscher« von Abbas Khider scha es Gewalt lustig zu verpacken Leserin herausfordert. Gleichzeitig ist diese Art Roman voll Musik, deren Texte und Rhythmus die Ereignisse wie in diesem Lied- text ohrenbetäubend illustrieren: »… es gibt keine Schönheit das Geld ist die Schönheit es gibt keine Jugend das Geld ist die Jugend armer Teufel, hör auf, mich anzugraben. Habenichtse, nein reiche Schnösel, ja noch besser Geld, Geld, Geld, Geld armer Teufel, hör auf zu nerven …« FRANK WILLMANN ▶ Fiston Mwanza Mujila: Tanz de Teufel. Aus dem Fanzösischen von Kathaina Meye und Lena Mülle. Wien: Zsolnay . S., (escheint am ..) »A lle, die aus Angola zurückkamen, völlig am Ende oder die Taschen voller Klunker, sprachen mit schnarrender Stimme, wenn sie die Madonna herau eschworen, vielleicht um ein Schluchzen zu unterdrücken.« 2 014. Said Al-Wahid fliegt nach vielen Jah- ren das dri e Mal von Deutschland nach Bagdad, wo er aufgewachsen ist. Seine Mu er liegt dort im Sterben. Aus diesem Anlass kramt er lückenhafte Erin- kramt er lückenhafte Erin- nerungen rund um Weg- gehen und Ankommen aus dem Gedächtnis hervor: Behördengänge und Rassis- mus in Deutschland, Leichen und Machtwechsel in Bagdad. Dazu gehören auch Familienerinnerun- gen, allen voran an die Mu er. »Mit Krisen konnte sie umgehen, im Glück war sie eine ewige Anfängerin.« Kurze Sätze im Präsens »Auch im Tod fürchtet Mu er das Lächeln, denkt Said.« 60 sind Khiders Antwort auf das umständliche Behördendeutsch. Trotzdem muss man sie langsam und vorsichtig lesen, denn der Witz versteckt sich in einzelnen Wörtern. Auch in der Grausamkeit ist er zu finden, so heißt es über eine Polizeikontrolle in München lapi- dar: »Sie suchten sogar mit Schutzhandschu- hen in seinem After und zwischen den Hoden nach Waffen und Terroristen.« Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Ein Wermutstropfen: In »Der Erinnerungs- fälscher« schreibt mal wieder ein Autor über das Autorendasein. Wir begleiten ihn bei dem Schreibprozess. Seine Erinnerung setzt sich Szene für Szene zusammen – und bleibt doch unvollständig, denn sie besteht aus Lücken und Lügen: »Er hofft, dass das alles wirklich so war.« Der Roman ist keine Fluchtgeschichte wie »Go ist nicht schüchtern« von Olga Grjas- nowa, es geht auch nicht um die Rückkehr in das Geburtsland wie in »Eine Formalie in Kiew« von Dmitrij Kapitelman. Ein Lei hema gibt es nicht; »Der Erinnerungsfälscher« ist ein Sammelsurium von Gewalt und Traurigkeit in einer lustigen Verpackung. Das Buch endet abrupt. Die Erinnerungen reißen ab und der Staffelstab wird weitergegeben an die zweite Generation, die weder Weggehen noch An- kommen kennt und Bagdad mit Neugierde begegnet. PAULINE REINHARDT ▶ Abbas Khide: De Einneuns lsche. München: Hanse . S., www.keuze-leipzi.de

| BELLETRISTIK : Edbeben im Fiaul Esther Kinsky stellt sich einer versehr- ten Landscha und ihrer Bewohner I n der Begründung der Jury heißt es zur Vergabe des Deutschen Preises für Nature Writing 2020 an Esther Kinsky: Sie »widmet ihre Aufmerksamkeit in vielen Büchern dem Gelände und weist auf Dynamik und Viel- schichtigkeit, auf Beharren und Verändern, auf die Wechselbeziehung von menschlichem Vorstoß und natürlichem Widerstand hin«. Diesem Prinzip folgt auch ihr Roman »Rombo«, der, sortiert in sieben Kapiteln, Erinnerungen, Legenden, Fotografien, Pflanzen, Tiere unter Ein-Wort-Überschriften versammelt. »Was ist die Erinnerung, was ist das Vergessen? Eine Art, Ordnung zu halten. Im Schmerz. Und im Leben überhaupt.« Als 1976 in Norditalien die Erde bebt, bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Wie tief- greifend ein solcher Einschni in ein Gelände und das Leben der Menschen ist, berichten die Bewohner eines Bergdorfes, tastend, su- chend in Bruchstücken des Traumas. Das Trauma, das deshalb so hartnäckig ist, weil es sich nicht erzählen lässt, weil die Erinnerung selbst fragmentiert ist. Kinsky findet dafür die Form, überträgt die Erscheinung der zer- rü eten Landschaft auf das Erzählen. Es kann kein großes Ganzes mehr geben, hat es viel- leicht noch nie, sta dessen: Stimmen, Trauer, Momentaufnahmen einer unzuverlässigen Landschaft. Tief klafft der Spalt zwischen den Passagen der Dörfler, die mit einfachen Worten vom Vergessen sprechen, und den Beschreibungen des Gebirges mit seinem charakteristischen Kalkstein. Jeder Quadratmeter dieser Land- schaft scheint in Kinskys Beobachtungen zu seinem Recht zu kommen, ein Festhalten, ein Kreisen um die Katastrophe, indem die Unbeständigkeit überdeutlich hervortri . Erinnertes, Flecken von Erde liegen hier beisammen, kein Mosaik, ein Scherbenhaufen schlichter, schöner, aber sperriger Sprache. Ein Roman im Zustand der Zerrü ung, ebenso vom Beben durchdrungen wie der Ort, den er beschreibt. LINN PENELOPE MICKLITZ ▶ Esthe Kinsky: Rombo. Belin: Suhkamp . S., »Am nächsten Tag trug einer seine zerbrochene Fiedel durchs Dorf, als wäre sie ein Kind.« 62 »Leider bin ich nie in ein Paralleluniversum gekippt, in dem eine andere kollektiv verwaltete Wahrheit herrscht.« : Letzte Tae, letzte Wote Berührende Aufzeichnungen einer Sterbenden : Wahheitssuche Clemens J. Setz nähert sich einem schwierigen Begriff im Plauderton Z u Anfang Skepsis: Noch ein Text über »Wahrheit«? Wird jetzt wieder das »post- faktische Zeitalter« bemüht und Hannah Arendt zitiert? Überlegungen zur Wahrheit füllen Bände, und wer will sie lesen? Die erste angenehme Überraschung: Clemens Setz’ »Gedankenspiele über die Wahrheit« passen auf rund vierzig Seiten. Die zweite: Sie enthalten nichts Erwartbares. Setz, der vergangenes Jahr den Georg-Büchner-Preis bekommen hat, bietet keine Antworten darauf, was Wahrheit ist und ob es sie gibt. Das Bändchen ist vor allem eine kurzweilige Sammlung von Anekdoten aus Literatur und Film. Setz schreibt über ein falsches Grillparzer- Zitat bei Roger Willemsen oder über sein eigenes Verfälschen von Camus’ »Der Fremde«. Und er denkt darüber nach, wie das Gedächt- nis durch Fehler der Wahrheit nahekommen kann. Es geht um das Erfinden von Zitaten, den Unterschied zwischen »buchhalterischer« und »ekstatischer« Wahrheit in den Doku- mentarfilmen von Werner Herzog und um den »Mandela-Effekt«, also kollektive Fehlerin- nerungen. Das Ergebnis ist ein lose zusammenge- steckter und gerade deshalb schöner Essay fernab von politischer Gegenwartsanalyse. Erst am Ende, wenn Setz über ein niederländi- sches Dorf zur Zeit der sogenannten Hexen- verfolgung schreibt, plädiert er wie nebenbei für Vernunft und Wissenschaft. Damals ver- hinderte eine »Hexenwaage« – nichts anderes als eine normale Waage – den Tod unschul- diger Frauen. Über diese Waage schreibt Setz: »Mögen ihre gegenwärtigen und zukünftigen Äquivalente, wie immer diese aussehen mögen, zahlreich und wirksam sein.« Seine Reflexionen bilden eine gelungene Ergänzung zur »Gedankenspiele«-Reihe des Droschl-Verlags, bei dem namhafte Schrei- bende über ein einzelnes Wort nachdenken. MAURUS JACOBS ▶ Clemens J. Setz: Gedankenspiele ü be die Wahheit. Gaz: Doschl . S., Wie würde man sich verhalten, wenn man wüsste, dass einem aufgrund eines Hirntumors nur noch wenige Monate blieben? Alles tun, was bisher unmöglich schien, oder den Alltag einfach weiterleben, ihn aber bewusster wahrnehmen? Für die namenlose Ich-Erzählerin in »Von Fall zu Fall« ist die Sache klar: Sie hat sich für die zweite Option entschieden. So verbringt sie fast täglich einige Zeit auf dem nahegele- genen Alten Nordfriedhof der Münchner Maxvorstadt und notiert das We er, ihre Eindrücke und Gedanken in einem Stunden- heft. Manchmal kommt es zu Begegnungen mit anderen Besuchern, doch meistens ist sie allein und beobachtend unterwegs. Von Ende September bis zum Jahreswechsel bemerkt sie die kleinen und großen Verände- rungen in der Natur, sinniert über Leben und Verfall und macht noch eine Entdeckung: Bei ihren Gängen über den Friedhof stößt sie auf das Grab von August Gemming – einem »Münchner Original«, wie seiner etwas rätsel- haft auf dem Stein gedacht wird. Die Ich-Erzählerin wird neugierig, recher- chiert und findet einiges über den fast unbe- kannten Autor heraus. Er begleitet sie durch die Tage, seine Gedichte erfreuen und verärgern sie, zu ihm spricht sie in Gedanken, während ihr das Schreiben immer schwerer fällt. Gegen Ende der Aufzeichnungen verklei- nert sich erst ihr Sehfeld, später zerfällt ihr auch die Sprache. Autorin Elvira Steppacher erfreut sich – nach einem Blick auf ihre Website – offenbar guter Gesundheit. Ohne dieses Wissen im Hinter- kopf könnte man »Von Fall zu Fall« tatsächlich als das Tagebuch einer Sterbenden lesen. Aber auch als Fiktion ist dieses Stundenheft eine berührende literarische Annäherung an das letzte große Unbekannte. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Elvia Steppache: Von Fall zu Fall. Ein Stundenhe . Wien: Baumülle . Ca. S., »Halte dich an Flauschiges.« www.keuze-leipzi.de

