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Rezensionen

Afonso Reis Cabral

Afonso Reis Cabral

Aber wir lieben dich. Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. München: Hanser 2021. 304 S., 24 €

Afonso Reis Cabral.

Gisberta ist schon fast am Ende, als der Junge Rafa sie in einer Bauruine entdeckt. Die brasilianische trans Frau war als Zwanzigjährige nach Porto gekommen, wurde drogenabhängig, arbeitete in Shows und als Prostituierte. Mit HIV infiziert, wartet sie nun, mit 45, an diesem unwirtlichen Ort zwischen Pfützen, Müll und alten Spritzen auf den Tod. Rafa lebt im Heim, seine Mutter ging anschaffen, der Vater war gewalttätig; eine normale Biografie in der Jugendhilfeeinrichtung. Die älteren unter den Zöglingen schikanieren die jüngeren, das pädagogische Personal agiert im besten Fall hilflos, und Zusammenhalt ist ein rares Gut. Rafa und Gisberta freunden sich an – wenn man es so nennen kann. Denn Rafas Gefühle der älteren Frau gegenüber sind komplex: Er will ihr helfen und wertet sich zugleich über ihr Leid auf. Aggressiv reagiert er auf jede eigenständige Handlung von ihr. Lieber würde er Gisberta vernichten, als zu erleben, dass ihr selbst etwas gelingt. Wütend und eifersüchtig verfolgt er, wie sein Freund Samuel unabhängig von ihm eine Beziehung zu ihr aufbaut. »Aber wir lieben dich« von Afonso Reis Cabral erzählt von Lebensbedingungen, in denen es immer jemanden gibt, der noch tiefer in der Scheiße steckt und auf den man spucken kann. Gewalt gebiert Gewalt – eine abgedroschene Erkenntnis, doch der junge portugiesische Autor schildert sie noch einmal neu, in einer rohen, unmittelbaren Sprache. Zusätzlich beklommen macht die Lektüre, weil es Gisberta Salce Júnior wirklich gab. Reis Cabral spürt in seinem Roman ihrem Schicksal am äußersten Rand der Gesellschaft nach, ohne viel zu erklären. Das Nachdenken darüber überlässt er dankenswerterweise dem Leser. Andrea Kathrin Kraus

Lorenza Foschini

Lorenza Foschini

Und der Wind weht durch unsere Seelen. Marcel Proust und Reynaldo Hahn. Eine Geschichte von Liebe und Freundschaft. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. München: Nagel und Kimche 2021. 237 S., 22 €

Lorenza Foschini.

Das Leben des Schriftstellers, schrieb Marcel Proust, sei in seinem Werk. Und doch gibt es, wenn große Werke vorliegen, ein Interesse an jenem ›anderen‹ Leben eines Schriftstellers, das Proust zufolge nur eine zu beschreibende Illusion darstellt. Nur eine Illusion? Dieses Leben kann auch eine Liebe sein – etwa die Liebe Marcel Prousts zum Komponisten Reynaldo Hahn. Über die Lektüre von Prousts Romanteil »Eine Liebe von Swann« und durch den Ankauf eines Briefes von Reynaldo Hahn an Marcel Proust kam die Autorin der vorliegenden Publikation zu ihrem Thema. Die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Reynaldo Hahn und Marcel Proust gelingt ihr mit so viel Sachkenntnis (bis hin zur Einbeziehung unveröffentlichter Quellen) wie Einfühlungsvermögen. Durch die knappen Kapitel des Buches gestaltet sich die Lektüre kurzweilig, und die schöne Ausstattung des Bandes erhöht die Lesefreude. Die Stadien dieser Liebe, aber auch die anderen Personen, die von ihr Kenntnis hatten zu einer Zeit, als homosexuelle Beziehungen keinesfalls allgemein akzeptiert waren, werden dem Leser vor Augen gestellt, fast möchte man sagen: ans Herz gelegt. Im Mai 1894 kommt es zur ersten Begegnung zwischen Reynaldo Hahn, dem trotz seiner jungen Jahre schon berühmten Komponisten, Pianisten und Sänger, und dem noch völlig unbekannten, drei Jahre älteren Marcel Proust, den als Schriftsteller zu bezeichnen seine wenigen literarischen Versuche noch lange nicht hinreichen. Es entsteht eine leidenschaftliche Liebesbeziehung – für beide die erste. Doch schon zwei Jahre später, im Herbst 1896, kommt sie, hauptsächlich bedingt durch Prousts Eifersucht und seine inquisitorische Überwachung des Geliebten, an ihr Ende. Was bleibt, ist eine bis zum Tode Prousts dauernde Freundschaft. Angelika Corbineau-Hoffmann

Eimar O’Duffy

Eimar O’Duffy

Esel im Klee. Für die Kinder der Erde. Aus dem Englischen von Gabriele Haefs. Mit Anmerkungen. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2020. 349 S., 22 €

Eimar O’Duffy.

