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Bildungslücke: Folge 32 – Marianne Bruns: Der grüne Zweig (1979)

Bildungslücke: Folge 32 – Marianne Bruns: Der grüne Zweig (1979)

Bildungslücke: Folge 32 – Marianne Bruns: Der grüne Zweig (1979). 224 S.

Manchmal haben die Bücher in dieser Rubrik wirklich das Zeug dazu, einen nachhaltig zu deprimieren. Nicht, weil früher alles schlechter war. Erst recht nicht, weil früher alles besser war. Nein, Bruns’ vierzig Jahre alter Kurzroman »Der grüne Zweig« ist so deprimierend, weil er dem, was gegenwärtig gedacht und geschrieben wird, so enervierend ähnelt. Das Setting ist schnell erklärt: Vier westdeutsche Herzkranke – ein Soziologe, ein Regierungsrat, ein Verlagslektor und eine Frau, die mit »Frau« scheinbar ausreichend charakterisiert ist – lernen sich während eines Kuraufenthalts kennen und sprechen über ihre gemeinsame größte Sorge: die Ökologie. Das Wort ist damals noch so neu und kompliziert, dass die Männer es der Frau erst mal erklären müssen, aber das ist auch schon die einzige Stelle, an der man sich als Leserin des Jahres 2019 irgendwie cleverer fühlen darf. Der Rest ist Klimakrisen-Talk, wie er gegenwärtiger nicht sein könnte. Man ist erschüttert über die »Unfähigkeit der Menschen, sich mit bevorstehenden Unannehmlichkeiten auseinanderzusetzen«; man wünscht sich, dass die Politik doch endlich mal auf die Wissenschaft hören möge; man tröstet sich, dass die Katastrophe ja noch aufzuhalten sei, wenn man jetzt sehr schnell handele. Und weils gerade so schön und immer wieder passt, liest der Lektor eine Untergangsparabel vor, die gerade bei ihm auf dem Manuskriptstapel liegt: eine Neufassung des Sintflut-Epos, erzählt aus der Perspektive zweier Engel, die zwischen Euphrat und Tigris auskundschaften, ob es nicht doch noch einen geeigneteren Kandidaten für den Archenbau gibt als Noah, und dabei feststellen, dass es so schade dann eigentlich auch wieder nicht um die Menschheit ist. Bruns schreibt diesen Roman im Roman in einem sanften, alttestamentarisch anmutenden Sound, mit Humor und Tiefe. Trotzdem will man in den Tisch beißen beim Lesen, weil die sogenannte Menschheit vierzig Jahre später immer noch dieselben Probleme wälzt – dabei konnten sich die Figuren damals immerhin noch daran aufrichten, dass der Kapitalismus zwar in den sicheren Menschenuntergang führen, aber der Sozialismus es schon richten werde. Und auch die Jugend interessiert sich ja jetzt so für die Ökologie! »Das sind schon erste Tastversuche in eine ganz andere Art Leben hinein.« Ach, ach: Früher war alles genauso. Clara Ehrenwerth


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