| SACHBUCH I E G E Z N A : Veschwundene Welten Patrick Leigh Fermor schreibt über das Leben in Klöstern W ie so viele Menschen, die in- nere Einkehr und Abge- schiedenheit suchen, fühlte sich auch der 2011 verstorbene englische Autor Patrick Leigh Fermor zu Klöstern hingezogen. Über Jahr- zehnte hinweg besuchte er sie überall auf der Welt und lebte dort eine Weile mit den Mönchen. In seinem 1957 erstmals erschienenen Buch »Eine Zeit der Stille« schil- dert er seine Eindrücke und Emp- »Für einen Augenblick sahen die Tonsuren zu beiden Seiten des Mi elgangs wie aufgereihte Teller aus.« findungen bei Aufenthalten in englischen und französischen Klöstern sowie bei der Erkundung verlassener kappadokischer Felsenklöster. Den Leser nimmt Fermor dabei mit in eine verschwindende oder bereits verschwundene Welt: Seine Beschreibungen aus den fünfziger Jahren, 1982 neu aufgelegt, sind spürbar historisch. Nicht nur weil er die Geschichte des jeweiligen Klosters einfließen lässt; diese Orte und das Leben in ihnen sind heute so nicht mehr vorstellbar. Fermor sympathisiert mit der Spiritualität und Askese der Mönche, wenn er auch seine Irritation gegenüber der ultrastrengen Lebensführung der Trappisten nicht verbirgt. Man erfährt so einiges über die Verhältnisse in Benediktiner- und Zisterzienserorden, was an Beschreibungen untergegangener Völker erinnert. Als Sympathisant neigt er dazu, seine Studienobjekte zu idealisieren. Die Reforma- tion scheint Fermor ein Dorn im Auge, die Lebensführung der Geistlichen dagegen über jeden Zweifel erhaben gewesen zu sein. Das wirkt heute naiv und passt nicht zur Emanzi- pation gesellschaftlicher Gruppen, die sich nicht mehr in von oben vorgegebene geistige – und damit auch politische – Traditionen stellen wollen. So liest man Fermors Buch vor allem als eine Auseinandersetzung mit den spirituellen und ästhetischen Fragen der Vergangenheit. ANDREA KATHRIN KRAUS ▶ Patick Leih Femo: Eine Zeit de Stille. Zu Gast in Klösten. Aus dem Enlischen von Dik van Gunsteen. Züich: Dölemann . S., ca. : Die Welt in Büchen denken »Papyrus« von Irene Vallejo ist weit mehr als eine Kulturgeschichte über Beschreibstoff e D ie Geschichte des Buchs war schon immer auch eine der Zerstörung. Doch die »Schreine aus Papier«, die »Verbündeten gegen das Vergessen«, über die Irene Vallejo in ihrem Buch »Papyrus« schreibt, werden nicht aussterben, selbst wenn Mo en das schmack- hafte Zypergras der Schriftrollen verschlingen wollen. Die spanische Schriftstellerin teilt ihre »Geschichte der Welt in Büchern« in zwei große Themenblöcke: Der erste beschäftigt sich mit der Liebe zum Wort und der Maßlo- sigkeit in der Deba ierkunst der Griechen, der zweite mit den römischen Schreibern und der Sozialgeschichte des Lesens bis hin zur Erfindung der Brille. Zentral sind bei alledem die Fragen nach der Verflechtung von mündlicher Sprache mit dem geschriebenen Wort. Wer ha e ab wann und in welcher Form Zugang zu den Überlieferungen? Wer rezipierte was? Wie entwickelte sich der Beruf des Bibliothekars und jener des Buch- händlers? Und was empfanden die Autoren beim Schreiben und Veröffentlichen ihrer Werke? Die Gedankenexperimente Valle- jos reichen vom fiktiven Betreten der längst zerstörten Bibliothek von Alexan- dria, deren Gründungsidee eine Art Inter- nationalbibliothek war, bis hin zu Betrachtun- gen über die heutige Graffitikunst. Die abwechslungsreiche Zusammenstellung der Themen zeigt immer wieder, wie sich Inno- vation und Rückschri bis heute die Hand reichen. So wie die Erfindung der Schrift und des Buchdrucks etwa das Zensurwesen und Bücherverbrennungen mit sich brachte, schuf sie ebenso ein Ventil für den Widerstand gegen Unterdrückung und Diskriminierung. Was die Autorin alles in »Papyrus« verpackt und verwebt, ist umfangreich und zeugt von einer beneidenswert großen Belesenheit. Mögen manche Thesen in ihrem Buch auch diskutabel sein, so öffnet sich hier dennoch ein Palast der Inspiration, in dem über die Kulturgeschichte des geschriebenen Wortes nachgedacht und gestaunt werden darf. HANNA SCHNECK ▶ Iene Vallejo: Papyus. Die Geschichte de Welt in Büchen. Aus dem Spanischen von Maia Meinel und Luis Ruby. Züich: Dioenes . S., »In ihrer jahrtausendealten Geschichte erwiesen sich Bücher, diese Schreine aus Papier, Buchstabe für Buchstabe und Abschri für Abschri , als unsere besten Verbündeten gegen die Zerstörung und das Vergessen.« www.keuze-leipzi.de Gazal/Sookee (Hg.) Awesome HipHop Humans Queer*Fem*Rap im deutschsprachigen Raum Beiträge von und mit zahl reichen Protagonist*innen 24 € (D) • ISBN 978-3-95575-109 Vivien Goldman Die Rache der She-Punks Eine feministische Musik- geschichte von Poly Styrene bis Pussy Riot Entlang der vier Themenfelder Identität, Geld, Liebe und Protest begibt sich die Post-Punk-Pionierin Vivien Goldman auf die Suche nach empowernden Momenten, die Punk speziell für Frauen birgt. 20 € (D) • ISBN 978-3-95575-157-9 Anna C. Paul (Hg.) Super(hairy)woman* Erfahrungsberichte im Zeitalter der Haarlosigkeit Ein offener, persönlicher und sozialkritischer Diskurs über behaarte Weiblichkeit* 20 € (D) • ISBN 978-3-95575-158-6 ventil-verlag.de mit webshop 64

| SACHBUCH I E G E Z N A : Zivilisationsbuch Holocaust-Relativierung kommt in vielen Gewändern – heute als Kolonialkritik K eine Frage, das finstere Kapi- tel Kolonialgeschichte mit seinen genozidalen Verbrechen wird in den Gesellschaften des Westens erst seit kurzer Zeit kri- tisch betrachtet. Und auch erin- nerungspolitisch klaffen in dieser Hinsicht Lücken. Zahlreiche Initiativen fordern da berechtig- terweise intensivere Auseinander- setzung ein, die Postcolonial Studies fördern hierzu Erkennt- nisse zutage. Doch kommen aus der Kolonialkritik auch Stimmen, die sich ausgerechnet am Holo- caust abarbeiten. Dieser sei nur eine Episode der langen grausa- men Kolonialgeschichte und Anti- semitismus ein Sonderfall des Rassismus. Der Sammelband »Ein Verbrechen ohne Namen« mit einem Mini-Vorwort von Jürgen Habermas ist eine Reak- tion darauf. Darin argumentieren die vier Historikerinnen Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner, dass es am Holocaust als einzigartigem Zivi- lisationsbruch nichts zu rü eln gibt. Sie verwahren sich gegen Opferkonkurrenz, denn natürlich ist jeder Mord leidvoll, egal ob er nun in Auschwitz oder Windhuk verübt wurde. Und Platz im Gedenken sei auch da. Der Unter- schied zwischen den kolonialen Völkermorden und dem Holo- caust, nämlich der pure Vernich- tungswille, wird deutlich heraus- gestellt. Juden und Jüdinnen sollten von den Deutschen und ihren Helfern als »interner Feind« ausradiert werden. Weiterhin scheinen Parallelen zum Histori- kerstreit der Achtziger auf, wenn der Holocaust »nur« eine Folge des kolonialen Denkens ist – wie er damals »nur« eine Antwort auf bolschewistische Verbrechen sein sollte. Das sind klar nachvoll- ziehbare Argumentationen, in de- nen auch der Verdacht aufscheint, dass solche Stimmen eigentlich geschichtspolitisch motiviert sind, also um zum Beispiel den Staat Israel zu a ackieren. TOBIAS PRÜWER »Über den Holocaust erfährt man also nicht viel, wenn man ihn als Spielart respektive ›Spezialfall‹ des Kolonialismus verstehen will.« ▶ Saul Fiedlände, Nobet Fei, Sybille Steinbache, Dan Dine, Jüen Habemas: Ein Vebechen ohne Namen. Anmekunen zum neuen Steit übe den Holocaust. München: C. H. Beck . 94 S., 12 € : Panoptikum eines Vebechens »Der Halle-Prozess: Mitschri en« herausgegeben von Linus Pook, Grischa Stanjek und Tuija Wigard Amelia Horgan Lost in Work Dem Kapitalismus entkommen Kurven Edition Konturen Mehr Solidarität, weniger Ausbeutung. 192 Seiten, 12 cm × 22 cm, € 22,– ISBN 978-3-902968-73-9 Claudia Erdheim „So etwas schreibt man nicht!“ Absurdes, Komisches, Abstoßendes und Irritierendes in der Literatur Kurven Edition Konturen »Wir verstecken uns nicht, wir stehen zusammen, wir werden gehört.« Darf man denn das? 120 Seiten, 12 cm × 22 cm, € 22,– ISBN 978-3-902968-72-2 Edition Konturen Wien – Hamburg www.konturen.cc NK E R U T N O K ED I T I O N J uristisch ist der antisemiti- sche, rassistische und misogyne Terroranschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle, bei dem zwei Menschen ermordet und zahlreiche verletzt wurden, abge- schlossen. Knapp zwei Jahre danach erscheint mit »Der Halle- Prozess: Mitschriften« ein grundlegendes Werkzeug für ein weiterführendes Verständnis der Tat und ihrer Auswirkungen. Für eine notwendige und gesell- schaftlich breite Auseinanderset- zung mit dem Verbrechen ist die- ses Buch unverzichtbar. Ausgehend von ihrer Prozess- beobachtung haben sich die Her- ausgeberinnen die Aufgabe gestellt, möglichst detailliert den gesamten Ablauf der Verhand- lung wiederzugeben. Aus rechtli- chen Gründen war es ihnen dabei nicht möglich, auf Audioaufnah- men des Verfahrens zurückzu- greifen. In ihrem Vorwort deuten sie bereits die Schwierigkeiten ih- res Vorgehens an. »Es bleibt un- ser Versprechen, alle Vorgänge, Aussagen und Zwischenrufe nach bestem Wissen und Gewissen mitgeschrieben und gründlich ausformuliert zu haben.« So ist der Band geprägt durch die indi- rekte Wiedergabe der Aussagen durch die Protokollantinnen. Was beim Lesen vermi elt wird, ist ein umfassender Eindruck vom Prozess als Ganzes. Wurde das Verbrechen klassifiziert als eines, das geeignet sei, die »äußere und innere Sicherheit der Bundes- republik Deutschland zu beein- trächtigen«, besteht mit diesem Buch die Möglichkeit, sich im De- tail darüber zu informieren und die notwendige gesellschaftliche Aufarbeitung des Verbrechens fortzuführen. CLEMENS BÖCKMANN ▶ Linus Pook, Grischa Stanjek, Tuija Wigard (Hg.): Der Halle-Prozess: Mitschrift en. Leipzig: Spector Books 2021. 896 S., 28 € 66 www.keuze-leipzi.de