In der pikaresken Fortsetzung von »King Goshawk und die Vögel« (vgl. kreuzer 04/21) ist Cuanduine, der Held aus der irischen Mythologie, wieder im Einsatz für die einfachen Menschen und für die Herrschaft der Vernunft: Frustriert durch die Kriege und angesichts des traurigen Zustands der Welt zieht sich Cuanduine nach seinen Reisen zurück »in die Berge, wo keine Menschen mehr hausten«; er gründet eine Familie und genießt das einfache Leben – bis ihn die Kriegsgöttin Badb ruft und er wieder in den Kampf ziehen muss, unter anderem, um die Ehre Irlands zu verteidigen. Es kommt zum Krieg (was eine irische Amsel damit zu tun hat, soll an dieser Stelle nicht verraten werden) und in einer Luftschlacht über dem Atlantik besiegt Cuanduine ganz allein König Goshawks Luftwaffe. Unterdessen geht der kapitalistische Wahnsinn auf der Welt munter weiter und Cuanduine hat endlich genug von den Menschen. Er beschließt frustriert, mit seiner Frau – die Kinder sind erwachsen und gehen ihren eigenen Weg – die Welt zu verlassen. Doch weil auf der verarmten Erde nichts mehr zu holen ist, beginnt mit der Kolonialisierung auch die Ausbeutung des Monds und seiner Bewohner. Anfangs wächst der Wohlstand, bis auch diese Welt erneut im Krieg versinkt. O’Duffy schreibt seine Satire vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs mit großer sprachlicher Vielfalt – verschiedene Textsorten wie Zeitungsberichte, Gedichte, Vorträge, sprachliche Variationen wie Slang oder wirtschaftswissenschaftliche Fachsprache, intertextuelle Anspielungen und ein Erzähler, der den Leser direkt anspricht und sein eigenes Unverständnis eingesteht – und das alles mit einem Augenzwinkern, um die Absurdität der Situation zu offenbaren. Die hilfreichen Anmerkungen von Gabriele Haefs erklären so manche Feinheiten, die sonst nicht immer klar geworden wären. Was den Menschen eindeutig fehlt, ist der gesunde Menschenverstand, doch trotz der düsteren Stimmung ist das Ende versöhnlich (...). Joachim Schwend

Bernd Weinkauf

Bernd Weinkauf

Leipziger Merkwürdigkeiten. Markkleeberg: Sax Verlag 2021. 152 S. 19,90 €

Bernd Weinkauf.

Getreu dem bekannten Ausspruch Goethes versammelt der Leipziger Autor Bernd Weinkauf in seinem neuen Buch zwölf zuweilen amüsante Anekdötchen über heute fast unsichtbare Merkwürdigkeiten der Stadtgeschichte. Warum zum Beispiel erblickte Ende der vierziger Jahre ein Polizist in der Thomaskirche Bachs Leiche in einem bis heute verschollenen weißen Sarg? Und wieso musste Bachs Leiche überhaupt vier Mal umziehen, bevor sie da zu liegen kam, wo sie heute liegt? Auch der umtriebige Napoleon war ja – kein Geheimnis – in und um Leipzig zugegen. Was aber ein paar Liter Gosebier mit seiner Niederlage hier zu tun hatten, ist vielleicht nicht allen bekannt. So liest sich das mit Heiterkeit und Ironie gewürzte Büchlein an einem heißen Nachmittag im Schatten einiger unserer übrig gebliebenen Stadtbäume munter weg. Bäume, die schon Ende des 19. Jahrhunderts für fragwürdige Bauvorhaben hatten weichen müssen – die Geschichte einer unbeliebten Wettersäule belegts! Doch nicht nur Weinkaufs Erzählstimme in »Leipziger Merkwürdigkeiten« amüsiert die interessierte Leserin: Es ist auch der Blick für die historisch entscheidenden Situationen. Beispielsweise gibt es keinen Heinrich-Heine-Park in Leipzig, weil, nach einigem Hin und Her, das Amt für Geoinformation und Bodenordnung feststellt: »Zu viel Schrift würde die Karte verwirrend machen.« Ist klar. Wer wissen will, was es mit dem »Dreitürmeblick« auf sich hat, wer oder was ein »Ruppertsheimer Reiterpfad« ist oder warum ein japanischer Musiker auch heute noch in Rückmarsdorf nach im 2. Weltkrieg verloren gegangenen Partituren sucht, der möge es hier nachlesen. Und es gibt eine Situation, in der Sie auf der nackten Haut nichts weiter als einen »Gürtel aus ungegerbter Wolfshaut« tragen sollten, glauben Sie mir! Linn Penelope Micklitz

Dinaw Mengestu

Dinaw Mengestu

Zum Wiedersehen der Sterne. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Berlin: claassen 2009. 251 S., 19,90 €

Dinaw Mengestu.

Wenn sich Sepha Stephanos, Alltagsheld des Romans »Zum Wiedersehen der Sterne« von Dinaw Mengestu, an Addis Abeba erinnert, dann steigen Bilder voller Wehmut auf. Fernab seiner Familie lebt Stephanos das klassische Schicksal eines Heimatlosen – gefangen im ewigen Ankommen in Washington D.C., seinen Erinnerungen und der Einsicht, nie mehr zurück nach Äthiopien zu können. Mengestus Debütroman legt die Stimmung all seiner Werke fest, sie grundiert die Lebensgeschichten seiner Protagonisten mit sehnsüchtiger Note. Wohl deshalb wird in Besprechungen stets erwähnt, dass Mengestu selbst Kind der Diaspora ist, über die er schreibt: Noch in Addis geboren, mit der Familie vor dem roten Terror des Diktators Mengistu Haile Mariam in die USA geflohen, dort – wie Maaza Mengiste – in der englischen Sprache zu Hause. Ähnlich wie Mengiste wird auch er zum wichtigen Vertreter einer post-migrantischen äthiopischen Literatur erkoren und ähnlich mit Preisen bedacht. Dabei gelingt Mengestu (wie Mengiste) weit mehr als vermeintlich autobiografisch zu Entschlüsselndes. Das Debüt schwankt zwischen Hommage an Washington D.C. samt Gentrifizierungskritik und pan-afrikanischen Anekdoten, Letztere leider oft stereotyp und recht männlich. »Die Melodie der Luft« erzählt voll Zärtlichkeit von den Eltern, die auch nur Menschen sind. »Unsere Namen« besteht aus mehreren, zunächst verwirrenden Geschichtssträngen und Zeitebenen, die vorführen, wie fragmentiert Identitätsbildung bleiben muss. Stilistisch wirken die Romane hin und wieder eine Spur zu konstruiert und damit in Tradition US-amerikanischer Schreibschulen, wie sie Mengestu (und Mengiste) in der Tat absolvierten, gleichwohl finden sich genauso die Stärken dieser Tradition: geistreicher Witz, üppige Verweise auf Weltliteratur und elegante, manchmal etwas spröde Liebesplots. Wie ein kleiner Treppenwitz liest sich auf Seite 225 von Mengestus Debüt »auf schwarzem Grund in eleganten Goldbuchstaben ›Corona‹«. Wahrsagen kann er also auch. Alexandra Ivanova

