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Peter Stamm: Weit über das Land

Peter Stamm: Weit über das Land

Peter Stamm: Weit über das Land. 224 S.

Peter Stamms neuer Roman beginnt mit einem Idyll: Büsche umschließen das Einfamilienhausglück am Rand einer kleineren Stadt in der Schweiz. Tagsüber sind sie kaum wahrnehmbar, nachts allerdings werfen sie lange Schatten und wirken so bedrohlich, als wären sie die Mauern eines Gefängnisses. Thomas, der Protagonist in »Weit über das Land«, entflieht diesem Idyll. Gerade aus dem Urlaub in Spanien gekommen, verlässt er seine Frau und seine beiden Kinder und macht sich nur mit einem Pullover am Leib und etwas Kleingeld in der Tasche auf den Weg in die Wälder der Umgebung. Thomas will einem allzu vorgezeichneten Leben entkommen und gehört damit zum typischen Stamm-Personal der Unsicheren und Verlorenen. Er fühlt sich durch Büroarbeit und Familienleben eingeengt, Freiheit versprechen dagegen die Berge und Wälder. Zunächst lebt er wie ein Vagabund, verbringt den ersten Winter auf einer einsamen Berghütte und nimmt schließlich Gelegenheitsjobs an, um sich die nächsten Reisen leisten zu können. Als er bei seinen Wanderungen über die Berge auf ein kleines Dorf hinabschaut, das geordnet im Tal vor ihm liegt, fragt er sich: »Wie viel Kraft nötig sein musste, diese Ordnung aufrecht zu erhalten, jeden Morgen früh aufzustehen und die immer gleichen Arbeiten zu verrichten, die Kühe zu melken, den Stall zu misten, die Wiesen zu düngen und zu mähen und das Heu einzubringen.« Kraft bedeutet für ihn dabei nicht die körperliche Anstrengung, die mit der Arbeit verbunden ist, sondern die Zuversicht, dass all diese Arbeit einen Sinn ergibt. Das Unglück hinter der glücklichen Fassade und der Fluchtversuch aus zu geordneten Verhältnissen sind Themen, die eifrige Leser von Peter Stamm wiedererkennen werden, zum Beispiel aus seinem Erzählband »Seerücken«. Sein neues Buch kommt als Abenteuerroman daher und gewinnt auch durch seine Konstruktion an Spannung. Denn parallel zu Thomas’ Flucht erzählt Stamm die Geschichte seiner Frau Astrid, die trotz der eigenen Unsicherheiten um Haltung ringt und jahrelang auf ihren Mann wartet. Beiden Figuren wird das gleiche Maß an Empathie zuteil. Die Entscheidung, welcher Weg der richtige ist, bleibt jedem Leser selbst überlassen. Dafür sorgt auch der Sound, den Peter Stamms Texte haben. Ein meisterhafter Minimalismus, der detailgenau die äußeren und inneren Landschaften festhält – ohne eine Wertung vorzugeben und ohne ein Wort zu viel zu sagen. In seinem neuen Roman hat Stamm diese Erzählweise noch einmal zugespitzt. Ihm gelingt eine intensive Meditation darüber, ob die Flucht aus dem eigenen Leben möglich ist. Tino Dallmann


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