» Die Frauen und ihr Schicksal beschäf- tigten mich ein Leben lang, und ihr Los war es auch, das mich zum Sozialismus führte.« Alexandra Kollontai I E G E Z N A Katharina Vok (Hrsg.) Aexandra Koontai oder: evoution für das Leben Seiten, mit Abb., Broschur, , ISBN ---- Neu in der Reihe ›Analysen‹: Vaeria Bruschi/ oritz Zeier (Hrsg.) Das Kima des Kapitas Geseschaftiche Naturverhätnisse und Ökonomiekritik Seiten, , ISBN ---- | SACHBUCH »Widerstand ist eine innige Kunst. Er wirkt von innen nach außen.« : Feminismus oder Schlägerei Der Tod toxischer Männlichkeit naht – prophezeit Laurie Penny S trahlend wird die Zukunft sein. Sagt Laurie Penny. Mit ihrem neuen Buch ist die Feministin wieder ganz in ih- rem Element und schön streitbar. Ja, wir erleben derzeit einen Roll- back, aber der ist nicht von Dauer, so lautet ihre Grundüberzeugung. Die derzeitige Zunahme von Zu- stimmung zu faschistischen Posi- tionen interpretiert sie als ein letztes Aufbäumen. Ob Pennys Prognose zutrifft, hängt natürlich vor allem davon ab, wie stark die feministischen Kämpfe gegen den Backlash aus- fallen. Ihrer Analyse von Macht und Männlichkeit, Krise der tra- ditionellen Geschlechterrollen und sta findenden gesellschaft- lichen Veränderungen ist zuzu- stimmen. Positiv ist, dass Penny eine klare Sprache findet und für andere Unterdrückungsarten nicht blind ist (Stichwort: Inter- sektionalismus). Manchmal ist sie aber ungenau, und einige Gegenargumente wischt sie mit einem Satz beiseite, was weniger überzeugt. Und warum sie sich immer mal im Anekdotischen be- wegt, wird nicht ersichtlich. Hauptkritikpunkt ist aber die Form: Penny wiederholt sich per- manent. Auf 40 Seiten Einleitung : Jägerinnen und Sammler Marylène Patou-Mathis rückt das Bild von der Urzeit gerade walzt sie ihr Vorhaben aus und sagt mehrfach dasselbe. Das er- müdet, gerade weil es Penny nicht um Präzision des Arguments geht, denn es spricht immer auch und teilweise nur die Aktivistin aus ihr. Das ist nicht falsch, schafft aber einen Hybrid. Aufgrund der fehlenden Tiefe ist das Buch eher für Einsteigerinnen geeignet. Die Form der Darbietung muss man halt mögen. Und natürlich bleibt zu hoffen, dass Penny Recht mit ihrer Prognose hat. TOBIAS PRÜWER ▶ Lauie Penny: Sexuelle Revolution. Rechte Backlash und feministische Zukunft . Aus dem Enlischen von Anne Emmet. Hambu: Edition Nautilus . 381 S., ca. 18 € »Je mehr wir über die Urgeschichte wissen, umso mehr zeigt sich, dass das Patriarchat keinerlei anthropologische Grundlage hat.« M änner belauerten mit Spee- ren ein Mammut, erlegten Säbelzahntiger mit Keulen und trieben Rotwild Felsabhänge hin- unter in den Tod. Das Weib der- weil hütete das Feuer, beaufsich- tigte die Kinder und reichte den mutigen Jägern gesammelte Bee- ren, wenn diese nach getanem Job in die Höhle zurückkehrten. Keine Epoche der Menschheit ist so klischeebeladen wie die Urge- schichte. Die Geschlechterrollen von damals scheinen klar zu sein, »von Natur aus« angelegt. Und davon leiten einige auch für heute noch Normen und Bewertungen ab. So heißt es, Frauen hä en schlechteres räumliches Sehver- mögen, weil sie damals nicht jag- ten. Was beides nicht stimmt. Das ist im empfehlenswerten Buch »Weibliche Unsichtbarkeit« von Ma- rylène Patou-Mathis nachzulesen. Die Ur- und Frühhistorikerin hat ihr gesammeltes Wissen hier ausgebreitet. Sie zeigt, wie dieser junge Forschungszweig erst im 19. Jahrhundert entstand und wie sehr alle Fundstücke vor dem Hintergrund des damals herr- schenden Zeitgeistes interpretiert wurden. Man konnte sich eben einfach keine Jägerin vorstellen, also gab es sie nicht. Auch wenn dieses Urteil nicht aus den Arte- fakten abzuleiten war. Auch die Vorstellung, in der Frühzeit hät- ten sich rivalisierende Horden im permanenten Kriegszustand miteinander be- funden, verweist Patou-Mathis ins Reich der Mythen. Dass sie im Buch noch einmal die Geschichte des Pat- riarchats aufrollt, versetzt es in ein kleines Unge- wicht. Aber ihre kenntnisreichen Erläuterungen zur Urgeschichte und den Fehlurteilen früherer Forscher (es waren fast alles Män- ner) sind erhellend und machen diesen Text intellektuell wertvoll. TOBIAS PRÜWER ▶ Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. München: Hanser 2021. 286 S., 24 € : Hier und dort »A er Europe« vereint Diskussionen ums koloniale Denken »Ich würde gern mit einem kurzen Gramsci- Zitat antworten.« e d n . i l r e b z t e d i D ieses Buch mutet manchmal fast wie ein Theatertext an«: Ähm nein. Da irrt Herausgeber Julian Warner, theatral ist sein Buch nicht, auch wenn es ein öf- fentliches Gespräch abbildet, das im Rahmen des gleichnamigen Performance-Festivals sta fand. »After Europe« gibt Denkanstöße, aber nur, wenn man schon weiß, worüber gesprochen wird: Postko- lonialismus, Dekolonisierung und Identitätspolitik. Der Kulturanthropologe Rohit Jain, die Kunstvermi lerin Nora Sternfeld und die Protestf orsche­ rin Olga Reznikova sprachen über die Warnung, Imperialismus­ kritik durch antiwestliche Kritik zu ersetzen, postkoloniale Praxis im Kunstbetrieb und die Suche nach Universalismus. Dessen (Un)möglichkeit steht ja – manch­ mal als rosa Elefant – im Zent­ rum aller Debatt en über Dezent­ ralisierung und Provinzialisie ­rung von Sprecherpositionen. Die Denkerinnen jedoch möchten daran festhalten, nur wird nicht ganz klar, wie. Es ist kein Drama, dass das Buch kein Drama ist. Es wird eventu­ ell in einigen Seminaren disku­ tiert werden und ist das auch wert. Leider aber stellt es eine weitere vertane Chance dar, das Thema populärer aufzubereiten. So schwer ist das ja auch nicht, wenn man seine Lieblingsvokabeln mal zu Hause lässt. TOBIAS PRÜWER ▶ Julian Warner (Hg.): Aft er Europe. Beiträge zur dekolonialen Kritik. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. 104 S., 12 € 68 www.keuze-leipzi.de Andrej Hom Objekt der endite Zur Wohnungsfrage und was nges noch nicht wissen konnte Seiten, , ISBN ----

Kultur, Diaspora, koloniale Diskurse I E G E Z N A e i h p a r g o b o t u A i . n l e s n I i e w z n e h c s i w z n e b e L n i E r e d m e r F r e t u a r t r e V l l a H t r a u t S € 2 2 . S 4 0 3 . e b a g s u A - k c a b r e p a P Rassismusgeschichte als rasanter Krimi € 5 1 . S 0 0 4 . e b a g s u A - h c u b n e h c s a T i t t o n a M e u q n m o D i i 3 7 . e l l i e s r a M 3 6 2 1 e n d a i r A Der „Philosoph“ unter der Lupe € 3 1 . S 6 7 1 . t r e i h c s o r b t a m r o f n i e l K z n e d a k e d e h c s i n y z & ß a m l e t t i m s e h c s i t a r k o t s i r a – k j i d r e t o l s 1 0 g n u r e i s i h c s a f r e d n e t l a t s e g | SACHBUCH » Nach den rund 200 Toten der Überschwemmungen in diesem Jahr diskutiert die Politik erst jetzt ernstha über Anpassung: Die Klimakrise ist zweifellos da, doch geschützt sind wir nicht.« : Sind doch nur drei Meter Rutger Bregman warnt vor unserer Katastrophenignoranz E igentlich ist Rutger Bregman Optimist. Mit seiner Studie »Im Grunde gut« hat der niederländische Historiker dargelegt, dass gemeinschaftliches Handeln und Solidarität das Menschsein ausmachen und korrigierte das Bild vom wesentlich bösen Menschen. Nun warnt er die Niederlande und Deutsch- land vor dem Anstieg des Meeresspiegels. Denn die prognostizierten drei Meter bis zum Jahr 2100 stellen eine Katastrophe dar. Wir wissen das und reagieren trotzdem nicht angemessen. »Wenn das Wasser kommt« zeigt, dass das Schutzsystem der Niederlande nur 40 Zentimeter bewältigen kann. Deutschland hat nichts Vergleichbares. Natürlich ist der steigende Meeresspiegel ein globales Problem, aber Bregman bricht es auf eine verständlichere Ebene herunter, wenn er die Auswirkungen vor der Haustür darstellt. Ingenieure und Umweltwissenschaftler kom- men zu Wort, die das Ausmaß der Katastro- phe sowie mögliche Lösungsansätze beschreiben. Das wären jeweils extrem kost- spielige und aufwendige Megaprojekte. Oder mit dem Wasser leben beziehungsweise diesem weichen? In jedem Fall besteht Handlungsdruck. Der Ingenieur Johan van Veen wurde zwanzig Jahre lang belächelt, so Bregman, als er vor einer Flutkatastrophe in den Niederlanden warnte. Erst eine Sturmflut 1953 änderte den Regierungswillen – die Dämme brachen, 100.000 Menschen mussten fliehen. Das Schutzsystem wurde errichtet. In Deutsch- land kümmerte das niemanden, bis das Wasser in Form einer Sturmflut von 1962 kam. Bregmans schmaler Band macht unmissverständlich klar, dass die Zeit für Warnungen vorbei ist. Wir müssen handeln, Ausreden zählen nicht. TOBIAS PRÜWER ▶ Rutger Bregman: Wenn das Wasser kommt. Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Mitarbeit: Susanne Götze. Hamburg: Rowohlt 2021. 63 S., 8 € : Maske und Körper Edgar Hirschmann skizziert eine politische Theorie der pandemischen Gegenwart E s ist eine Operation am offenen Herzen, aber sie ist notwendig. Denn Nachdenken über die Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Bild von ihr kann nicht warten. Edgar Hirschmann wagt sich an die OP und seziert zwei inhaltliche Stränge: Maske und Wahrheit sowie Körper und Gemeinschaft. Dabei geht er vor allem durch Re-Lektüren bekannter Theoretikerin- nen von Hegel bis Agamben. Ein bisschen philosophische Vorkenntnis ist nicht verkehrt, um mit Hirschmann die passenden Rosinen aus den Theorien zu pi- cken. Oder man muss das Buch eben zwei Mal lesen. Das lohnt allemal. Die Kulturge- schichte der europäischen Maskenverwen- dung – eine Genealogie ist es nicht wirklich – zeigt vor allem, dass die Unterscheidung zwischen »wahrem Antlitz« und verschlei- ender Larve dem Christentum entstammt. Das wirkt bis heute nach, wenn der Mund- Nasen-Schutz bei Maßnahmengegnerinnen als Maulkorb zum abzulehnenden Symbol des Protestes wird. Eine neue Sensibilität fürs Körperliche schält Hirschmann im zweiten Teil aus den Theorien. Wenn gerade die persönliche Nähe in der Pandemie riskant ist, muss man Gesellschaft anders denken, als sie nur als Ensemble möglichst freier Geister zusam- menzufassen. Man muss die Gewalt des Virus anerkennen und die Macht, die aus den Pandemie-Maßnahmen heraus entsteht – und die ihrerseits für Gewalt sorgen. Dieser Teil bietet einen nützlichen Baukasten, um die aktuelle Lage theoretisch klüger disku- tieren zu können. Es braucht den genaueren Blick, sta an der Gegenüberstellung Freiheit vs. Sicherheit zu kleben. Vielmehr liefert das Buch originelle Perspektiven auf die kom- plizierte Gegenwart und Notizen für ihre politische Theorie. TOBIAS PRÜWER ▶ Eda Hischmann: Von Vien, Masken und dem neuen politischen Köpe. Wien: Tuia und Kant 2021. 221 S., 24 € »Kann nicht als ein leidvolles Paradox pandemischer Vergesellscha ung gelten, dass die Pandemie von uns zum Schutz des Lebens und zur Bekämpfung des Virus eine gewisse Gewalt gegen uns selbst erfordert?« www.argument.de 70 www.keuze-leipzi.de

| COMIC : Panorama Eine Comic-Anthologie erzählt von Jahren jüdischen Lebens in Deutschland S chon mal von der Darmstädter Haggadah gehört? Vom Seder­Abend, dem Räuber­ hauptmann Abraham Picard, der Berufsfach­ schule Masada und den Blue Note Records? Wer war prominenter Vertreter des urbanen Expressionismus? Und was steckt hinter dem beliebten Namen Aaron? Von all dem – und noch mehr – ist zu erfahren in der Anthologie »Nächstes Jahr in«. Über elf Episoden hinweg spannen Comic­Künstlerinnen ein Panorama von 500 Jahren jüdischen Lebens in Deutsch­ land auf. Gestandene Autorinnen wie Barbara Yelin und Simon Schwarz sind darunter, aber mit Hannah Brinkmann auch eine Stimme, die gerade erst kürzlich mit einem eigenen Comic debütiert hat. Auch grafisch ist der Sammel­ band divers gehalten: Eine Episode ist an mit­ telalterliche Buchmalerei angelehnt, eine andere abstrakt und hält vor allem Details ur­ baner Landschaften fest. Mit flüchtig­ver­ wischter Pastellkreide sind die Zeilen eines Gedichtes ausgestaltet. Textlastig und mit eher illustrativer Bildlichkeit stellt sich der Blick aus der Gegenwart dar. Es gibt allerhand zu erfahren im Buch, denn neben den Storys, die manchmal zu kurz ausfallen, gibt es Info­Texte. Das ist gut, denn damit werden die Comics nicht mit Erklä­ r ungen überlastet, können in ihrer Form für sich wirken. Alle zeigen sie die Vielschichtig­ keit des jüdischen Lebens, das nicht von antijüdischem Pogrom und antisemitischem Vernichtungswillen geprägt war. Das Buch ist im guten Sinn ein buntes Sammelsurium und lädt zu bildungsreichen Stippvisiten ein. TOBIAS PRÜWER ▶ Jonas Engelmann et al. (Hg.): Nächstes Jahr in. Comics und Episoden des jüdischen Lebens. Mainz: Ventil 2021. 168 S., 25 € »Das Bild der Jüdinnen und Juden in Deutschland ist bei vielen noch immer gespeist aus Halbwissen, Meinungen, Schuldgefühlen, Vorurteilen, off enem oder unter drücktem Judenhass, Verschwörungs- theorien und falschen Interpretationen.« : Anleitung zum Widerstand Lea Loos hat einen Sachcomic zur aktivistischen Organisation vorgelegt W iderstand zwecklos«? Schon das Cover schreit ein entschiedenes »Nein!« ent­ gegen. Nicht weniger bestimmt wird die Frage innen behandelt. Lea Loos’ gleichnamiger Sachcomic über Grenzen und Möglichkeiten von gewaltlosem Widerstand positioniert sich klar und gibt wissenschaftlich untermauerte Handlungsvorschläge. »Tja, tatsächlich gibt‘s wohl kaum ’ne krasse Bewegung, die nicht polarisiert hat.« Sachcomics sind spätestens sei Scott Mc­ Clouds gezeichneter Bildgeschichten­Theorie nichts Unbekanntes mehr. Und die sind auch schon dreißig Jahre alt. Für eine jüngere Gene­ ration hat Liv Strömquist mit ihrem femi­ nistischen Ansatz die Erklärcomics populari­ siert. Fußnoten sind entsprechend auch bei Lea Loos zu finden, die an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig Illustration studierte. Im Sett ing einer WG­Diskussion lässt sie verschiedene Politikwissenschaftlerinnen auf­ laufen, die den disputierenden Mitbewohne­ rinnen beispielsweise mit Statistiken darlegen, wie viele historische Konflikte mit gewalt­ freiem Widerstand gelöst wurden und wie man sich organisiert. Denn, das wird deutlich, effektiver Widerstand braucht Organisation. Infokästen – ein WG­Bewohner ruft immer wieder Wikipedia auf – liefern Zusatzmaterial und Biografisches. Auch Problematisches, wie Teile der Biografie des obligatorischen Gandhi, wird nicht ausgespart. Das liest sich ein bisschen schablonenhaft und ein Hauch von Extremismustheorie hängt kurz in der Luft, wenn es um die abso­ lute Distanzierung von Gewalt geht. Natür­ lich wird die Botschaft vor allem über den Text vermitt elt und findet mehr Vortrag denn Diskussion statt , weshalb die grafische Ebene etwas statisch wirkt. Aber als Einstieg ins Thema funktioniert der Comic und auch für jugendliche Lesende ist er geeignet. Loos weiß, wie man Wissen vermitt elt – sie arbeitet hauptberuflich als Lehrerin. TOBIAS PRÜWER ▶ Lea Loos: Widerstand ist zwecklos – Nein! Berlin: Avant 2021. 152 S., 16 € 72 www.kreuzer-leipzig.de