Michael Schweßinger/Marcel Schreiter

Michael Schweßinger/Marcel Schreiter

Bukarest. The City of good life. Edition Outbird 2021. 164 S., 25 €

Michael Schweßinger/Marcel Schreiter.

Alles in Schwarz-Weiß, alles grau, alles eintönig. In dem Fotobuch »Bukarest. The City of good life« bieten selbst die Texte des Autors Michael Schweßinger nur wenig Trost. Der Leipziger Fotograf und Filmemacher Marcel Schreiter hatte 2016 seine Aufnahmen in der Hauptstadt im Rahmen eines Stipendiums des rumänischen Kulturinstituts gemacht. Und der Klappentext ist Programm: »Bukarest romantisch zu sehen, bedarf gewiss einiger Anstrengung.« Das Romantischste an Bukarest sind, wenn man nur dieses Buch befragt, »einige mit Tesa-Film fixierte Titten auf dem Armaturenbrett« eines Taxifahrers, »über denen ein Bild der Jungfrau Maria mit Heiligenschein thronte«. Schweßinger lebte selbst in Bukarest und erzählte davon bereits in »Vom östlichen Rande des Imperiums« (RUP 2015). Zehn Miniaturen untermauern nun die Stimmung der eindrücklich angeordneten Fotografien: Immer wieder Menschen, vor allem Männer, die mürrisch, abgezehrt oder resigniert auf den Straßen der Stadt unterwegs sind. Wenn einer lächelt, fällt es auf. Frauen zieren vor allem die illuminierten Werbeplakate, die den Kontrast zwischen den heruntergekommenen Vierteln und den uneingelösten Versprechen des Kapitalismus beleuchten. Das Bukarest, das sich hier zeigt, ist nicht das zuckrige des ehemaligen Diktators Nicolae Ceaușescu oder das der Touristen. Es ist das Bukarest der Wütenden und Armen, das Bukarest der Hunde und Katzen. Und Schweßinger findet Worte für die Faszination, die immer auch in einem Davorstehen liegt, in Bewunderung von der anderen Straßenseite: »Wie leuchtend die Farben der Stadt, / bevor wir ihr zu nahe traten«, »Ich lauschte dieser melodischen Sprache, ohne sie zu entschlüsseln«, »und ich frag mich immer, wann diese Stadt mal austickt. Tut sie nicht, tut sie nie, alles geht seinen gewohnheitsmäßigen, leicht resignierten Gang.« Linn Penelope Micklitz

Violette Leduc

Violette Leduc

Thérèse und Isabelle. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Berlin: Aufbau 2021. 169 S., 20 €

Thérèse und Isabelle

Jeder Tag könnte der letzte sein im Internat irgendwo in Frankreich, wo Thérèse von ihrer Mutter »geparkt« wurde. Gemeinsam mit den anderen Mädchen putzt die Jugendliche Schuhe, isst in der Aula zu Abend und besucht den Unterricht, bis eines Nachts Isabelle an ihr Bett tritt. Innerhalb kürzester Zeit wird aus den beiden ein geheimes Liebespaar. »Thérèse und Isabelle« war eigentlich Teil eines größeren Romanprojektes, an dem Violette Leduc ab 1948 schrieb. Weil ihr Verleger bei Gallimard jedoch die Zensur fürchtete, ob der expliziten Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, musste Leduc das Manuskript mehrfach überarbeiten; in seiner ursprünglichen Fassung konnte ihr Buch erst Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung erscheinen. Dabei war Leduc bereits zu Lebzeiten eine von ihren Kolleginnen bewunderte Autorin. Existenzialisten wie Camus schätzten sie für ihre Sprachgewalt, mit Simone de Beauvoir hatte sie nicht nur eine Affäre, sondern in ihr auch eine wichtige Fürsprecherin. Heute, viele Jahre nach den Skandalen, besticht »Thérèse und Isabelle« vor allem durch die seitenlangen Beschreibungen einer jungen Liebe. Als Autorin scheute sich Leduc nicht vor konkreten Beschreibungen von Sexualität, vom gegenseitigen, unerfahrenen Erkunden der Körper. Gleichzeitig liegt die Stärke ihres Textes in den Metaphern, die in langen Aneinanderreihungen für Liebe und Lust gefunden werden. Sie bilden die Bandbreite des Begehrens ab, die Freude genauso wie die Angst, die geliebte Person wieder zu verlieren, die Zärtlichkeit ebenso wie die Gewalt, die in der Leidenschaft steckt. Hin und wieder sitzt ein Bild nicht ganz richtig, spürt man den Überschwang einer noch jungen Schriftstellerin. Insgesamt überzeugt Leducs Geschichte jedoch als ein Text, in den die Lesenden eintauchen können und dessen dichte Sprache dazu einlädt, sich zu verlieren. Josef Braun

Melissa Broder

Melissa Broder

Muttermilch. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Berlin: Claasen 2021. 327 S., 24 €

Melissa Broder.

