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Karl Ristikivi: Die Nacht der Seelen

Karl Ristikivi: Die Nacht der Seelen

Karl Ristikivi: Die Nacht der Seelen. 373 S.

Formal fährt dieser Roman ganz schön auf. Das Exil des estnischen Schriftstellers Karl Ristikivi in Schweden verwebt sich darin mit einem kräftigen Schuss Surrealismus. Der Ich-Erzähler ist nicht zuverlässig, er irrt sich, seine Erinnerung versagt. Und neben diesem grimmig-humorvollen Bericht bieten die 373 Seiten auch ein unfertiges Theaterstück, eine possenhafte Gerichtsverhandlung und einen Brief, in dem sich der Autor einer Leserin erklärt, die sein Buch für modernistisch, also bescheuert hält. Die Ausgangslange ist einfach. Silvesterabend. Der Ich-Erzähler – wie sein Erfinder Karl Ristikivi ist er 1943 vor der sowjetischen Okkupation geflohen – hält es zu Hause nicht aus, geht spazieren, gerät in ein Haus, in dem einiges los ist: ein Klavierkonzert, eine Hochzeit, eine Beerdigung. Er begegnet Menschen aus seiner Vergangenheit. Fremde behandeln ihn erst freundschaftlich, doch später als Fremden. Ein Verbrechen geschieht, ein Gericht sucht den Schuldigen. Und das alles in einer Nacht. Beschrieben werden diese Erlebnisse als »eine Reise durch viele Zimmer und ein unvollständiges Schauspiel, das länger dauerte, als das Publikum ihm folgen konnte, in eine immer größere Einsamkeit, vor Gericht und von dort weiter, in einen immer kälteren und dunkleren Korridor, wo es am Ende keinen Unterschied mehr machte, ob man weiterging oder zurück«. Es ist vielleicht diese Vielfalt, die »Die Nacht der Seelen« aus dem Jahr 1953 in Estland zur Schullektüre werden ließ. Eine Menge zu interpretieren gibt es ja, zugleich entsteht ein Gefühl von Überfrachtung. Dann wieder berührt das Buch, zum Beispiel, als vor Gericht mehrere Zeugen ihre Lebensgeschichten erzählen. Trotz Längen lohnt die Lektüre, allemal in dieser wunderschön aufgemachten Ausgabe. Maurus Jacobs


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