| COMIC : Große Krakel-Kunst Max Baitinger porträtiert eine unbekannte Barockdichterin in expressiven Bildern E xperimentell führt Max Baitinger – ein Absolvent der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst – in den Keller des Barock hinab. Mit »Sibylla« liegt nun jener Co­ mic vor, für dessen Vorhaben er 2020 den Preis der Berthold­Leibinger­Stiftung erhielt (kreuzer 02/2020). Der Preis dient der Förde­ rung von Comics, die sich wahrscheinlich nicht über den Verkauf allein finanzieren werden. Und so halfen die dotierten 20.000 Euro bei der Realisierung von »Sibylla«. Und machten Baitinger auch ziemlich frei in der Gestaltung. Sein Band greift die Geschichte der Greifs­ walder Dichterin Sibylla Schwarz auf. Diese hochgebildete junge Frau aus dem 17. Jahr­ hundert verstarb mit 17 Jahren sehr früh. Ge­ dichte von ihr sind erhalten, aber viel Biogra­ fisches weiß man nicht über sie, was Baitingers Freiheit noch vergrößerte. Und so ging er in die Vollen. Nur kurz skizziert er Sibyllas Leben, dann schildert er die Widrigkeiten und Entbehrun­ gen im Dreißigjährigen Krieg. Es geht um Sitt lichkeit, religiöses Bekenntnis und die Ent­ stehung von Religion an sich – Letzteres er­ innert leise an die Arbeiten von Jens Harder. Max Baitingers Reflexionen aus der Gegenwart und seine eigene Recherche flossen mit in den Comic ein. Dadurch ist dieser kein reines Biopic, wie es im Comic­Genre gerade so en vogue ist. Grafisch expressionistisch strotzt das Buch vor Abwechslung. Kleine figürliche Miniatu­ ren werden von flächigen Vignett en abgelöst, wie man sie aus Baitingers »Heimdall« kennt. Landschaften ziehen vorbei, Küchenstillleben, dann sind bloße Krakel über die Seiten ver­ teilt. Der Einfallsreichtum bereitet pure Freude. Kurz: große Krakel­Kunst. TOBIAS PRÜWER ▶ Max Baitinger: Sibylla. Berlin: Reprodukt 2021. 176 S., 24 € »Freundscha muss beisammen sein.« : Extrablatt Schuiten und Peeters schenken ihrem Paralleluniversum eine Zeitung N ur kurz nachdem sie mit »Der Archivar« eine neue Ebene in ihr Universum der mysteriösen Stätt en eingezogen haben, voll­ ziehen Schuiten und Peeters einen weiteren Dreh. Sie erdachten sich eine Zeitung, mit der sie Geschichten aus ihrem fantastischen Kosmos erzählen können. Das Duo steht seit Langem für die wunder­ bare Vermählung von Comic und Architektur. Sie erfinden gewagte urbane Utopien, welt­ fremde Wüstungen und versunkene Vergan­ genheiten. Mal geben sie diese halbherzig als Legenden aus, um dann zum Beispiel in der Figur des Archivars die Beweislast für deren Existenz zu erhöhen. Dazu dient nun auch das »Echo der Städte«. Wie Abdrucke von Titelblätt ern dieser Zeitung erscheinen die Seiten im Album. Man sieht Schlagzeile, inhaltlichen Aufriss und natürlich ein großes Aufmacherbild. Der Clou: Man kann die Ent­ wicklung dieses Blatt es selbst miterleben, bis es am Ende von einem fotolastigen Magazin abgelöst wird. Die Zeit der Zeichnungen sei vorbei, so das traurige Credo. Benoît Peeters kann sich in fiktiven Reporta­ gen und Nachrichten austoben. Man erfährt, dass Kapitän Nemo die Öffentlichkeit scheut. Warum es um das Universalstraßenkreuz baulich so schlecht bestellt ist, kann man nachlesen, und wie die verschwundene Expedi­ tion Marahuaca wieder an die Erdoberfläche findet. François Schuiten – von Haus aus Architekt – liefert wieder großartige Bilder. Ob das Innere der Stadtkuppel von Galato­ grad oder die Architekturen der allgemeinen Brüsselisierung und natürlich das Universal­ straßenkreuz: Fast realistisch erscheinen seine gewagten Konstruktionen, die schwindelig machen. Einmal mehr kann man sich in diese Welt hineinfallen und vom Erstaunen erfassen lassen. TOBIAS PRÜWER ▶ François Schuiten/Benoît Peeters: Echo der Städte. Aus dem Französischen von Resel Rebirsch. Hamburg: Schreiber & Leser 2021. 66 S., 22,80 € »Eine einzige Abbildung kann in der Emotion des Augenblicks ein ganzes Drama en alten.« »Wozu dann all das?« : Räuberpistole Josephine Mark lässt einen Cowboy- Banditen zur Sinnfrage fi nden S piel mir das Lied vom Tod«? Och nö, hier präsentiert der Gevatt er gleich selbst seine Melodie. Und geht damit dem Banditen namens Murr gehörig auf die Nerven, so dass er irgendwann keine Lust mehr an Mord, Tot­ schießen und »Peng, peng!« findet. Sehr zur Freude der Umblätt ernden. Aus der Pädagogik ins grafische Erzählen fand Josephine Mark. Beim Studium der Kultur­ und Medienpädagogik in Merseburg entf lammte ihre Begeisterung dafür. Nach vielen Jahren als Grafikerin und ÖA­Mitarbei­ terin für die Leipziger Kulturinstitution Moritzbastei satt elte Mark auf die Freiberuf­ lichkeit um – und legt mit ihrem Debüt eine stilechte Westernparodie vor. Was auf den ers­ ten Blick wie ein Schuss aus der Hüfte wirkt, ist gut komponiert und hübsch inszeniert. »Murr« ist ein mürrischer Cowboy, der schon als Kind in eine Pfanne blauer Bohnen gefal­ len ist. Gewann Obelix aus seinem Unfall mit dem Zaubertrankkessel Muskelkraft auf Ewigkeit, so hat Murr seit kleinauf nichts an­ deres im Sinn als Gewalt und Zerstörung. Und weil er so gewissenlos ist, überrumpelt er alle anderen und kommt immer wieder davon. Doch als sich ihm der Tod persönlich zeigt und ihm ein Liedchen spielt, ist plötzlich Schluss mit der lustigen Räuberpistole und für Murr stellt sich die Sinnfrage. Er beginnt plötzlich zu lieben und damit zu fürchten – den Verlust. Das liest sich aufgrund lustiger Dialoge fluffig weg. Besonders einnehmend fallen Josephine Marks Zeichnungen aus. Die allesamt kauzi­ gen, durch die Saloontür tretenden Eierköpfe sind mit wenigen Strichen festgehalten. Sie scheinen wie auf die Schnelle hingeworfen, aber jeder von ihnen sitzt. Oft bedarf es nicht einmal der Augen, um Mimik und Emotionen darzustellen. Da zeigt sich Souveränität im angeblich flüchtigen Kritzeln und in hinge­ wischter Aquarellcolorierung. TOBIAS PRÜWER ▶ Josephine Mark: Murr. Stutt gart: Zwerchfell 2021. 118 S., 15 € 74 www.kreuzer-leipzig.de