Es ist eine schlichte, zweckmäßige Sprache, in der die junge, zynische Amerikanerin Rachel von sich erzählt. In einem seelenlosen Los Angeles arbeitet sie in einer Agentur für Talente, die sie verachtet – so wie sich selbst. Es steckt viel Zeitgeist in Melissa Broders Roman, von der Upcycling-Glühbirne bis hin zum klassischen Problem des Großstädters: Zwänge, Süßstoff und Nikotinkaugummis. Eine Liste, die zeigt, woran auch Rachel scheitert: sich reflektieren, aber nichts ändern können. Rachel ist magersüchtig. Schon der Klappentext offenbart, wohin die Reise geht: Rachels Therapeutin empfiehlt ihr ein Mutter-»Detox«. Während die Tochter den Kontakt zur Mutter abbricht (die sich schon damals gewünscht hat, dass die früher kinderspeckige Rachel dünn wäre), lernt sie Miriam kennen, die »unwiderlegbar fett« ist. Den Rest kann man sich denken. Doch hinter Sex und Fressorgien bleibt es mager: Die entzauberte Welt einer Essgestörten, die an den gigantischen Brüsten einer dicken spirituellen Jüdin saugen will, weil die Mutter sie nicht gestillt hat. Die zweckmäßige Figurenkonstellation begründet teilweise die stereotype Sicht in Rachels Perspektive: Je mehr sie loslässt, desto mehr sieht sie in Miriam, die, Überraschung!, weit mehr ist als nur dick. Auch sind so manche Aussagen von bezwingender Ehrlichkeit: »Ich entschied: Liebe ist, wenn du Essen im Mund hast, von dem du weißt, dass es dich nicht fett machen wird. Lust ist, wenn du Essen im Mund hast, das dich fett machen wird. Angst ist der Tag, nachdem du Essen im Mund hattest, das dich fett machen wird.« Broder bemüht sich nicht um Vermittlung dieses schwierigen Themas, sie sagt, wie es ist. Das kommt manchmal derb, lustig, ekelhaft oder übertrieben beim Leser an, doch ankommen tut es. Linn Penelope Micklitz

D. H. Lawrence

D. H. Lawrence

Der Mann, der Inseln liebte. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Mit einem Nachwort von Thierry Gillyboeuf. Zürich: Kampa 2021. 93 S., 12 €

D. H. Lawrence.

Auf der ersten Insel baut er sein eigenes Reich auf, er ist »der Herr«, der aufgeklärte Kolonisator, der sich kümmert, nur das Beste für seine Mitmenschen möchte und sein überlegenes Wissen weiterreicht. Doch er muss nach einem Jahr erkennen, dass sein Idyll einer aufgeklärten Gemeinschaft nicht funktioniert, zudem ruiniert ihn die Besiedlung der Insel finanziell und er verkauft sie wieder. Eine neue Insel folgt, kleiner, überschaubarer mit nur wenigen Menschen. Für kurze Zeit scheint er sein Glück und seine innere Ruhe gefunden zu haben. Doch bald stören ihn erneut seine Mitbewohner, die ihn vereinnahmen wollen. Es kommt zu einer Liebesbeziehung, aber er ergreift die Flucht vor der Verantwortung und flieht auf eine noch kleinere Insel. Auf der menschenleeren, dritten Insel kann er seine Misanthropie ausleben, sogar die Schafe müssen seine Insel verlassen, er bricht jeden Kontakt zur Außenwelt ab. Der Winter kommt und verhüllt die Insel und Cathcarts Sehnsuchtsort unter einer dicken Schneedecke. Hier findet er seinen Frieden. Die symbolträchtige Erzählung in bilderreicher Sprache spiegelt auch das unstete Leben von D. H. Lawrence, immer auf der Suche nach einer Heimat. Der Protagonist beginnt als eine Art Robinson Crusoe, aber im Gegensatz zu Crusoe findet Cathcart keinen Frieden, denn er ist nicht der Imperialist, wie er Daniel Defoe vorschwebte. Lawrence, und sein Alter Ego Cathcart, ist vielmehr der geplagte Mensch, auf der Suche nach einer Utopie – eine Geschichte von berückender Aktualität. Joachim Schwend

Audre Lorde

Audre Lorde

Sister Outsider. Essays. Aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft. München: Hanser 2021. 256 S., 20 €

Audre Lorde.

Audre Lordes Texte kreisen um die vielen Gesichter der Unterdrückung, denn auch sie musste die Erfahrung machen, dass es den Rassismus nach dem Civil Rights Act noch gab. Ebenso wenig war der Sexismus verschwunden. Die mannigfaltigen Proteste in den USA ebbten ab, Lorde aber sollte dem Kampf für die Freiheit aller ihr schriftstellerisches Leben widmen. In Briefen, Vorträgen und Texten adressierte sie schwarze Männer oder weiße Feministinnen, um diese auf ihr Mitwirken an der Unterdrückung hinzuweisen. Denn es gibt – so Lorde – verschiedene Muster der Unterdrückung und sie wirken sogar zusammen. Erst, wenn man die Verschränkung der Macht begreift, könne man sich wirklich von ihr befreien. Lorde appellierte dabei stets mit der Aufrichtigkeit der Mitkämpferin, die an grundlegendem Wandel interessiert ist. Als schwarze Lesbe, Dichterin, radikale Feministin, Mutter und Sozialistin schreibt und denkt Lorde multiperspektivisch. Zugleich sucht sie nach Vereinigung dieser Perspektiven. Die Ehrlichkeit ihrer Texte vermittelt, dass ihr das selbst nicht immer gelang. Gerade das macht aber die Herausforderung aus, die sie nie gescheut hat: das eigene Leben zu befragen und es gegebenenfalls zu ändern. Eine Einladung zum Denken darüber, wie die eigene Identität oder das eigene Verhalten auf der Unterdrückung anderer beruht. Wie nur wenige andere macht Audre Lorde die Erfahrung der Mehrfachidentität in ihren Texten greifbar, und zwar schon vor 1989, als Kimberlé Crenshaw das Konzept der Intersektionalität einführte. Lorde denkt das Persönliche politisch, doch sie verzichtet beim Schreiben nicht auf Poesie, sondern nutzt diese explizit als Raum und Ausdrucksmittel. Wer sich mit dem Intersektionalismus beschäftigen will, wird Audre Lorde mit großem Gewinn lesen. Thore Freitag

