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Olga Tokarczuk: Unrast

Olga Tokarczuk: Unrast

Olga Tokarczuk: Unrast. 464 S.

Die Menschheit ist in Bewegung in Olga Tokarczuks Roman mit dem bezeichnenden Titel »Unrast« (von 2007, auf Deutsch erstmals 2009 bei Schöffling). In zahlreichen Kapiteln unterschiedlicher Länge – vom Fünfzeiler bis zur mehrseitigen Erzählung – nimmt sich die Autorin den Raum für eine tiefgehende Betrachtung des Unterwegsseins. Das Personal dieser Meditation ist international und so zahlreich wie verschieden: Da ist zum Beispiel der Familienvater Kunicki, dessen Frau und kleiner Sohn im Sommerurlaub spurlos verschwinden. Ein Fährmann, der sich Eryk nennt, ist ermüdet von der Monotonie des Pendelverkehrs zwischen Insel und Festland und steuert eines Tages aufs offene Meer. Da ist Annuschka, die in dem titelgebenden Kapitel für eine unbestimmte Zeit nicht nach Hause zu ihrem Mann und dem pflegebedürftigen Kind zurückkehrt. Sie schließt sich einer obdachlosen »Läuferin« an, die vor einem Bahnhof vor sich hin murmelnd pausenlos im Kreis läuft. Zwischen diesen Geschichten spannt sich eine Sammlung aus Aphorismen, kuriosen Beobachtungen und Begegnungen einer reisenden Ich-Erzählerin. Anatomische Sammlungen spielen eine wiederkehrende Rolle. Aber der Leser reist mit Tokarczuk nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit: Historische Akteure sind unter anderem der Anatom Philip Verheyen oder Josephine von Feuchtersleben, die Tochter des afroösterreichischen Kammerdieners Angelo Soliman. Auch wenn die vielen Passagen für sich stehen können und in ihrer Gesamtheit eher den Charakter einer Sammlung erwecken, schafft es Tokarczuk, dass den Leser nie das Gefühl verlässt, dass alles auf unbekannte Weise zusammenhängt. Das Sinnbild des Menschen als Reisender oder ewig Suchender mag nicht neu sein, ist hier aber mit interessanten Bezügen und Feinsinn in Worte gefasst. Jennifer Ressel


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