| KUNST : Verluste und Gewinne Ein Buch zur Filminstallation »Rekapitulieren« von Juliane Jaschnow »Die Einhaltung der Regeln des Parks garantiert einen angenehmen Aufenthalt.« S eit 1999 gibt die Ostdeutsche Sparkassen­ stiftung jährlich unter dem Titel »Signi­ fikante Signaturen« Publikationen zu jeweils einem jungen Kunstschaffenden aus Meck­ lenburg­Vorpommern, Sachsen­Anhalt, Sach­ sen und Brandenburg heraus. Die 2020er­ Ausgaben sind nun erschienen. Aus Sachsen wird die Arbeit von Juliane Jaschnow vorge­ stellt. Sie studierte an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst in der Fachklasse Expanded Cinema und Fotografie sowie künst­ lerischen Dokumentarfilm am Werkleitz­ Zentrum für Medienkunst in Halle. »Rekapitulieren« lautet der Buchtitel nach der gleichnamigen multimedialen Installation Jaschnows. In ihr stehen die Schlacht um Ber­ lin und die Erstürmung des Reichstages durch die Sowjetarmee am 30. April 1945 so­ wie die Erzählungen und Inszenierungen um dieses historische Ereignis bis in die Gegen­ wart im Mitt elpunkt. Das Buch vereint Film­ stills aus gefundenen Aufnahmen neben von Jaschnow aufgenommenen Bildern, Archivma­ terial sowie Installationsansichten. Am Beginn steht »Wir bauen einen Reichs­ tag«. Videostills zeigen den russischen Ver­ teidigungsminister vor der Errichtung einer Replik des Berliner Reichstagsgebäudes im »Park Patriot« in Kubinka, sechzig Kilometer westlich von Moskau. Den Freizeitpark betreibt das Verteidigungsministerium und inszeniert an der Berliner Kopie die Schlacht um Berlin und somit das Ende des Großen Vaterländischen Krieges mit der gehissten Roten Fahne auf dem Reichstagsdach. Die Filmstills zeigen Details von Aufnahmen. Den Abbildungen stehen die nüchternen Daten der Bildherkunft und mit­ unter Zitate aus der Tonspur zur Seite. Die Arbeiten von Jaschnow begleitet ein Text von Thomas Locher, seit 2017 Rektor an der Leipziger Kunsthochschule. Darin geht es um das Subjekt der Ideologie, das Subjekt der Post­Ideologie, Präsenz und Repräsentation – offensichtliche Stichwortgeber der Installa­ tion und ihrer Übersetzung aus der bewegten Bildfolge auf die Buchseiten. BRITT SCHLEHAHN ▶ Ostdeutsche Sparkassenstift ung (Hg.), Juliane Jaschnow: Rekapitulieren. Dresden: Sandstein 2021. 64 S., 10 € : Ein Bildhauer in der Provinz? Besuch beim Mystiker: »Barlach revisited« E ine kritische Bestandsaufnahme« präsen­ tiert Forschungen zu Leben, Werk und Rezeption von Ernst Barlach. Lauschig ist es am Heidberger Atelierhaus, in dem später der Freund Bernhard Böhmer wohnte, der NS­ Raubkunst verhökerte. Barlach hingegen, der sich gern als vergeistigter Einsiedler zeigte, legte Wert darauf, stets die Bahnstrecke Ber­ lin–Paris im Blick zu haben. Der Mystifizierte hatt e lange unter anderem in Hamburg und Berlin gelebt. Und in Güstrow wohnte er die meiste Zeit in der Stadt und eben nicht am ab­ geschiedenen See. Gefragt wird so auch nach dem Bild von Provinz, denn mit der industria­ lisierten Ex­Residenz waren Kunden, Freunde und Produktion verbunden. Ein präziser Blick auf das Private erweist: Barlachs Flucht vor den Zumutungen der Metropolen ausgerechnet nach Güstrow war familiär bedingt. Barlach hatt e sich das Sorgerecht für seinen Sohn er­ stritt en, um ihn dann seiner kranken Mutt er zu überantworten, die dorthin gezogen war; der Künstler reiste ab nach Florenz. Ein Fall von Klassismus gegenüber der Mutt er von Nikolaus, einer Dienstmagd, die er nicht unterstützte. Den Sohn schickte er, weil der den väterlichen Vorstellungen nie genügte, noch als Erwach­ senen in die Odenwaldschule. Am Selbstbild baute Barlach auch, indem er andere abwer­ tete: Er pflegte sich rassistisch über Franzosen, Dänen, Juden, Chinesen und auch Russen zu äußern. Letzteres erstaunt besonders, galt doch lange Zeit seine Russlandreise als Schlüsselereignis. Statt raunender Künstler­ »Während der wohltemperierte Dr. Jekyll-Aspekt Barlach’scher Kunst verabsolutiert (und nicht selten verkitscht) wird, scheint Barlachs abgründige Mr. Hyde- Seite weitgehend aus dem öff entlichen Bewusstsein herausgefi ltert.« huberei genau hinschauen: Sprache, Liebe, Hausbau, Inszenierung und Arbeits­ verhältnisse werden letzt­ lich zur Kunst zurückgeführt. Der Band stellt von solider wissenschaftlicher Basis aus kluge Fragen, aber ohne Entlarvungsgesten. HEIDI STECKER ▶ Paul Onasch, Karoline Lemke, Holger Helbig (Hg.): Barlach revisited. Eine kritische Bestandsaufnahme. Gött ingen: Wallstein 2021. 336 S., 29,90 € : »Der Unzeitgemäße« Der Leipziger Maler Werner Tübke in Briefen A ls »Unzeitgemäßen« bezeichnete der FAZ­Kunstkritiker Eduard Beaucamp den Leipziger Maler Werner Tübke (1929– 2004). Beaucamp gab vor fünf Jahren bei Wall­ stein Tübkes Tagebücher mit heraus. Nun liegt ein schmaler Band zu Tübke vor, in dem dessen Briefe an den Kritiker nachzulesen sind. Ihnen folgen Ausführungen von Beau­ camp über den Künstler, abgerundet durch Essays zu Tübkes späten Selbstbildnissen und eine Betrachtung zu seinen Tagebüchern. Eduard Beaucamp, geboren 1937 in Aachen, begann 1966 bei der FAZ als Kunstkritiker und berichtete in jenem Jahr über die Eröff­ nung des Alten Museums und eine Ausstel­ lung in der Ostberliner Nationalgalerie. Die zeitgenössische Kunst fand er nicht besonders spannend. Zwei Jahre später besuchte er die Leipziger Buchmesse und fand Gelegenheit, das Atelier von Tübke in der Hauptmann­ straße zu besuchen. Seitdem schrieben sie sich. Im vorliegenden Band sind 17 Briefe von Tübke an Beaucamp aus den Jahren 1972 bis 1995 abgedruckt und eine Antwort aus Frank­ furt aus dem Jahr 1995. Sie erzählen von der Arbeit, beidseitigen Bitt en um Hilfestellungen für Projekte. Beaucamp begann seit den frühen 1970er Jahren über die Leipziger Malerei zu schreiben. Wie er in den Essays immer wieder betont: »Allzu lange war uns im Westen die Evolution einer eigenständigen ostdeutschen Kunst verborgen geblieben.« Nach der Wende ver­ stand er sich als Tübkes »Leibgardist«, den er zu Lebzeiten und darüber hinaus verteidigte. So auch in seinem Text »Im Kreuzfeuer des deutschen Bilderstreits« (2017). Hierbei kritisiert er nicht nur das »west­ deutsche Kuratoren­ kartell«, das ostdeutsche Kunst zugunsten des westdeutschen Kunstka­ nons ignoriert, sondern auch den Umgang von ost­ und westdeutschen Museen mit dem eigenen Sammlungsbestand. BRITT SCHLEHAHN »Oder fehlte es am genauen und interessierten Blick?« ▶ Werner Tübke: Wer bin ich? Briefe an einen Freund. Gött ingen: Wallstein 2021. 224 S., 22 € 76 www.kreuzer-leipzig.de

| KUNST : Visuelle Soziologie Der Einführungsband zu Fotografi en von Pierre Bourdieu »Der Monobloc spiegelt die Sonnen- und Scha enseiten unserer Konsumgesellscha wider.« D er französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) nahm während seines Auf­ enthaltes in Algerien zu Beginn der 1960er Jahre 3.000 Fotos auf. Bis zu seinem Tod waren sie der Öffentlichkeit nicht zugänglich. 2003 erschien ein Sammelband mit ausgewählten Aufnahmen. Fast 1.200 befinden sich im Be­ stand von Camera Austria, sind digitalisiert und können öffentlich eingesehen werden. Nun hat ein Team der Zeppelin­Universität Friedrichshafen die Fotografien genauer in den Blick genommen. Bis 2023 erscheinen vier Bände unter besonderen von Bourdieu ent wickelten Theorien und Begriffen wie Ha­ bitat und Habitus, Geschlechterverhält­ nisse, Arbeit und Elend sowie Ungleichzeitig­ keiten. Der vorliegende Einführungsband skizziert das Projekt seitens der Wissenschaftlerinnen und des Fotografen selbst. Im Gespräch er­ klärt Bourdieu auch sein Aufnahmegerät – eine Zeiss Ikoflex. Da sich der Sucher auf dem Gehäuse befand, musste Bourdieu die Kamera nicht direkt an sein Auge führen und nahm so ganz gezielt ein Objekt unter die Lupe. Eine wichtige und nicht zu unterschätzende Geste in einem Land und zu einer Zeit, in der analoge Fotografie nicht zum Alltag gehörte. Was zeichnet die Fotografien aus? Die Auf­ nahmen zeigen den Alltag des afrikanischen Landes. Der Soziologe benutzt sie zur Erinne­ rung, Archivierung und Beschreibung der ge­ sellschaftlichen Verhältnisse in Kombination mit Interviews und Fragebögen. Gleichzeitig bilden sie die Grundlage für Bourdieus Texte und Theorien. Er sah seine Aufnah­ men als distanzierte Beobachtungen. Heute, in einer Zeit allumfassender Visualisierung, bilden die Schwarz­Weiß­Fotografien nicht nur einen wichtigen Zugang zur algerischen Gesellschaft, sondern sie zeigen uns, was der Soziologie »sah«, bzw. was ihm besonders auf­ fiel, um es auf den Rollfilmen festzuhalten. So entsteht eine visuelle Soziologie. Einen künstlerischen Anspruch verneinte Bourdieu. BRITT SCHLEHAHN ▶ Franz Schultheis, Stephan Egger ▶ Franz Schultheis, Stephan Egger (Hg.): Pierre Bourdieu und die (Hg.): Pierre Bourdieu und die Fotografi e. Visuelle Formen Fotografi e. Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion. Bielefeld: Transcript Rekonstruktion. Bielefeld: Transcript 2022. 136 S., 29 € 2022. 136 S., 29 € »Das Fotografi eren war auch, wie soll ich sagen, eine Art und Weise zu schauen.« : Fluch der Moderne Bilder und Geschichten zum Plastik- stuhl »Monobloc« E in Thron der Armut«, »ein weißer Plastik­ alptraum«, »Fluch der Moderne«, »meist­ gehasster Stuhl der Welt« – gleich zu Beginn häufen sich die Zuschreibungen auf den Plas­ tikstuhl, der seit einigen Jahrzehnten die Welt beherrscht. Hauke Wendler widmet ihm ei­ nen Dokumentarfilm und diesen Band, in dem die Reise zum Sitzmöbel von Ägypten nach Belgien, Brasilien, Deutschland, Indien, Italien, Uganda und in die USA führt. Die Erfindung von Polypropylen 1954 geriet zum Aufstieg und zur weltweiten Verbreitung des Plastikstuhls, der einfach und kostengünstig in einem Guss entsteht. Für Wendler stellt das Möbel ein Objekt dar, das »die Welt und ihre Ordnung er­ zählen und kritisch hinterfragen« lässt. Es handelt sich dabei nicht nur um das meistver­ kaufte Möbelstück aller Zeiten mit geschätzt einer Milliarde Verkaufsexemplaren, sondern wichtig ist auch: »Je mehr Menschen wir tra­ fen, deren Leben eng mit diesem Plastikstuhl verknüpft ist, umso klarer wurde, dass eine Welt ohne Monobloc heute nicht mehr vorstell­ bar ist.« Diese Menschen kommen im Buch zu Wort, beispielsweise ein Projekt von Frauen in Brasilien, die Müll sammeln und damit ihren Lebensunterhalt verdienen, denen ein kaputt er Plastikstuhl etwas ganz anderes bedeutet als einem Menschen in einer Bar an einem Urlaubsstrand. Außerdem sind im Band auch historische Werbeaufnahmen zu sehen. Anfang der 1970er Jahre waren Plastik­ möbel teuer und wurden der gehobenen Käufer­ schicht feilgeboten. Mann und Frau machten es sich damals auf Plastikstühlen am Pool oder am Rande des Tennisplatzes gemütlich. Seit den 1990er Jahren ändert sich die Stimmung empfindlich. Bern oder Basel verbannten den Monobloc aus ihren Innenstädten. Das Buch führt kurzweilig zu den unterschiedlichen Plätzen und Akteuren, die sonst kaum gehört oder gesehen werden. BRITT SCHLEHAHN ▶ Hauke Wendler: Monobloc. Berlin: Hatje Cantz 2022. 192 S., 22 € : Moderner Standard Die Verfl echtungen des Erich Dieckmann im Bauhaus und Nationalsozialismus D rei Jahre liegt der 100. Geburtstag des Bau­ hauses zurück und immer noch gelangen viele unbekannte Geschichten über die Aus­ bildungsstätt e und ihre Akteure in Weimar, Dessau und Berlin ans Tageslicht. So auch zu Erich Dieckmann, dem die Kunststiftung Sachsen­Anhalt und das Berliner Kunstge­ werbemuseum in diesem Jahr eine Einzelaus­ stellung widmen. Der dazugehörige Band mit dem Titel »Stühle! Dieckmann!« erklärt bereits den Ansatz: die Dieckmann’schen Entwürfe und Modelle aus der Vergessenheit zu reißen, um sie mit den Bauhaus­Sitzmö­ belklassikern, wie Breuers Freischwinger oder Mies van der Rohes Barcelona Chair, verglei­ chen zu können. Warum geriet Dieckmann im Gegensatz zu Breuer in Vergessenheit? Das ist eine Frage, die im Band beantwortet wird. Dieckmann ab­ solviert 1924 zeitgleich mit Breuer die Gesel­ lenprüfung am Weimarer Bauhaus. Im Haus am Horn gestaltet er das Speise­ und Herren­ zimmer. Er entwickelt an der Staatlichen Hoch­ schule für Handwerk und Baukunst Typen­ möbel. Besonderes Lob erfahren seine Möbel durch günstige Produktion und durch ihre dem Menschen entgegenkommenden Formen. Nach seiner Entlassung 1933 in Halle schrei­ ben er und seine Ehefrau Katharina Briefe an Goebbels, Himmler und später auch Hitler für eine neue Anstellung. Ab 1935 bis zu seinem Tod 1944 begleitet Dieckmann Verwaltungs­ posten mit etwas Gestaltungsspielraum ganz im Sinne der NS­Ästhetik. Der Band zeigt daher nicht nur seine Möbel und Entwürfe, sondern die Verflechtungen mit dem Natio­ nalsozialismus. Ein wichtiges Buch, um Neues über das Bauhaus zu entdecken. BRITT SCHLEHAHN ▶ Kunststift ung Sachsen-Anhalt/Kunstgewerbemuseum Staatliche Museen zu Berlin (Hg.): Stühle! Dieckmann! Der vergessene Bauhäusler Erich Dieckmann. Halle: Mitt eldeutscher Verlag 2022. 208 S., 30 € »Sind die besten Dessauer Möbel für den Zukun s- menschen bestimmt, so sind die Weimarer Stühle und Sessel Gebrauchsmöbel für den Gegenwartsmenschen, in dem noch, wenn auch verschämt, eine gewisse bürgerliche Neigung zum Intimen weiterlebt.« 78 www.kreuzer-leipzig.de