Benedict Wells

Benedict Wells

Hard Land. Zürich: Diogenes 2021. 352 S., 24 €

Benedict Wells.

Man kann »Hard Land« als Hommage an das Coming-of-Age-Genre oder als hübsch arrangierten Flickenteppich aus Diebesgut verstehen. So lassen sich unübersehbare Anlehnungen an Werke wie Stephen Chboskys »Vielleicht lieber morgen« (engl.: Perks of being a wallflower) oder Christian Krachts »Faserland« vorfinden. Die Zutaten des Romans sind simpel. Man nehme: einen Außenseiter einer US-amerikanischen Kleinstadt der Neunziger, der sich mit ein paar älteren coolen Kids anfreundet und nun den Sommer seines Lebens erlebt. Den ersten Kuss, Mutproben, Drogenkonsum, lauter Anspielungen auf literarische Werke, Filme und Songs. Natürlich gibt es einen Bully, den es zu besiegen gilt. Natürlich fertigt der Außenseiter in diesem Sommer seiner Angebeteten ein Mixtape an. So ähnlich kennen wir das schon aus »Vielleicht lieber morgen«. Durch das Werk von Wells zieht sich außerdem ein Faible für erste Sätze von Romanen, und so bedient sich der Autor für den Beginn seines Werkes an »Salzwasser« (engl.: Salt Water) von Charles Simmons: »In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.« Wie durch diesen Satz angekündigt, wird in »Hard Land«, abgesehen von den ersten Erfahrungen der Jugend, auch sehr berührend das Beziehungsgeflecht der Familie geschildert: der Umgang mit der Krankheit der Mutter sowie der Versuch von Vater und Sohn, das brüchige Verhältnis auszutarieren. Mit seinem Stil passt sich Wells der jugendlichen Sprache des Erzählers an, nutzt humorvolle Metaphern und leicht verständliche Sätze, die jedoch hin und wieder zu poetisch für die jungen Menschen daherkommen. Trotz allen Diebesguts: Vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene bietet »Hard Land« großes Identifikationspotenzial. Eine wunderbare Lektüre, um jederzeit in den Sommer des Lebens einzutauchen. Michelle Schreiber

Armin Strohmeyr

Armin Strohmeyr

Ferdinandea. Die Insel der verlorenen Träume. Konstanz: Südverlag 2021. 376 S., 24 €

Armin Strohmeyr.

Der 15.7.1831 war ein ganz normaler Tag auf Sizilien, bis die braven Bürger Sciaccas draußen vor der Küste das Unvorstellbare beobachten. »Das Wasser schien zu brodeln. Hin und wieder schoss eine Fontäne empor und ging zischend nieder, während die Rauchsäule immer dicker wurde (…). Tote Fische trieben zu Tausenden umher, die Mäuler aufgerissen, die Augen stier ins Nichts gerichtet.« Was sich da aus dem Meer erhebt, sei mitnichten das Jüngste Gericht, wie Pfarrer Don Sebastiano meint, sondern eine vulkanische Insel. Viel her macht sie nicht, »Geröll« und »Schutt« und der Gestank nach Schwefel sind noch die hervorstechendsten Eigenschaften des neuen Eilands. Nichtsdestotrotz entspinnt sich an dieser Insel ein verworrenes Theater mit allerlei Figuren voller teils banaler, teils politischer Interessen: Wirtin Rosalia und ihr adonishafter Bruder Angelo, Rosalias Mann Michele, deren Sohn Francesco (Achtung: ein Kuckuckskind vom Postmeister Alessandro), ein Maler aus Deutschland, ein maltesischer Kapitän, Charles Earl of Grey samt Tochter, diverse Könige, ein Polizeichef, ein Geologe und zahlreiche weitere. Sir Walter Scott geistert derweil als Person wie auch als Begründer des historischen Romans als Strohmeyrs Patron durch die Seiten. Und auch wenn der Autor sie fabelhaft auszuschmücken weiß, ragt hinter all den Figuren stumm und drohend die Mittelmeerinsel Ferdinandea als Star des Buches auf. Strohmeyrs Sprache changiert zwischen Theater und Slapstick, ohne die Glaubwürdigkeit seiner in weiten Teilen historisch verbürgten Geschichte allzu sehr zu strapazieren. Ein barockes Erzählen mit Lust an der überquellenden Sprache und bissigem Humor — ein kluger, gewitzter Roman, ein großes Lesevergnügen. Linn Penelope Micklitz

Marcel Raabe

Marcel Raabe

Die letzten Stunden Walter Benjamins. Eine Rekonstruktion und eine Wanderung. Leipzig: Trottoir Noir 2021. 334 S., 16 €

Marcel Raabe.

