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Filmkritik

Zeitblasen

Olivier Assayas reist in »Die wilde Zeit« erneut ins Paris der frühen Siebziger zurück

  Zeitblasen | Olivier Assayas reist in »Die wilde Zeit« erneut ins Paris der frühen Siebziger zurück

Olivier Assayas war dreizehn, als der 68er-Mai über Paris hereinbrach. In der Zeit nach der vermasselten Revolution, wie er sie selbst gern bezeichnet, wagte Assayas seine ersten kreativen Schritte. Er arbeitete als Filmkritiker bei den Cahiers du Cinéma, bevor er mit Filmen wie »Cold Water« (1994) oder »Irma Vep« (1996) erste Erfolge feierte. Thematisch kreist Assayas immer wieder um die Folgen der 1968er-Bewegung, übt Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und setzt sich filmisch mit dem Spannungsverhältnis von Fiktion und Realität auseinander. Mit seinem letzten Film »Carlos – Der Schakal« (2010) stärkte er seine Position als wichtiger europäischer Autorenfilmer. In »Die wilde Zeit« erzählt er von jungen Pariser Studenten in den frühen Siebzigern, die sich von der politisch aufgeladenen und kreativen Aufbruchstimmung in Europa mitreißen lassen.

Während des Unterrichtes ritzt Gilles (Clément Métayer) ein großes Anarcho-Zeichen in die Schulbank und nach der letzten Stunde rast er schnell zum Ausgang, um die neueste Ausgabe einer Untergrund-Zeitung zu verkaufen. Frankreich1971. Es ist gerade einmal drei Jahre her, dass in Paris Arbeiter und Studenten auf die Barrikaden gingen. Auch wenn die aufkeimende Revolte niedergeschlagen wurde, steht für Gilles und seine Freunde fest: Der Kampf geht weiter. Vermummt mit Sturmhauben und Motorradhelmen gehen sie zur Demonstration und werden von Polizisten auf Motorrädern mit Schlagstöcken wie Vieh auseinandergetrieben. Im Keller drucken sie ihre Plakate und rühren Glasscherben in den Kleister ein. Nachts brechen sie in das Schulgelände ein und überziehen in einer konzertierten Aktion das Gebäude mit politischen Parolen. Als sie sich später an den Wächtern, die sie erwischt haben, rächen wollen, wird einer der Wachschützer schwer verletzt. Die Polizei ermittelt. Gilles und Christine (Lola Créton) müssen sich über die Schulferien aus der Schusslinie bringen und reisen mit einem linken Filmemacherkollektiv nach Italien. Der Sommer 1971 wird für Gilles zu einer Zeit der Entscheidung, denn er ist hin- und hergerissen zwischen politischem Engagement und seinen künstlerischen Ambitionen. Mit »Die wilde Zeit« taucht der französische Regisseur Olivier Assayas tief hinein in die eigene, politisch bewegte Jugend. Fast schon nüchtern wirkt sein Blick auf die revolutionäre Vergangenheit, die von vielen oft und gerne verklärt wird. Politik war damals kein Thema, an das die Jugend herangeführt werden musste, sondern eines, das immer und überall in der Luft lag. Die Diskussionen um die Nuancen linker Positionen wirken aus heutiger Sicht grotesk, auch wenn Assayas die Versammlungen, Küchen- und Kneipentischgespräche vollkommen ironiefrei in Szene setzt. »Die wilde Zeit« ist kein Gute-Laune-Flower-Power-Film – die Jugendlichen betreiben ihr politisches Engagement mit großem Ernst, und die Agitprop-Filme, die das Kollektiv über die revolutionäre Bewegung in Kambodscha vorführt, sind von ehrfürchtiger Langeweile geprägt. Dem gegenüber steht die Kunst als Medium der Selbstverwirklichung. Wenn er oben in seinem Atelier Farbtöpfe, Pinsel und Papier um sich herum ausbreitet, dann ist er sehr viel mehr bei sich als in den linken Diskussionszirkeln. Nachdem seine frühere Geliebte das Bild, das er ihr geschenkt hat, gesehen und für gut befunden hat, zündet Gilles es an: »Es war nur für dich. Niemand anderes soll es sehen«, sagt er. Und während das Bild in Flammen aufgeht, verschmelzen Kunst, Liebe und Radikalität so überzeugend miteinander, wie es wohl nur in dieser wilden Zeit möglich war.


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