Dass Hermann Nitschs Blut-und-Tränen-Theater ein Aufreger wird, war klar. Nun unterzeichnen Tierschützer weltweit eine Onlinepetition gegen den Künstler, der die Centraltheater-Intendanz von Sebastian Hartmann beschließt. Warum das reaktionär und naiv ist – ein Kommentar.
Laut der Online-Petition sollen eine Kuh und drei Schweine auf dem Altar der Kunst geopfert werden. Woher die Aufruferin aus Österreich ihre Information hat, schreibt sie nicht. Dafür hat sie sich eines Bildes von einer Hermann-Nitsch-Aktion bedient, ohne die Bildrechte zu wahren. Aber das sind Petitessen, wenn es um den Kampf für die gute Sache geht. Denn Tierschutz geht alle an und darum darf nicht sein, was nicht sein darf. Wenn der Wiener Herrmann Nitsch zum Passionsspiel seines Orgien-Mysterien-Theaters lädt, wird auch in Leipzig Tierblut fließen, das ist gewiss. Davon geht auch der kreuzer aus, der Nitschs Aktionskunst im Juni-Heft diskutiert. Mit Reaktionen wurde da auch schon gerechnet. Dass man nun binnen weniger Tage fast 10.000 Menschen weltweit zur Unterschrift gegen ein Theaterhappening aufbringt, überrascht. Statt einer erwarteten Provinzposse wird also nun ein Possenspiel provinziellen Denkens aufgetischt.
»wir wünschen uns ein lebensbejahendes, überschäumendes fest«, heißt es in der Beschreibung der geplanten Aktion: »gemeinsam mit der Stadt, welches sich bis zur ekstase steigern könnte. naturreiner wein aus prinzendorf wird ausgeschenkt.« Nitsch geht es um existenzielle Erfahrungen, in Kopie – oder im Wiedererwecken? – von archaischen Ritualen ist das Blut sein Medium, um die Teilnehmer zu Grenzerfahrungen zu bringen.
»We do not accept the murder of animals for the sake of ›art‹!«, fordert der Aufruf der Petition. »By signing this petition, you can help saving these animals lives and make clear, that this absurd act of cruelty should not be considered as art!« Da wird sich der Herr Nitsch aber grämen. Vor Jahrzehnten schon hat er sich mit Behörden angelegt, um sein Theater abzuhalten. Nun kommt die Reaktion also via binärem Code daher, ins progressiv-politische Gewand gehüllt. Auch wenn die digitale Scheißerei nun über mich ergehen mag: Nitsch hat Recht. Man muss seine Kunst nicht schätzen – ich persönlich finde sie nach all der Zeit extrem langweilig, aber Rituale sind nun mal auf Wiederholung aus –, um diesen Angriff auf die Kunst abzulehnen. Was für ein reaktionäres Kunstverständnis hier zutage kommt, ist unfassbar. Wir stimmen also ab, was als Kunst gilt? Was bei diesem Scherbengericht durchfällt, ist »krank«, »pervers« »inhuman«, wie in einigen Kommentaren zur Petition zu erfahren ist. (Der Post »EKELHAFTE AUSLÄNDER EGAL WOHER :: [sic] ARSCHLÖCHER«, muss nicht kommentiert werden.)
Das ist ja wie in Düsseldorf, wo eine Wagner-Inszenierung abgesetzt worden ist, weil ein »Tannhäuser« mit Gaskammern die Gesundheit der Besucher beeinträchtigen würde. Ja, sicher, dass kein Tier sinnlos leiden soll, ist eine richtige Maxime. Aber was ist denn nun »sinnvoll«? Stiftet Kunst nicht mehr Bedeutung als die Nahrungsmittelindustrie und die ganze Tierverwertung zusammen? »This is so unnecessary« schrieb einer. Jawoll, Kunst ist unnütz, gar Zeit- und Ressourcenverschwendung. Darum geht es sogar. Was Kunst ist, darum wird immer wieder und anhaltend gestritten. Auch das ist ein wesentlicher Teil von ihr. Diktatorisch – und sei es durch Abstimmung des Mittelmaßes – entscheiden, lässt sich das eben nicht. Ist ein Computer keine Technik, weil Menschen bei dessen Herstellung darunter leiden? Was ist eine Online-Abstimmung, wenn sie von Apparaten aus getätigt wird, an denen Blut und Schweiß von Billiglohnarbeitern hängen?
Natürlich ist es leicht, sich so einen mittlerweile alten Zausel wie Nitsch auszusuchen, um gegen ihn zu schießen – zumal man ja gleich ein schön blutiges Kampagnenbild zur Verfügung gestellt bekommen hat. Wenn man sich politisch engagieren möchte, dann sollte man ein System einmal komplett in Frage stellen, das sich auf Kosten vieler Menschen – von denen täglich viel mehr elendig verrecken, als ein paar Kühe helfen könnten – am Leben erhält. Dazu haben viele dann doch keine Lust. Aber mal schnell ein »I Dislike« drücken über ein Theaterereignis am anderen Ende der Welt und mein Bauchgefühl vom kommenden Weltfrieden ist wieder über den Tag gerettet. Das ist politisch doch recht naiv. Zumal die anhaltende Petitionsschwemme solchen Online-Unmut ohnehin zunehmend aus dem Bereich des Ernstzunehmenden rücken. Nebenbei bemerkt, das ist bigott, weil man eins von Nitschs Bildern nimmt und mit dem solchermaßen Gewalt-Blut-Porno-Ansatz die Clickzahlen erhöht. Was für eine sterile Welt soll das eigentlich sein, wo sogar Kunst Konsens ist und Politik bequem über Facebook betrieben wird? Eine Welt, wo das Gute, Wahre und Schöne in Gestalt eines Wackeldackels bräsig auf der Hutablage schunkelt auf der Kreuzfahrt ins Glück? Dann wehe dem Rasenlatscher.