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Bildungslücke: Folge 31 – Erich Loest: Nikolaikirche (1995)

Bildungslücke: Folge 31 – Erich Loest: Nikolaikirche (1995)

Bildungslücke: Folge 31 – Erich Loest: Nikolaikirche (1995). 526 S.

Normalerweise widmen wir uns in dieser Rubrik ja dem Liegengebliebenen und Vergessenen, dem Vernachlässigten und Übersehenen. Aber in diesem Monat wollen wir den Jubiläumstrubel mal zum Anlass nehmen, uns dem Buch zu widmen, das sich durchaus als Tanker der Leipzig-Literatur bezeichnen lässt. Zumindest aber ist Erich Loests »Nikolaikirche«, das mittlerweile in der 17. Taschenbuchauflage erscheint und jüngst selbst vom Bundespräsidenten beim Festakt zum 9. Oktober zitiert wurde, alles andere als ein Underdog. Trotzdem oder gerade deshalb interessiert uns an dieser Stelle wie immer die Frage: Soll man das heute noch lesen? Der Roman, 1995 veröffentlicht, thematisiert weit mehr als nur die Zeit der Montagsdemonstrationen, sondern holt weit aus, um ein breites Porträt der späten DDR-Gesellschaft zu zeichnen. Im Mittelpunkt stehen die Geschwister Astrid und Alexander, Nachkommen eines vor Kurzem gestorbenen Generals der Volkspolizei, die schon bald antagonistisch aufeinanderprallen: Er macht Karriere im MfS, sie führen die herrschenden Verhältnisse zunächst in die Depression und dann in die Opposition. Um die beiden herum fächert sich ein Panorama zahlloser Figuren auf, deren Erlebnisse mal mehr, mal weniger eindrücklich sind. Stark geraten die Charaktere immer dann, wenn Loest ihnen den Freiraum gibt, mehr sein zu dürfen als ihre reißbrettartigen Funktionen im Plot: Die Schilderungen eines halsbrecherischen Spaziergangs im Kohleabbaugebiet oder der Geruchsproben-Obsession der Stasi-Leute sind weit eindrücklicher als die inneren Monologe der Pfarrer, die permanent im Predigt-Modus vor sich hindenken, weil sie halt Pfarrer sind. Eher anstrengend ist auch die Unentschlossenheit, wie viel Realität nun eigentlich einfließen darf, bevor es dem Autor literarisch zu unfein wird. Anspielungen werden in der Luft hängen gelassen, wo sie, ungreifbar für die Nachgeborenen, lose herumbaumeln. Insofern ist es durchaus zutreffend, wenn Loests Roman heute als »Denkmal« bezeichnet wird: Man steht davor und ist mäßig bewegt, aber will man tiefer eintauchen, sollte man schon woanders weiterlesen. Clara Ehrenwerth


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