Bei der Festivaleröffnung der Euro-Scene im großen Saal prallen zwei verschiedene Handschriften aufeinander. Bei »Srh / Beben« (Flota, Ljublana) wogt einmal mehr der Geschlechterkampf auf, wenn sich die Tänzerinnen gegen die Dominanz der Musiker stemmen. Und Ivo Dimchev (Sofia) thematisiert mit einer schrägen Improvisationsperformance die Konzertsituation selbst.
Es ist ein einziges Schaulaufen, als das Publikum in den Großen Saal des Gewandhauses strömt. Leipziger Kulturmacher und Politiker, Wissenschaftler und Theaterinteressierte, die man auch schon zig mal in den hiesigen Häusern gesehen hat, lassen sich blicken, bevor das Licht erlosch. Unzähliges Schlagwerk spielt dann auf, insgesamt fünf Tänzerinnen bewegen sich mal als Solistinnen, mal kollektiv über die Bühne. Sie ahmen Raubtiere nach, verrenken sich in grotesken Zuckungen, umtanzen Äpfel und nehmen schließlich männliche Stoffpuppen hart ran. So manch schönes Bild – etwa eine rote Handtasche, die in kämpferischer Faust von einer Frau in Stöckelschuhen hochgehalten wird – ragt aus dem Perkussionsteppich. Der erinnert stellenweise an Hollywood-Film-Musik und auch das Arsenal an Bewegungen glaubt man irgendwann zu kennen. Der Spannungsbogen hält nicht und trotz bombastischer Paukenschläge will der Auftakt nicht bombastisch werden und der angekündigte Gender-Exkurs wirkt leicht angedichtet.
Nach der Pause ist dann der Performer Dimchev an der Reihe. Bei seinem radikalen, bis zur Selbstzerstörung reichenden Ansatz, den man im vergangenen Jahr im Kellertheater der Oper sehen konnte, weckt er große Erwartungen. Doch ist ihm hier der Raum zu groß, als dass er mit ihm spielen könnte. Auf sich geworfen zeigt er trotz allem eine energetische Vorstellung aus schrillen Tönen und brabbelndem Gesang. Er imitiert die Konzertsituation höchst ironisch, gibt ein Als-Ob-Konzert, dem sich nicht entziehen kann, wer sich darauf einlässt. Das scheint im Gewandhaus aber nicht allen möglich, auch gelangweilte Gesichter folgen seiner angestrengten Darbietung und dem Schweiße seines Angesichts.
»Produktive Irritationen«
Hernach zeigen sich die Zuschauerreaktionen extrem verschieden über das doch brave und oberflächliche Tanzstück und subversives Sing-Solo. Damit sollte Ann-Elisabeth Wolff erreicht haben, was sie wollte. Denn das diesjährige Motto »Tonstörung« kündigt es bereits an, dass es der Festivaldirektorin um künstlerische Konfrontationen und ästhetische Aussetzer geht. »Tonstörung ist ja weiter bezogen als auf die Störung von Klängen«, so Wolff. »Ich möchte für produktive Irritationen sorgen. Denn die Euro-Scene Leipzig zielt nach wie vor darauf ab, Sehgewohnheiten zu provozieren und sich mit Neuem, ja Ungewohntem auseinanderzusetzen und eine Debatte über Tanz und Theater zu führen.« Hätten im Jubiläumsjahr 2010 das Berauschen und Begeistern im Mittelpunkt gestanden, so setze die 21. Ausgabe wieder vermehrt auf das ganz Eigenwillige, Sperrige.
Reduziert, aber konzentriert gibt sich das Programm, das an den nächsten Tagen noch zu sehen sein wird. In »2men2mahler« (Granhøj Dans, Aarhus) lautmalen Musiker und Sänger Gustav Mahlers Melodien in den Bühnenraum, den zwei Männer mit ihrem Muskelspiel füllen. Zur Gefängniszelle eines Mörders in Isolationshaft wird die Bühne im Solopuppenstück »Jerk« (Gisèle Vienne, Grenoble). Die Gruppe Alias (Genf) vertanzt die Evolutionstheorie und Israel Galván (Sevilla) treibt den Flamenco in abstrakte Höhen. Ein exzeptionelles Experiment zeigt die Carte blanche: In der mobilen Installation »E.I.O.« (Dragana Bulut, Belgrad, Maria Baroncea und Eduard Gabia, Bukarest) wird das Publikum zum Performer. Der freie Wille wird zum alleinigen Handlungsprinzip erklärt und wer will, kann sich sein Eintrittsgeld zurück erstreiten.
Die 21. Euro-Scene scheint auch nach einem mediokren Start noch genügend ordentlich, außerordentliches Störpotenzial auf Lager zu haben.