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John Haskell

John Haskell

So viel Geschichte, so viel Dramatik

John Haskell. 263 S.

Mit einem Schwall kalter Luft betritt ein großer schlanker Mann das Café Telegraph. Joggingschuhe an den Füßen, mit denen Deutsche höchstens durch den Park rennen, weisen ihn als Amerikaner aus. Ansonsten ist da herzlich wenig, womit sich Klischees über Amerikaner bestätigen lassen. John Haskell ist weder unangenehm laut, noch wirkt er so satt und ignorant, wie viele Deutsche die Amerikaner gerne sehen. Er sitzt noch nicht, da sagt er schon, er müsse unbedingt nach Grünau. Bevor es zu kalt werde, fügt er hinzu - als müsste man eine Expedition ausrüsten, um sich in Richtung Plattenbauten aufzumachen. Im Übrigen habe er nichts gegen die Platte. Im Gegenteil, das sei vielmehr noch so ein weird thing, das ihn an Leipzig fasziniere.Haskell, Jahrgang 1958, veröffentlichte 2003 »I am not Jackson Pollock«, einen Band mit Kurzgeschichten, der ziemliche Beachtung fand. Es folgte der Roman »Amerikanisches Fegefeuer«, der beim Berliner Tropen Verlag auf Deutsch erschienen ist. Rund ein halbes Jahr verbringt der New Yorker Autor auf Einladung der Universität, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und des Veranstaltungsforums der Holtzbrinck-Verlagsgruppe als Picador-Professor für Literatur in Leipzig. Picador ist der Name eines amerikanischen Verlags-Imprints von Holtzbrinck. John Haskell, der außer als Schriftsteller auch als Schauspieler, Dramatiker und Performance-Künstler gearbeitet hat, gibt in Leipzig zwei Seminare. Da bleibt genügend Zeit für die eigene Arbeit - und die Stadt.Vor dem Abflug nach Deutschland habe er noch einmal überlegt, was sie gelernt haben in der Schule. »Es war ein ziemlich graues Bild von der DDR. Überall Unterdrückung, Mangel, Depression. Ein ziemlich stereotyper Blick auf den Osten, den man uns vermittelt hat. Irgendwie brainwashed.« Was ihn als Schriftsteller interessiert, ist aber eben das ganz normale Leben - »auch wenn man fast so getan hat, als gäbe es das gar nicht: Alltag«. Und so sammelt Haskell Eindrücke und Informationen aus der Zeit, als Deutschland noch geteilt war. »Für Autoren ist Deutschland ein wunderbares Land«, sagt er: »So viel Geschichte, so viel Dramatik. Der Zweite Weltkrieg oder auch die Geschichte der DDR. Für Schriftsteller bedeutet das einen unerschöpflichen Fundus.«Neulich war er in Berlin. »Das hat sich so riesig angefühlt. Ich habe Leipzig richtig vermisst.« Aufgefallen ist ihm auch, dass man in Leipzig auf der Straße selten Leute Englisch sprechen höre. Anders als in Berlin, wo einem ständig Englisch sprechende Menschen begegneten. »Das mag ich«, sagt er vollkommen ernst. »Da hat man das Gefühl, man läuft nicht durch eine Touristenattraktion, sondern lebt in einer richtigen deutschen Stadt. Hier sind selbst die Touristen deutsch.« Jetzt lacht er.Aber es sei schon anders als in den Staaten: »Die Leute hier sind so zurückgenommen. Man tastet sich vorsichtig ab, niemand wird wirklich laut. Ich habe das Gefühl, man vermeidet das Extreme.« Gleichzeitig sei es schon angenehm, dass man in New York nachts oder in der U-Bahn eine Sonnenbrille tragen könne, ohne dass einen jemand sofort schief anschaue. »Für einen Moment ist diese Homogenität hier nett, aber für freakige Leute ist es in Deutschland sicher schwer.«Ein bisschen schüchtern seien die Leipziger, gerade wenn es ums Englischsprechen gehe. Erst wehrten sie sich mit Händen und Füßen, als könnten sie kein einziges Wort, dann können sie doch. Haskell selbst spricht nicht viel Deutsch, was er bedauert. Aber dadurch fühlt er sich zugleich ein wenig auf Beobachtungsposten. Kein schlechter Platz für einen Schriftsteller. Im Gegensatz zu vielen Leipzigern liebt Haskell das Völkerschlachtdenkmal. Das sei einfach ein freaky building. »Wenn ich einen Film drehen müsste, wo wir ein Denkmal brauchen - da gibt es nur eins!« Aber selbst am Völkerschlachtdenkmal wirkt Leipzig auf ihn nicht wie ein vom Tourismus bestimmter Ort. »Man muss hier nicht auf Teufel komm raus Sightseeing betreiben. Die Stadt ist mehr Leben als Anschauen.«Nein, er ist nicht gerne dort, wo die Touristenhorden sind, und er fühlt sich auch nicht gerne als Tourist. Und so hat er vom ersten Tag an versucht, sich einen eigenen Alltag einzurichten, seine eigenen Gewohnheiten zu entwickeln. Hat die kleine Kaffeerösterei neben der Stadtbibliothek für sich entdeckt, herumprobiert, welcher Joghurt und welche Milch nun in seinen Einkaufskorb wandern. Der Joghurt im Ein-Kilo-Becher erinnert ihn ein wenig an die Großpackungen aus Amerika, nickt er lachend - so selbstironisch, wie Amerikaner und Briten oft mit ihrer eigenen Position umgehen können. Und in diesem Moment merkt der Verfasser dieses Artikels erst, wie wichtig es ist, dass einer wie John Haskell hier lebt: Menschen wie er bringen Internationalität und Weltläufigkeit nach Leipzig - also etwas, das der Stadt noch immer sehr fehlt. Claudius Nießen


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