| KINDER : Warum Kinderbücher lesen? Gute Kinderbücher sind einfach gute Bücher. Ein Plädoyer ähnlichen Zeit lebte, leichteren Herzens auf­ schlagen. Dabei ist auch sie eine Klassikerin der Literaturgeschichte. Jeden Monat lese ich neue Kinderbücher, blättere mich durch fremde und vertraute Uni­ versen, finde komische Formulierungen und unglaubliche Gestalten. Und je länger ich das tue, desto weiter öffnet sich meine Welt. Bücher für junge Leser sind nicht die Vorstufe zur »richtigen« Literatur, wie auch immer die dann aussehen soll. Nein, sie sind ein eigen­ ständiges Genre für Lesende jeden Alters. Wie jede gute Literatur legen sie die Finger in Wunden, begleiten und machen Mut. Es soll vorgekommen sein, dass ein Erwachsener abends am Kinderbett nach dem nächsten Buch gegriffen und unter dem Vorwand, dass das Kind noch nicht schlafen könne, weitergelesen hat. Und natürlich auch weiter betrachtet, ist doch eine große und viel zu häufig unter­ schätzte Kunst das, was abseits der Worte in vielen Kinderbüchern geschieht. Ob mit dickem Strich oder mit dünnem, mit Wasser­ farben oder Bleistift: Illustratoren und Illu­ stratorinnen verwenden eine unglaubliche Sorgfalt darauf, Klein und Groß wie Harry Potter in die Seiten ihrer Werke stürzen zu lassen. Warum also Kinderbücher lesen? Die einzige sinnvolle Antwort auf diese Frage ist eine Gegenfrage: Warum nicht? Und warum nicht jetzt gleich damit anfangen? JOSEF BRAUN M it Kinderbüchern scheint es so ähnlich zu sein wie mit den Kindern selbst: Sie werden von den Erwachsenen nicht ernst genug genommen. Wir sagen, etwas ist kindisch und meinen, es ist verrückt, nicht umsetzbar, eine Tagträumerei. Wir sagen: Werde erwach­ sen oder: Benimm dich nicht wie ein Kind. Glücklicherweise gibt es jedoch auch unter den großen Leuten eine ganze Menge ver­ nünftiger Menschen, die nicht vergessen haben, wie es ist, klein zu sein. Im besten Fall schrei­ ben sie sogar Kinderbücher, die andere illust­ rieren und wieder andere mit großer Sorgfalt verlegen und in Buchläden und Bibliotheken bringen. Wer jemals die Briefe gesehen hat, die Kin­ der an ihre literarischen Heldinnen schreiben, der weiß, wie genau sie lesen, wie spezifisch ihre Fragen an eine Geschichte sein können. Gute Kinderbuchautoren würden deshalb auch niemals auf die Idee kommen, ihr Publi­ kum zu unterschätzen, nur weil es noch bei den Eltern wohnt und manchmal Dinge durch die Gegend schmeißt. Gerade in Leipzig, wo der Verleger Otto Spamer im 19. Jahrhundert unzählige Kinder­ bücher in die ganze Welt vertrieb, lässt sich erfahren, wie sehr sich das Genre über die Jahr­ hunderte weiterentwickelt hat. Längst wollen Kinderbücher nicht mehr bloß erziehen, sie wollen auf dem Kopf stehen, den Globus um­ herwirbeln, Chaos anrichten oder Trost spenden. Sie sind vielfältiger geworden in ihren Themen und mit jedem Jahr auch ein Stück diverser. Sie reagieren auf aktuelle Herausfor­ derungen und finden oft dort noch die rich­ tigen Worte, wo wir uns als Erwachsene längst schwertun. Oder wie würden Sie die Klima­ krise erklären? Wie eine Pandemie oder den Tod? Glücklicherweise gibt es Dutzende Kin­ derbücher, die genau das tun. Und Dutzende andere, die keinen solchen Zweck verfolgen. Die Auswahl ist riesig, vielleicht größer, als sie je war. Und das Erstaunliche dabei ist, dass vieles von dem, was erscheint, wirklich einen Blick lohnt. Vor allem wenn man abseits der großen Verlage sucht, wenn man sich den Unabhängigen zuwendet, den Familienbetrie­ ben. Allerdings gilt natürlich auch in diesem Fall: Ein gutes Buch ist ein gutes Buch, egal wo es erscheint. Nur: Wie erkennt man es? Nun, das ist ganz einfach. Man schlägt es auf und noch bevor man zu lesen beginnt, schaut man sich die Illustrationen an. Was wird da gezeigt? Wie schön ist das? Gefällt es mir? Berührt es mich? Solche Fragen sind ernsthaft und ergeben mitunter mehr Sinn, als Bücher aufgrund ihrer scheinbaren Bedeutsamkeit auszuwählen. Grass oder Böll mögen bemerkenswerte Schriftsteller sein, doch die meisten würden wohl bis heute Astrid Lindgren, die zu einer H C A L D N U G E N A T S R H C I I : O T O F 80 www.kreuzer-leipzig.de

| KINDER »Und wenn der Erwachsene kein Doofi ist, dann versteht er das auch.« : Nein sagen »Das komische Gefühl« ermutigt Kinder dazu M anchmal hat man so ein ungutes Gefühl im Bauch. Es lässt sich schwer beschrei­ ben, vielleicht noch schwerer, wenn man ein Kind ist und die Worte sowieso nicht ganz so leicht kommen. Das ungute Gefühl ist der Protagonist im neuen Kinderbuch des Duos Hans­Christian Schmidt und Andreas Német, die sich mit ihren Arbeiten häufig auch poli­ tisch einmischen. So widmete sich ihre letzte Kooperation der Situation geflüchteter Men­ schen. In »Das komische Gefühl« schildern sie Alltagssituationen, die sich schön anfühlen können oder bedrohlich. »Immer will Mamas Schwester knuddeln und küssen, wenn sie zu Besuch kommt. Mit dickem Kussmund nä­ hert sie sich und presst dich mit ihren Armen an ihren Busen.« Auf so eine Szene präsentiert der Text zwei Möglichkeiten. In diesem Fall lautet die eine: »Gefällt es dir, weil sie so wunderbar duftet? Dann breite die Arme aus und lass dich herzen!« Die andere wird zwar variiert, läuft aber im­ mer darauf hinaus, dass, wenn dem jungen Lesenden die Situation nicht gefällt, er schnell weiterblätt ern soll zur gelben Seite. Wie das Gefühl zieht sich diese gelbe Seite durch den Text. Beide warnen dort, wo eine Grenze über­ schritt en wird, ein Kind sich unwohl fühlt, ob nach dem Training in der Umkleidekabine oder auf einer Parkbank neben einer fremden Frau, doch während das Gefühl unbestimmt bleibt, ist die Botschaft auf der gelben Seite sehr deutlich zu lesen. Sie lautet: »Nein! Ich will das nicht. Hör auf! Lass sein!« Hans­Christian Schmidt hat für sein Kinder­ buch mit der Fachstelle zur Prävention sexua­ lisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche »Shukura« zusammengearbeitet. Wieder gelingt es ihm und Illustrator Andreas Német, ein Buch zu gestalten, das Kinder als eigen­ ständige politische Akteure ernst nimmt, ohne sie als neugierige Lesende aus dem Blick zu verlieren. JOSEF BRAUN ▶ Hans-Christian Schmidt (Text), Andreas Német (Illustration): : Oft übersehen »Fleißige Helferchen« widmet sich Ameisen und Schnecken E s gibt Tiere, die sind besonders süß, kleine Kaninchen zum Beispiel, oder Katzen. Entsprechend bekommen sie ihre eigenen Buchreihen, erleben wilde Abenteuer oder werden zu »Ameisen haben keine Kuscheltieren, die die Ohren.« Kinder abends mit ins Bett nehmen. Dann gibt es da noch die Tiere, die die meisten Menschen eher abstoßen, wie Schnecken mit ihrer glitzernden Schleimspur oder Ameisen auf ihren vielen winzigen Beinchen – für sie macht sich Autorin Susie Williams in ihrer neuen Kinderbuchreihe stark. So erfahren die Lesenden in »Schnecken«, wie unterschiedlich lang diese sein können. Au­ ßerdem werden sie eingeführt in die Geheim­ nisse der Schleimspur, die für die Schnecken überlebenswichtig ist, Autobahn und Klett er­ seil in einem. Williams erzählt in schlichter Sprache, ihre Bände sind Sachbücher für ein junges Publikum. Entsprechend langsam wird das Wissen um den jeweiligen Gegenstand aufgebaut und von Illustratorin Hannah Tolson mit Bildern untersetzt. Die sind eben­ falls eher schlicht gehalten, zeigen mal die Tiere in ihrer gewohnten Umgebung, dann wieder eine Nahaufnahme wie aus dem Anato­ miebuch. Die Reihe »Fleißige Helferchen« konzentriert sich auf das Wesentliche, ohne besonders interessante Fakten auszusparen. Wie etwa die Tatsache, dass die Ameise zwei Mägen hat, einen für sich und einen, in dem sie das Essen für ihre Kolonie aufbewahrt. Oder dass die Schnecke vier Fühler besitzt und ziemlich schlechte Augen. Jedes der Bücher enthält am Ende ein Glossar sowie Tipps für Neugierige, die die beschriebenen Tierarten in der Natur beobachten möchten. Mit Schne­ cken und Ameisen haben Susie Williams und Hannah Tolson angefangen, mehr Bände sollen folgen. Im Erdreich haben viele die Aufmerksamkeit verdient. JOSEF BRAUN ▶ Susie Williams (Text), Hannah Tolson (Illustration): Ameisen. Fleißige Helferchen. Aus dem Englischen von Anne Vogel- Ropers. Berlin: Laurence King 2022. 32 S., 12,90 €, ab 6 J. Das komische Gefü hl. Leipzig: Klett Kinderbuch 2022. 40 S., ▶ Susie Williams (Text), Hannah Tolson (Illustration): Schnecken. »Ich glaube, sechs bleib ich.« : Weltfl ucht Klassiker: Kinder- gedichte von A.A. Milne A .A. Milne bekleidete in seinem Leben ver­ schiedene Posten. Nach seinem Studium in Cambridge arbeitete er für ein Magazin, diente dann im Ersten Weltkrieg als Soldat und später im Zweiten als Home Guard, außerdem schrieb er Stücke, Essays und Romane. Dass sein Name heute noch bekannt ist, hat jedoch mit keiner dieser Stationen zu tun, sondern mit der Geburt seines Sohnes Christopher Ro­ bin Milne im Jahr 1920. In dem sehenswerten Biopic »Goodbye Christopher Robin« erhält der Zuschauer eine Ahnung vom Verhältnis der beiden. Während die Mutt er mit psychischen Problemen zu kämpfen hatt e und sich häufig in London auf­ hielt, verbrachten Vater und Sohn die meiste Zeit im Landhaus der Milnes. Dort beobachtete A.A. Milne Christopher Robin und begann Gedichte über ihn und seine Freunde zu schreiben. Diese Gedichte, in denen zum ers­ ten Mal auch Milnes berühmteste Schöpfung Pu der Bär auftaucht, erscheinen in Deutsch­ land jetzt als Vorleseausgabe im Großformat beim Atrium­Verlag. »Ich und Du, der Bär heißt Pu« lebt von einer überbordenden Fantasie, die mit jedem Ge­ dicht in eine neue Richtung schießt. Mal geht es im Stil einer Ballade um einen König, dann um ein Spiel, einen besonderen Platz, einen kleinen Jungen namens John oder ein Mädchen, das es satt hat, artig zu sein. Milnes Sprach­ spiele überzeugen auch in der Übersetzung von Christa Schuenke. Wie er sich in die kind­ liche Erfahrungswelt hineinversetzt, hat bis heute nichts von seinem Zauber eingebüßt. Fast schöner noch als die Texte sind jedoch die Originalillustrationen von Ernest H. Shepard, einem Freund Milnes, der dessen Figuren auf kongeniale Weise Gestalt verlieh. Man kann sich nicht satt sehen an diesem Buch, das damals wie heute Trost verspricht und Aus­ flucht in eine Welt, die wunderbar in Ord­ nung scheint. JOSEF BRAUN ▶ A.A. Milne (Text), Ernest H. Shepard (Illustration): 15 €, ab 4 J. Fleißige Helferchen. Aus dem Englischen von Anne Vogel- Ich und Du, der Bär heißt Pu. Gedichte. Hamburg: Ropers. Berlin: Laurence King 2022. 32 S., 12,90 €, ab 6 J. Atrium 2022. 176 S., 15 €, ab 5 J. ANZEIGE Leipziger Buchmesse 2022 / Halle 2 - Stand G 106 Freundeskreis Buchkinder e.V. - endlich mit neuem Vornamen z t i i i w e n n o C g z p e L : i t fi f a r G 82 Eichhörnchen haftet ein koboldartiger Zauber an und als magische Zwischenwesen tollen sie seit alters her auch durch literarische Werke. Der Teufel ist ein Eichhörnchen. Es ist aber auch der Schatzhauser im Tannenwald oder der Kurier rätselhafter Botschaften. Den Eichhörnchen gleich sind die Buchkinder in ihren Geschichten oft die Zwischenwesen, hin zur Welt der Erwachsenen. Illustration aus “Ein Eichörnchen sitzt in Pegau“ (Buchkinderprojekt im Evangelischen Kindergarten Großdalzig) Dies zeigen wir mit unserem Messeschwerpunkt, den Kindergarten Geschichten unserer „Schrifteroberer“. In bisher 14 Kitas in und um Leipzig entstanden in den letzten sieben Jahren über 100 Einzel- und Gruppenbücher. Aber auch eine feine Auswahl Bücher der älteren Buchkinder ist am Stand der neuen Eichhorn AG zu sehen. www.kreuzer-leipzig.de Kinder brauchen Bücher – Kinder machen Bücher / Kommt vorbei, wir freuen uns auf Euch! www.buki-leipzig.de