Die »Skizzenbücher« sind, das bewies schon »Karstadt waren wir« von Olivia Golde, kleine Schatzkisten. Das liebevolle Design, dessen Kraft in dem Zusammenspiel zurückhaltender Schlichtheit, D.I.Y.-Charme und toller Typo (Gestaltung von Reymund Schröder) liegt, trifft in diesem neuen Buch auf einen der berühmtesten Cold Cases europäischer Denkgeschichte: Trottoir Noir-Verleger Marcel Raabe versucht in akribischer Quellenarbeit, die letzten Stunden Walter Benjamins nachzuvollziehen. Zur Erinnerung: Der Philosoph und Kulturkritiker wollte 1939, nachdem er bereits 1933 ins Exil gegangen war, über Spanien und Portugal in die USA ausreisen. Ihm gelang der Grenzübertritt nach Portbou – doch in der folgenden Nacht starb er an einer Überdosis Morphium. In seinem Buch geht Raabe, der auch für den kreuzer schreibt, zwei Wege. Einem davon folgt er ganz wörtlich, der möglichen Fluchtroute, die heute ein Wanderweg ist. Und er fragt sich: »Meine Freizeitkletterei – ist sie der Tatsache, dass es sich um einen Fluchtweg um Leben und Tod handelte, eigentlich angemessen?« Den anderen geht er Wort für Wort in den Quellen, die rund um und über diese entscheidenden letzten Tage entstanden und erhalten sind: »Brieffragmente, mündliche Erzählungen, […] spät gefundene Amtspapiere, […] Lebenserinnerungen anderer«. Das Ergebnis ist ein zweigeteiltes Buch in mehreren Abschnitten. Eine kurze Beschreibung des Weges über die Grenze und Benjamins Spuren in Portbou, Fotos davon. Linksseitig dann die spannungsvolle Rekonstruktion der Ereignisse, rechter Hand kleinteilige und ausführliche Quellen. Am Schluss folgt eine fundierte Einordnung der Ergebnisse. Eine bemerkenswerte Arbeit über einen Todesfall, der zahlreichen Spekulationen unterliegt, und die es schafft, neues Licht ins Dunkel zu bringen. Linn Penelope Micklitz

Leo Gilbert

Leo Gilbert

Seine Exzellenz der Android. Ein phantastisch-satirischer Roman. Frankfurt am Main: Edition W 2023. 320 S., 25 €

Leo Gilbert.

Leo Gilbert (1861–1932) nimmt in »Seine Exzellenz der Android« die damalige Zeit aufs Korn – und liefert dabei auch einen kritischen Blick auf unsere Gegenwart. Dabei ist es erstaunlich, wie genau sich der gelernte Ingenieur Anfang des 20. Jahrhunderts einen Androiden vorstellte. Präzise werden die Rädchen und Walzen beschrieben, aus denen die menschengleiche Maschine besteht. Aber noch spannender ist das Getriebe des bürgerlichen Systems, das parallel dazu auf unterschiedliche Weise zur Schau gestellt wird. Während die eigentliche Handlung im ersten Drittel des Romans zu stagnieren scheint, entfaltet sich eine Studie über die Angewohnheiten der gehobenen Gesellschaft. Beunruhigend präzise sagt Gilbert die nur wenige Jahre auf die Veröffentlichung folgende Kriegsbegeisterung der Bevölkerung im »wohlig warmen Wolfspelz des Patriotismus und des Christentums« voraus. Der Android – wie sollte es anders sein – macht sich noch vor seinem Verkauf selbstständig, wird fortan von seiner Umwelt als Mensch verkannt und macht Karriere in Wirtschaft und Politik. Der Roman verdeutlicht dabei, dass dies nicht nur an der Perfektion der Maschine liegt, sondern vor allem an der Berechenbarkeit der Menschen. »Die Logik der Menschen […] funktioniert so mechanisch und dabei so falsch, daß ein Ingenieur sich schämen würde, eine so schlechte Maschine wie den Menschen konstruiert zu haben.« Immer wieder klingt dabei an, welch großen Schaden eine Erziehung anrichten kann, die ausschließlich auf die Vermittlung starrer Muster setzt und kritisches Denken bewusst vernachlässigt. Und das sollte uns auch heute, nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen PISA-Studie, zu denken geben. Joachim Kern

Andrus Kivirähk und Veiko Tammjär

Andrus Kivirähk und Veiko Tammjär

November. Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2023. 144 S., 30 €

Andrus Kivirähk und Veiko Tammjär.

Die von Veiko Tammjär illustrierte Graphic Novel, die auf der erfolgreichen Romanreihe von Andrus Kivirähk beruht, porträtiert verschiedene Menschen in einem estnischen Dorf zur Zeit der deutschen Lehnsherrschaft, also irgendwann zwischen 1230 und 1561. Die von den Baltendeutschen, wie wir sie heute nennen, unterdrückte estnische Bevölkerung ist in diesem Buch selbst nicht gut oder tugendhaft. Ihre Geschichte handelt von Diebstahl und Habgier, die verarmten Bauern belügen und betrügen sogar den Teufel. Egal, welche Seite man aufschlägt: Die Bilder, die einen anschauen, sind schwarzweiß-grau-rot. Es könnten auch Scherenschnitte sein, so klar sind die Umrisse. Schlicht sind die Illustrationen dennoch nicht, denn die Lüfte sind voller Geister und in den Wäldern wimmelt es nur so von dunklen Gestalten. Alles ist beseelt. Das Wechselfieber ist eine Frau, die sich nur mit einer Flasche Schnaps am Tag bekämpfen lässt. Die schönsten Seiten des Bandes zeigen fantastische Wesen wie den hundertbeinigen Geisterluchs oder Kühe mit Flossen: »Meereskühe fressen im Winter Schnee, lecken im Sommer den morgendlichen Tau und geben mehr Milch als jedes Hausrind.« Es fällt leichter zu sagen, was diese außergewöhnliche Graphic Novel nicht ist, als was sie ist. Der Band ist nicht so politisch, wie der Klappentext vermuten lässt, stellt nicht das Verhältnis zwischen Esten und Deutschen in den Mittelpunkt. Und trotz all der Fantastik und Folklore handelt es sich bei »November« nicht um ein Märchen. Denn es fehlt die Moral von der Geschicht. Menschen ändern sich nicht, sie bleiben so düster und derb wie die Welt, in der sie leben. Eine Geschichte über dunkle Tage für dunkle Tage. Pauline Reinhardt

Jan Peter Bremer

Jan Peter Bremer

Nachhausekommen, Berlin: Berlin Verlag 2023. 208 S., 22 €

Jan Peter Bremer.

