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Bildungslücke, Folge 27 – Kerstin Hensel: Stilleben mit Zukunft (1988)

Bildungslücke, Folge 27 – Kerstin Hensel: Stilleben mit Zukunft (1988)

Bildungslücke, Folge 27 – Kerstin Hensel: Stilleben mit Zukunft (1988). 128 S.

»Wir lieben anders« – mit diesem Statement eröffnet im Jahr 1988 das Lyrikdebüt von Kerstin Hensel. Es ist ein Gefühl, das hoffentlich jeder Mensch schon einmal hatte. Das große Anderssein jedoch, das sozialistische Dichter die ganze Welt umfangen sehen wollten, war darüber hinaus nirgends mehr auszumachen: »Auf der Straße ist alles / wieder wie’s gestern war / und du weißt / daß sich nichts ändern wird.« Wie es sich angefühlt haben könnte für einen jungen Menschen im letzten Jahrzehnt der DDR – ganz subjektive Einblicke finden sich in der Lyrik dieser Zeit. Kerstin Hensel war Anfang zwanzig, als sie zwischen den »schwarzen Kulissen« der Häuser von Leipzig, Ost-Berlin und Ellefeld, zwischen »nacktblauen Jungdichtern«, »Lesben, Neurotiker[n]«, zwischen »Lust« und »Kaderakte», »Eisbaden» und »Sommerhimmel« lebte und die Gedichte dieses Bandes schrieb. Es ist eine einzigartige, fast schon einsame Stimme; in den achtziger Jahren gab es abseits vom Prenzlauer Berg kein großes »WIR der Dichter« mehr. Und Kerstin Hensels Lyrik ist nicht extrem; mit einfachen Worten, wenig beschönigend, nüchtern-verzweifelt beschreiben ihre Texte den »zarte[n] Irrsinn des Alltags«, wie sich der »Gesellschaftsabend« dargestellt haben mochte. Das Leben mit Kind, der Mann »drei Städte weiter / […] auf spannenden Körpern«, die Angst vor Pershings und dem dritten Weltkrieg; man wünscht sich »ein Telefon / um zu wissen / ob der oder der noch / lebt«. Karl Mickel rechnete Kerstin Hensel als Nachfolgerin von Sarah Kirsch und Irmtraud Morgner der Hexenzunft zu. Das mag an der Körperlichkeit der Texte liegen. Gegen »Frust« und »Luftnot« gibt es hier Alkohol und den Wunsch, »daß der Mann dich auf die Couch / zieht und dir einfach nur / untern Rock greift«. Aber auch in der Liebe, so viel sei verraten, hat längst Ernüchterung Einzug gehalten: »So wie der Himmel über uns / geronnen ist, die verkäste Hoffnung mit dem / Blauschimmer, so weit bring ich es / nicht mit dir.« Was bleiben wird von dieser Zeit? »Bleiben werden die wahren Gesänge von Not und von / wirklich helleren Zeiten.« Was bleiben wird, ist auch die Natur als ein Ort, wo das Empfinden von Freiheit möglich war und letztendlich auch die einzige »umwälzende Veränderung« der DDR, beim Nackt-im-Wald-unter-Bäumen-Liegen: »Wir drehn uns, weil der Arsch brennt, auf den Bauch« – auch das ein Gefühl, das jeder Mensch kennen sollte. Maja-Maria Becker


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