| KINDER : Kinderstimmen Ergreifend: »Manchmal male ich ein Haus für uns« »Wir spüren, dass man uns eigentlich nicht haben möchte. Ich fi nde das unfair. Wir sind nicht freiwillig Flüchtlinge. Ich möchte kein Flüchtling sein.« D ie Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos sind vielleicht die größte Schande, die Europa sich in den letzten Jahr­ zehnten aufgebürdet hat. Auf engstem Raum und unter katastrophalen hygienischen Be­ dingungen lebten die Menschen in Moria, ehe das Lager im September 2020 abbrannte. Da­ nach irrten viele Geflüchtete durch die Straßen von Lesbos und warteten, zusammengedrängt von der Polizei, auf die Eröffnung eines neuen Lagers. Karatepe heißt das Lager, in dem die meisten Menschen aus Moria inzwischen un­ tergekommen sind, die Lebensbedingungen haben sich für sie dort kaum verbessert. Alea Horst fotografierte lange Hochzeiten in Deutschland, ehe sie eines Tages entschied, nach Lesbos zu fahren, um zu helfen. Seitdem engagiert sie sich für Geflüchtete weltweit und legt jetzt mit »Manchmal male ich ein Haus für uns« ihr erstes Kinderbuch vor. Dafür hat sie verschiedene Kinder in Moria und später in Karatepe fotografiert und sie nach ihren Träumen, Wünschen und Ängsten befragt. Viele der Kinder werden von den Erfahrungen, die sie auf der Flucht gemacht haben, verfolgt. Der zehnjährige Tajala erzählt: »Oft träume ich, dass wir ertrinken. Wir sind dann alle unter Wasser und gehen unter.« Und der acht Jahre alte Qutbuddin sagt mit herzzerreißender Offenheit: »Nachts möchte ich nicht alleine schlafen, weil ich jemanden umarmen muss, wenn ich Albträume habe.« Andere Kinder berichten von ihrem Alltag im Lager. Sie wünschen sich Unterricht, ein festes Dach über dem Kopf, besseres Essen, manche der Jungen träumen davon, Fußball­ spieler zu werden, um ihrer Familie ein besse­ res Leben zu ermöglichen. Viele haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Auf den in­ timen Bildern von Alea Horst lächeln einige, andere blicken trau­ rig oder verbergen das Gesicht in den Armen. »Manchmal male ich ein Haus für uns« ist kein typisches Kinder­ buch, Erwachsene sollten sich auf viele Fragen einstellen, wenn sie es gemeinsam mit ihren Jüngsten lesen. Doch die Lektüre ist wichtig, weil sie denen eine Stimme gibt, die permanent überhört werden. Dem Klett ­Verlag kann man es hoch anrechnen, dass er solche Bücher verlegt und mit so viel Liebe zum Detail gestaltet. JOSEF BRAUN ▶ Alea Horst (Text/Fotos), Mehrdad Zaeri (Illustration): Manchmal male ich ein Haus fü r uns. Europas vergessene Kinder. Leipzig: Klett Kinderbuch 2022. 80 S., 16 €, ab 8 J. : Fußballgott im Garten Tolle Lektüre: »Der Himmel über dem Platz« von Martina Wildner »War der Schiedsrichter eine Frau?« J o hat einen Traum. Statt wie ihre Schwester Katarina Ballerina möchte sie Fußballerin werden. So gut wie Dzsenifer Marozsán oder noch besser, so genial wie Cristiano Ronaldo, dessen Poster über ihrem Bett hängt. Doch um in die Nationalmannschaft zu kommen, reicht es nicht, in der örtlichen Mädchenmann­ schaft zu spielen. Also meldet ihr Vater Jo bei Blau­Weiß an, einem reinen Jungsteam. Von jetzt an muss sie sich allein in der Schieds­ richterkabine umziehen und auf dem Platz fängt sie sich mehr als einen blöden Spruch da­ rüber ein, dass sie bei den Männern nichts verloren hat. In rasantem Tempo und äußerst lebendig erzählt Martina Wildner in ihrem Roman von einer Protagonistin, die sich durchbeißen muss: zu Hause bei den geschiedenen Eltern, gegen­ über der Schwester, aber vor allem auf dem Rasen, wo Mädchen ihr Talent schnell streitig gemacht wird. Dabei gelingt es der Autorin, die verschiedenen Themen, die der Fußball als Gesellschaftsphänomen berührt, in ihre Ge­ schichte einzuweben. Überehrgeizige Väter, Rassismus im Verein, Jungen, die lieber tanzen würden, als gegen den Ball zu treten, soziale Unterschiede im Team. Das Spektrum ist weit, Wildners Kunst ist es, ihre Protagonistin darüber nie aus den Augen zu verlieren. Die Lesenden sehen die kleine Berliner Fuß­ ballwelt durchgängig aus der Perspektive von Jo. Sie erleben ihren Vater, hören ihre Freundin Bett y, die mit Fußball nichts am Hut hat, und treffen den Kubitschek, einen Nachbarn, der gött licher ist, als man das bei der ersten Begegnung vermuten würde. Außerdem leiden sie mit Jo mit, wenn ihr ärgster Feind Niclas ihr deutlich zu ver­ stehen gibt, dass sie in seiner Nähe nichts verloren hat. »Der Himmel über dem Platz« ist ein Buch so rund wie der Ball, von dem es berichtet. JOSEF BRAUN ▶ Martina Wildner: Der Himmel über dem Platz. Weinheim: Beltz und Gelberg 2022. 218 S., 13,95 €, ab 11 J. »Eines Tages kann der Zug zurück- kommen.« T im ist ein kleiner Junge, das erste Bild zeigt ihn in grüner Jacke und mit Hals­ tuch auf einem Bahn­ hof. »Die Stadt ist neu für ihn. Er ist vor Kurzem hergezogen. Tim wohnt hier mit seiner Mama«. Am Bahnsteig wartet er auf seinen Vater, der bald aus dem Zug steigt, den Jungen in die Luft hebt. Was folgt, ist ein Tag ganz nach den Wünschen des Sohnes. Gemeinsames Bratwurstessen in der Einkaufszone, ein Be­ such im Kino, Pizza und gemeinsames Lesen in der Bibliothek. Jedem, der es hören möchte : Besuch von Papa Scheidungsgeschichte: Bo R. Holmbergs »Der Tag mit Papa« und auch allen anderen, erzählt Tim von seinem Vater. »Papa will zahlen!«, ruft er im Restau­ rant. Dem Kartenabreißer vor dem Kinosaal erklärt er: »Papa und ich, wir gucken den Film zusammen an.« In kindgerechter Sprache versteht es Autor Bo R. Holmberg, die ganze Unsicherheit, Freude und Traurigkeit einzufangen, die ihre Protagonisten während ihres gemeinsamen Tages erleben. Die Bilder der vielfach ausge­ zeichneten schwedischen Illustratorin Eva Eriksson tun ihr Übriges. Vor gedeckten, meist grauen Hintergründen setzt sie gezielt Farb­ akzente, fängt Gesichter und Stimmungen mit wenigen Strichen ein. Viele Kinderbücher erzählen inzwischen von den unterschiedlichsten Familienmodellen, Patchwork hat genauso seinen Einzug gefunden wie gleichgeschlechtliche Elternpaare oder Wahlfamilien. Im Zentrum von »Der Tag mit Papa« steht dagegen eine zerbrochene Fami­ lie. So schön das gemeinsame Treffen auch ist, immer schwingt mit, dass der Vater nur Besucher ist, dass er abends nicht am Bett des Sohnes sitzen wird. Was bleibt, sind schöne Erinnerungen und die Hoffnungen auf einen neuen gemeinsamen Tag. JOSEF BRAUN ▶ Bo R. Holmberg (Text), Eva Eriksson (Illustration): Der Tag mit Papa. Aus dem Schwedischen von Birgitt a Kicherer. Frankfurt a. M.: Moritz 2022. 32 S., 12,95 €, ab 4 J. 84 www.kreuzer-leipzig.de

| VERANSTALTUNGSTIPPS Vernstltunstpps D er gewohnte :logbuch­Veranstaltungsplan mit der Auswahl der 1.000 interessantes­ ten Veranstaltungen der Leipziger Buchmesse samt des Leipzig­liest­Lesefests fehlt leider auch in dieser Ausgabe. Der Grund dafür ist: … ein Déjà­vu? Am Tag des Druckschlusses wurde die Messe also doch wieder abgesagt – mitsamt des Lesefests. Ein großes Frage­ zeichen hängt in der Luft: ob und in welcher Form einzelne Veranstaltungen doch statt ­ finden (können). Auf den folgenden Seiten stel­ len wir Tipps vor, deren Chancen auf Realisie­ rung nach interner kreuzer­Wahrscheinlich keits­ rechnung ziemlich gut stehen. Geplant sind sie, alles andere wird sich zeigen. Wir halten Sie aber auf dem Laufenden auf www.kreuzer­leipzig.de. Preise: eins plus drei Seit 1994 wird alljährlich der Leipziger Buch­ preis zur Europäischen Verständigung ver­ liehen – in diesem Jahr dem österreichischen Schriftsteller Karl­Markus Gauß für sein Buch »Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen«. Die Verleihung findet – normalerweise – zur Eröffnung der Messe am Mitt wochabend im Gewandhaus statt . Die Laudatio hält die öster­ reichische Germanistin, Literaturkritikerin und Essayistin Daniela Strigl. Weitere Lesungen mit dem Autor sind geplant. Der Preis der Leipziger Buchmesse sollte dieses Mal wieder am Eröffnungstag in der Glashalle auf dem Messe gelände verliehen und live ge­ streamt werden. Aus 441 eingereichten Wer­ ken von 169 Verlagen werden die besten in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essay­ istik und Übersetzung geehrt. FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH #verlagegegenrechts Nach den ärgerlichen Verläufen in Frankfurt geht das Bündnis #verlagegegenrechts nun in die Diskussionsoffensive. Ein ermutigendes Signal kam auch von der Leipziger Buchmesse, die dafür eine Platt form geplant hat: »Forum Offene Gesellschaft«. Die Themen der Messe­ Panels stehen schon fest, mehr aber noch nicht: »Zielscheibe Kulturbetrieb: Rechte Angriffe« mit Deniz Yücel und Peter Laudenbach, »Un­ abhängiger Büchermarkt als Kulturprojekt« mit Britt a Jürgs (AvivA­Verlag), Anne König (Spector Books), Else Laudan (Argument Verlag + Ari­ adne) und Kristine Listau (Verbrecher Verlag) sowie »Antiroma ismus« mit Sonja Kosche, Marian Luca und Petra Sejdi. Weitere The­ men sind: »Langzeitfolgen der Pandemie für die Literaturbranche«, »Kurdische Kultur als Zielscheibe«, »Die verdrängte Gefahr der NSU­ Morde«, »LGBT­Rechte in Polen« und »Der zähe Kampf für Klimagerechtigkeit«. Zudem ist im Interim des Linxxnet eine Diskussion mit Ute Adamczewski, Heike Kleffner und Robert D. Meyer über »Darstellung rechter Strömungen« geplant. ▶ verlagegegenrechts.com #VERLAGE GEGEN RECHTS »Die unerwartete Begegnung des Verschiedenartigen« Unter diesem Mott o präsentiert sich das Gast­ land Portugal. Der um ein Jahr verschobene Gastauftritt verspricht Begegnungen mit mehr als 30 Autorinnen sowie rund 50 Neuerschei­ nungen, die in diesem und letzten Jahr auf den deutschsprachigen Markt gekommen sind oder noch kommen werden. Veranstaltungen mit portugiesischsprachigen Autorinnen nicht nur aus Portugal sind u. a. im Haus des B uches, der Nato, der Galerie KUB oder der Schaubühne Lindenfels geplant. Zudem wird im Rahmen des Gastauftritt es der Deutsch­Portugiesische Journalismus­ Preis verliehen, mit dem herausragende Artikel in deutschen und portugiesischen Medien ausgezeichnet werden, die klischeefrei und dif­ ferenziert über Kultur, Gesellschaft, Wirt­ schaft und Politik des jeweils anderen Landes berichten. ▶ www.camoesberlim.de FOTO: MARCO RIEBLER 86 www.keuze-leipzig.de