Als der sechsjährige Jan aus Westberlin ins feuchte Wendland der siebziger Jahre umgetopft wird, ist das ein Schock für ihn. Sein Vater ist ein erfolgreicher Künstler, der sich mit Frau und Sohn nach dörflicher Einsamkeit sehnt – die aber glücklicherweise regelmäßig durch befreundete linksliberale Künstler mit langen Bärten und großem Durst gestört wird. Der kleine Lockenkönig geistert derweil durchs Dorf, bewohnt von Atomkraftfreunden, Bundeswehrfans und rechtsradikalem CDU-Rattengezücht nebst ihren bösartigen Kindern. Der kleine Sprutz spürt sehr früh, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein. In Schule und Dorf gemobbt und wegen seiner langen Haare als schwules Mädchen gedengelt, bleibt ihm die Welt seiner Fantasie. Dabei hat er nach seinem Empfinden coole Künstlereltern, die ihn selbst bei schlechten Noten nicht verprügeln, wie das die anderen Eltern im Dorf mit ihren Kindern regelmäßig tun. Seine Eltern lieben ihn und zeigen es aller Welt – das macht es für ihn aber noch schlimmer. Dass sie ein fettes amerikanisches Auto ihr Eigen nennen und sein Vater offensichtlich viel Geld mit seiner komischen Künstlerei verdient, bringt Jan in den Augen der Dörfler dann aber doch viel Respekt ein. Haste was, biste doch was. Weil er Geschichten liebt, fängt er an zu schreiben und findet den Weg aus der Einsamkeit seiner Kindheit. In »Nachhausekommen« breitet der reife Jan Peter Bremer diese Künstlerkindheit vor uns aus. Musikalisch begleitet durch die Musik der Beatles, schweben wir in Bremers Zaubersprache übers platte Land, ab und zu tut sich ein dunkler See auf und die meisterhaft erzählte Geschichte gewinnt an Tragik, um im nächsten Satz mit einem Witz daraus zu entkommen. Frank Willmann

Necati Öziri

Necati Öziri

Vatermal. Berlin: Claassen 2023. 304 S., 25 €

Necati Öziri.

Arda liegt mit einer Autoimmunhepatitis im Krankenhaus. Sein Körper hat beschlossen, die eigene Leber anzugreifen. Ob oder wie viel Zeit ihm noch bleibt, ist unklar. Als Erzähler wendet er sich deswegen an seinen Vater Metin, einen ehemals militanten Sozialisten, der die Familie kurz vor Ardas Geburt verlassen hat. Er lässt sein Leben für den Vater Revue passieren: von einer Kindheit inmitten der Pulverfass-Beziehung zwischen Mutter Ümran und Schwester Aylin bis zum Erwachsenwerden auf der Bank vor dem Bahnhof, umgeben von Freunden und dem Geruch von Marihuana. Unterbrochen werden Ardas Erinnerungen immer wieder von Mutter und Schwester, die ihn regelmäßig – aber nie gleichzeitig – im Krankenhaus besuchen und auf diese Weise ihre Geschichten mit einweben. Dabei erzählt der Roman nicht nur von einer zerrütteten Familie. Es geht um Naturkatastrophen, um den Tod. Darum, wie die eigene Abiturientenstimme bei einer Polizeikontrolle die Rettung ist, bei einem Stück von Goethe aber versagt. Wie man einen Döner richtig isst und hausgemachte Mayonnaise zubereitet. Und darum, was noch schlimmer ist, als in diesem Land zu leben und nicht den richtigen Pass zu haben, nämlich: gar keinen zu haben. Nicht mal einen Monat nach seinem Erscheinen stand »Vatermal« schon auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, schaffte es später weiter auf die Shortlist. Es ist der erste Roman des Dramaturgen Necati Öziri, der unter anderem zwei Jahre lang die Studiobühne des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin leitete. Und Theater merkt man seinem Buch auch an, das zu einer großen Bühne für Russen und Gabbas, Teyzes und Amcas, Kartoffeln und Bio-Deutsche wird. Sarah El Sheimy

Jane Campbell

Jane Campbell

Kleine Kratzer. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. München: Kjona 2023. 190 S., 23 €

Jane Campbell.