| VERANSTALTUNGSTIPPS Lyrikbuchhandlung Die mittlerweile zu einer Institution etablierte dreitägige Lyrik­Marathonlesung findet in diesem Jahr in gekürzter Form an zwei Abenden mit insgesamt 35 Autorinnen und Übersetze­ r innen statt. Mit dieser seit 2012 auf der Leip­ ziger Buchmesse bestehenden Initiative, die aus dem Hochroth­Verlagskollektiv entstand, werden Verlage unterstützt, die mindestens 50 Prozent Lyrik im Programm führen und vor allem zeitgenössische Autorinnen publizieren. Zu erleben sind in diesem Jahr unter anderem Katrin Pitz, Kerstin Becker (im Foto), Marga­ rida Vale de Gato, Jitka Bret Srbová, Ricarda Kiel, Yevgeniy Breyger oder Ulf Stolterfoht. ▶ 17./18.3., ab 19.30 Uhr, Tapetenwerk/Rubikon oder digital FOTO: NANE DIEHL Institutsprosa Neun Alumni des Deutschen Literaturinstituts Leipzig lesen aus ihren gerade erschienenen Romanen, moderiert von der pausierenden kreuzer­Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz: unter anderem die Leipzigerin Bettina Wilpert, die nach ihrem Erfolgs roman »Nichts, was uns passiert« nun ihren zweiten vorgelegt hat – »Herumtreiberinnen«. Der Druck beim zweiten Buch sei groß gewesen, hat sie im :logbuch­Interview (S. 36) erzählt. Mit ihr zu­ sammen lesen zum Beispiel Kaśka Bryla, Sascha Macht oder Domenico Müllensiefen (Rezensionen auf S. 48 und 58). ▶ 18.3., 19 Uhr, Deutsches Literaturinstitut FOTO: YONI LEVY Wayétu Moore: »Sie wäre König« Akono ist ein junger, unabhängiger Verlag aus Leipzig, der zeitgenössische Prosa und Lyrik aus afrikanischen Ländern und der Diaspora publiziert. Verlegerin Jona Elisa Krützfeld lädt zu einem Abend mit dem Übersetzer Thomas Brückner und der liberianisch­amerikanischen Autorin Wayétu Moore ein. Die Autorin wird im Video­Interview zugeschaltet. ▶ 18.3., 19.30 Uhr, Buchhandlung Seitenblick FOTO: DIRK SKIBA »Musik gegen jeden Anlass« Die Vorpremiere zur Autobiografie der Maria König Kapelle verspricht 75 Minuten voll humorvoller Geschichten rund um die Maria König Kapelle, Leipzig und die Subkultur­ szene zwischen Mauerfall und Millennium. Dazu wird im Duo das Beste und zu Recht Vergessenes aus Schlager, Glamour und Acht ziger­Trash gegeben. Eine musikalische Lesung mit Maria König & Gunter Schwarz. ▶ 17.3., 20 Uhr, Ilses Erika FOTO: PETER VON FELBERT / PIPER VERLAG FOTO: WILLEMIEKE KARS / PIPER VERLAG »Richtung Trieste und anderswohin« Der deutsch­tschechische Autor Jaroslav Rudiš und die Leipziger Illustratorin Halina Kirsch­ ner haben gemeinsam ein kleines Geschenkbuch gezaubert: »Trieste Centrale«. Darin begibt sich Herr Winterberg auf eine weitere Reise, und zwar in die einst habsburgische Hafenstadt. Mit der »Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen« in der Tasche führt der Abend bis nach »Trieste Centrale«. Für alle Liebhaberinnen von Winter­ berg, Bahnfahren und natürlich Triest: mit Jaroslav Rudiš, Halina Kirschner und dem kreuzerbooks­Verleger Egbert Pietsch. ▶ 16.3., 21 Uhr, Schaubühne Lindenfels Neues aus den Niederlanden und Flandern An zwei Abenden können Sie neue Bücher von Gerda Blees (»Wir sind das Licht«), Tobi Lak­ maker (im Foto, »Die Geschichte meiner Sexua­ lität«) und Sulaiman Addonia (»Schweigen ist meine Muttersprache«) kennen lernen sowie – am zweiten Abend – von Mathijs Deen (»Der Holländer«), Johann de Boose (»Das Fluchholz) und noch einmal Gerda Blees mit ihrem De­ bütroman über die Geschichte einer stillen Ra­ dikalisierung. ▶ 18.3., 20 Uhr, Alte Nikolaischule ▶ 19.3., 20 Uhr, Haus des Buches 88 www.keuze-leipzig.de

| LETZTE SEITE F O T O : A N T J E B E R G H Ä U S E R Kann sich ihr Leben ohne Schreiben nicht vorstellen: Terézia Mora : Auf ein Wort mit … Terézia Mora Die preisgekrönte Schriftstellerin (u.a. Büchnerpreisträgerin) Terézia Mora wuchs zweisprachig in Ungarn auf – ihre Arbeit prägt es bis heute. Denn Mora ist auch eine der renommiertesten Übersetzerinnen aus dem Ungarischen :logbuch: Terézia Mora, was war zuerst da, das Übersetzen oder das eigene Schreiben? TERÉZIA MORA: Als Zweisprachige lebt man ja permanent in der Übersetzung und auch im Studium haben wir uns viel mit Übersetzungs­ fragen beschäftigt. Das professionelle Über­ setzen begann aber, nachdem mein erstes Buch »Seltsame Materie« erschien und die ungari­ schen Verlage und Multiplikatoren auf mich aufmerksam wurden. So kam ich zu den Minutennovellen von István Örkény und auch zu »Harmonia caelestis« von Péter Esterházy. :logbuch: Ihre Zeit nicht zu vergeuden, bedeutet für Sie, lernte ich zuletzt in Ihrem Arbeits- und Tagebuch »Fleckenverlauf«, an Ihren Texten zu arbeiten. Gehört das Übersetzen auch in diese Kategorie? MORA: Nein, das Übersetzen selbst nicht. Ich kann mir ja aussuchen, wann ich wie viel über­ setze. Nervend wird es in der Korrekturphase. Deutsche Verlage sind da äußerst gründlich, und wenn man dann ein langes, langes Buch schon das siebente Mal auf Komma­ und Druckfehler durchforstet, und noch dazu mit enger Deadline, dann leidet die Zeit fürs eigene Schreiben schon darunter. Dann bereue ich es jedes Mal, es überhaupt angefangen zu haben. :logbuch: Péter Esterházy, den Sie ins Deutsche übertragen haben, bezeichnen Sie als die Mess- latte des eigenen Schreibens. In welcher Beziehung stehen Ihr Schreiben und Ihr Über- setzen zueinander? MORA: Schreiben ist schwer, Übersetzen im Vergleich sehr viel leichter. Andererseits wird Schreiben auch mehr anerkannt als Überset­ zen, nicht wahr? Es würde mir etwas fehlen, würde ich nicht auch übersetzen, aber eine Existenz ohne Schreiben könnte ich mir über­ haupt nicht vorstellen. Man lernt durch das Übersetzen auch sehr viel übers Schreiben – auch wenn man die Methoden anderer Autoren nie selbst anwenden kann. Aber sie können einem helfen zu erkennen, welcher Weg für einen selbst möglich ist. :logbuch: »Übersetzen weckt und befriedigt Neugier und ist unterhaltsam«, heißt es an einer Stelle und an einer anderen: »Der beste Satz ist der unübersetzbarste, weil es für ihn auch in der Ausgangssprache keine Alternative gibt.« Wie gehen Sie in solchen Fällen vor? Bleibt es unterhaltsam? MORA: Oh, ja. Auch die Unmöglichkeit kann einen erfreuen. Dass jede Sprache etwas hat, was keine andere haben kann. Individuelle Schätze. Dinge, die du nur mit den anderen Sprechern dieser Sprache teilen kannst. :logbuch: Dass Sie mit Ungarn hadern, ist bekannt. Ungarn sei die Quelle Ihrer Angst, Sie hätten die Ungarn bereits aufgegeben. Zum Glück aber nicht die Literatur: Ihre neue Über- setzung, der 950-seitige Roman »Omertà« von Andrea Tompa, erscheint demnächst. Was muss Sie überzeugen, damit Sie einen Überset- zungsauftrag annehmen? MORA: Ausschließlich die literarische Quali­ tät. Als man »Omertà« mir gegenüber das erste Mal erwähnte (fälschlicherweise behauptend, es handelte sich nur um 600 Seiten), sagte ich gleich nein. Dann las ich darin und war dieje­ nige, die es unbedingt machen wollte. Ich war die engagierteste Probeübersetzungsmache­ rin, die man sich vorstellen kann. :logbuch: Wie ist für Sie, wenn Ihre Bücher in andere Sprachen übersetzt werden? Mit den Übersetzungen ins Ungarische lief es auch nicht immer ganz unproblematisch … MORA: Ich habe immer versucht, meinen Übersetzerinnen nicht auf die Nerven zu gehen. Schließlich ist das übersetzte Buch auch ein Werk der Übersetzerin. Aber natürlich mochte ich es nicht, wenn es bei Einsprüchen hieß, ich könnte vielleicht nicht gut genug Ungarisch, um mich über Nuancen austauschen zu können. Doch, das kann ich. Es ist zum Beispiel überhaupt nicht gesagt, dass das Ungarisch, das in Budapest gesprochen wird, das einzig mögliche Ungarisch ist etc. Aber das mache ich auch im Deutschen. Sprache ist etwas Leben­ diges, gestaltet von jedem einzelnen Sprecher. Die Sprache ist flexibel, sie verdient, dass wir es auch sind. :logbuch: In »Fleckenverlauf« haben Sie angekündigt, Ihre nächste Trilogie stehe schon fest … Was wären die idealen Umstände fürs Schreiben? MORA: Die Lösung wäre ganz einfach: keine Bürokratie und keine Hausarbeit. Und schon wäre ich glücklich, einfach, weil genug Zeit übrig bliebe, um sich dem Wesentlichen zu widmen. Was Eltern meistens fehlt, ist: Zeit für sich und um das machen zu können, worin sie gut sind, was sie der Welt noch geben können, außer unbezahlte Care­Arbeit, Organisation und Geld machen. Als mein Kind klein war, habe ich acht bis zwölf Stunden am Tag mit diesen Dingen verbracht und nur ein bis vier mit Schreiben, und Letz­ teres auch nur deswegen, weil ich einfach nicht nachgegeben habe. Und wenn es vierzig Minuten sind, und wenn dabei nichts Brauch­ bares entsteht: Einfach nicht aufgeben, das ist der Trick, und das kostet am meisten Energie. »Show up, show up, show up – and the muse will show up«, wie Isabel Allende es sehr richtig sagte. INTERVIEW: MARTINA LISA Terézia Mora, 1971 in Sopron/Ungarn geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Neben vielen anderen Literaturpreisen wurde sie 2018 für ihr Gesamt- werk mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Aus dem Ungarischen übersetzte sie u.a. die Werke von Péter Esterházy, István Örkény oder Zsófia Bán. 90 www.keuze-leipzig.de

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