Frauen altern anders als Männer, ältere Frauen sind als literarisches Subjekt unterrepräsentiert. Tauchen sie in Romanen und Kurzgeschichten auf, werden sie häufig stereotyp und unterkomplex dargestellt. Nicht so in »Kleine Kratzer«. Bei Erscheinen ihres literarischen Debüts war Jane Campbell 80 Jahre alt. In 13 Kurzgeschichten schreibt sie über Frauen ab 70, die ihrer Umwelt neu begegnen. Ihr Leben lang eingebettet in klassische heteronormative Familienstrukturen, wagen sie in den Geschichten den Auf- und Ausbruch. Alle sind sie Frauen, die sich zur Wehr setzen und selbst über ihr Leben bestimmen wollen, soweit es ihnen in den durch Familie und Gesellschaft beengten Strukturen noch möglich ist. In der Kurzgeschichte »Susan und Miffy« heißt es: »Die Lust eines alten Mannes ist abstoßend, aber schlimmer noch ist die Lust einer alten Frau. Das weiß jeder, Susan wusste es allemal.« Susan gelingt es, derart tief verankerte vermeintliche Gewissheiten zu überwinden. Im Pflegeheim wächst sie über ihre gelebten Erfahrungen hinaus, sprengt ihren vorgesehenen Rahmen – und verliebt sich in Miffy. Doch ihr Verliebtsein stößt auf Ekel. Das Nicht-Vorgesehene darf nicht sein, existiert für die anderen nicht. Aber das Glück hält sich für Susan bis zum letzten Atemzug. Campbells Texte nehmen unerwartete, jedoch stets glaubwürdige Wendungen, ihr Ton changiert zwischen Humor und Melancholie. Hier erobern und erhalten sich alte Frauen ihre Würde bis zum Schluss und zeigen, dass ein hohes Alter keineswegs unsere Gefühlspalette dezimiert – und auch nicht unsere Wünsche und Sehnsüchte. Suse Schröder

Zoltán Danyi

Zoltán Danyi

Rosenroman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Berlin: Suhrkamp 2023. 441 S., 26 €

Zoltán Danyi.

Im 13. Jahrhundert ist der Rosenroman ein in Versform verfasster Roman, der die Liebe thematisiert. Er gilt als das erfolgreichste Werk mittelalterlicher französischer Literatur. Im Jahr 2023 dreht sich nun Zoltán Danyis »Rosenroman« um die Zeit nach einer verlorenen Liebe. Er spielt nicht in Frankreich, sondern in Serbien, genauer gesagt in der Vojvodina. Als kleine Reminiszenz an den französischen Rosenroman ist die verlorene Geliebte hier eine halbe Französin beziehungsweise eine in Serbien geborene Ungarin, deren Eltern zu Beginn der Jugoslawienkriege mit ihr geflohen sind. Sie kehrt nach dem Krieg für eine Weile nach Serbien ins Haus ihrer Familie zurück, weil ihr etwas in ihrem Leben fehlt – vielleicht die alte Heimat. Und sie verliebt sich in einen schweigsamen Rosenzüchter, mit dem sie sich endlich ihren Kinderwunsch erfüllen könnte. In Serbien, diesem Nichtland, vollgestopft mit Kriegsverlierern. Der Mann konnte dem Kriegsdienst in Jugoslawien und womöglich dem schnellen Heldentod dank des Geschicks und der Rosen seines Vaters entrinnen. Es kostete den Vater 4.000 Rosenstöcke. Hier verlorene Heimat, dort verhinderter Heldentod. Beide entwurzelt, wie die Rosen, die man im Herbst aus der Erde holt. Traumata und Zwangsstörungen, in jeder geschnittenen und verkauften Rose steckt ein Stück Krieg. Bereits im ersten Satz der Lebensbeichte des Erzählers steckt seine Tragik: »Ich stand am Fenster und wartete, dass die Sonne unterging, denn das war die Regel, und wenn ich nicht wollte, dass etwas Schlimmes geschah, musste ich warten, bis sie untergegangen war.« Der von Terézia Mora übersetzte Roman ist reich an schönen Sätzen, die von der Unmöglichkeit des Glücks in Zweisamkeit handeln. Oder vom Segen des Schmerzes und des Alleinseins. Frank Willmann

Christina Clemm

Christina Clemm

Gegen Frauenhass. München: Hanser Berlin 2023. 256 S., 22 €

Christina Clemm.

Nehmen Sie Ihre Haarbürsten in die Hand, liebe Lesende, Sie haben eine neue Frisur nötig. Mein Vorschlag: Schütteln Sie den Kopf, toupieren Sie – ja, bürsten Sie die verdammte Wolle auf Krawall! Und dann? Ja, dann können Sie sich meinetwegen fragen, warum Ihre Haare aufrecht stehen. Brauchen Sie einen guten Grund dafür? Besorgen Sie sich »Gegen Frauenhass« von Christina Clemm. Die Autorin ist Rechtsanwältin und schreibt über Femizide, sexuelle Gewalt und Misogynie. Sie kann mit Fakten und komplexen Einblicken aufwarten, hat Hunderte Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vor Gericht vertreten. So schreibt sie, dass es mehr Femizide gibt, als die Behörden und auch sonst die meisten Menschen wahrhaben wollen, dass Misshandlungen in allen Bevölkerungsschichten und -gruppen geschehen – dass auch deutsche Hochschullehrer und Ärzte ihre Frauen erniedrigen und erwürgen. Sicher: alles Einzelfälle. Als solche werden die Delikte im Gerichtssaal auch wahrgenommen. In der Konsequenz bleibt die strukturelle Dimension von Frauenhass aber weitgehend unsichtbar. Von den größtenteils männlichen Richtern werden Ermessensspielräume im Sinne patriarchaler Denkmuster interpretiert. So wird bisweilen angenommen, dass verlassene Ehemänner ihre Frauen nicht aus sogenannten »niedrigen Beweggründen« grauenvoll hinrichten, sondern vielmehr – aus Liebe. Die Tatsache, dass Richter so etwas nachvollziehbar finden, führt jedenfalls dazu, dass Täter mit eher geringen Strafen davonkommen. Und es gäbe viel mehr dazu zu sagen, aber mir stehen hier nicht mehr Zeichen zur Verfügung. Glücklicherweise ist Christina Clemms Buch sowieso viel seriöser als diese Rezension. Bitte lesen! Juliane Zöllner