Die Dokumentation »Willkommen zu Hause« erzählt von 20 Jahren Distillery und einem noch nicht abgeschlossenen wichtigen Kapitel Leipziger Nachwende-Kulturgeschichte.
Natürlich dürfen sie nicht fehlen: die Gasmasken, die Bauarbeiterwesten, die im Absurden wildernden Accessoires – hier ist es eine Brille mit Scheinwerfern; irgendein Beruf scheint so etwas auch zu benutzen. Und alle sind »bis an die Zähne mit Trillerpfeifen bewaffnet«, wie Josh es formuliert. Der ist Anfang der neunziger Jahre Mitbegründer der Basis, des ersten Leipziger Techno-Clubs überhaupt, und später Resident-DJ in der Distillery. Zwanzig Jahre später, es ist die Party zum Geburtstag von Leipzigs angestammtem Techno-Club, wirkt das Publikum nach aktuellen Maßstäben fast schon normal und der Glamour- und Glitterfaktor wird zu großen Teilen vom Barpersonal erfüllt, das sich zur Einstimmung in die lange Nacht noch einen Kirschschnaps gönnt. Geblieben sind die in die Luft gestreckten Hände auf dem Dancefloor, wenn die DJs nach einem Break die Spannung wieder in einem Beat auflösen oder einem durchdringenden Rave-Signal.
»Der Klang der Familie« lebt von einem solchen Synthie-Fanfarenstoß, es ist einer der wichtigen deutschen Technohits der ersten Jahre, er wird früh angespielt in »Willkommen zu Hause«. »Familie« ist denn auch eine Art inhaltliche Klammer, die diese sehr sehenswerte Dokumentation zusammenhält und die bis heute einen Gutteil der Faszination der Distillery ausmacht, auch bei der zweiten oder dritten Stammbesucher-Generation. Auch das Filmteam gehört zu dieser Familie, dieser Status gewährt den Zugang zum Laden, zu den Machern, den Archiven, den Geschichten und verhilft zu einem sehr runden Abriss eines Stücks Leipziger Szene-Geschichte, das Déjà-vus zuhauf bietet. So ist es gerade für Zeitgenossen einfach, den Film gut zu finden, denn er hält den Erinnerungen stand, wie es war, damals, in Connewitz, bei den Rathouse-Demos, in Leipzig und im Osten überhaupt. Auch dieser Mindestanspruch muss ja erst mal mit Dokfilm-Mitteln eingelöst werden.
Es ist ein wahrlich lokalkulturhistorischer Glücksfall, dass schon in den ersten Momenten der Distillery eine Kamera dabei war. Dass wir die Crew dabei begleiten können, wie sie die Keller der alten Brauerei erkundet, in der alles stehen und liegen gelassen wurde, vor allem die Unmengen an Bierkisten, die sich in die Erinnerung jedes Besuchers in dieser Frühzeit zuerst eingebrannt haben. Den zweiten Eindruck beschreibt der heute als einer der wichtigsten deutschen Electronica-Musiker bekannte Robag Wruhme, damals ein namenloser Jungspund aus Thüringen: »Ich stand an der Nebelmaschine und hab voll Stoff gegeben. Und ich hatte auch noch Gewalt über das Stroboskop. … Absoluter Wahnsinn.« Sein legendäres DJ-Duo Wighnomy Brothers wurde praktisch in der – dann schon zweiten – Distillery groß, bevor es 2009 ebenda einen tränenreichen letzten gemeinsamen Auftritt absolvierte.
»Club für House und Techno, Veranstaltung jeden Freitag« – so wurde 1992 kurz und bündig auf DT64 die Eröffnung der Distillery angekündigt. Mit einem Schlag auch bundesweit bekannt wurde sie, als im Folgejahr nach ihrem Konzert auf der Festwiese Depeche Mode aufkreuzten und die Bravo vom dauertropfenden Keller berichtete. Es war der Moment für die Einführung der »Türpolitik«, die das Großraumdisco-Publikum ausschließen sollte. Am Eingang durchgesetzt wurde sie vom oft Kajal-geschmückten und von der Provinzjugend gefürchteten Banane, der selbst eine ganz eigene Distillery-Legende ist. Ausgerechnet während einer Connewitzer Straßenschlacht mit der Polizei stolperte er in den Club und gehörte seitdem zur festen Crew.
Es sind solche Geschichten, die »Willkommen zu Hause« erzählt, Einblicke in oft ganz persönliche Lebensetappen von Erwachsenwerden, Selbstentdeckung und -befreiung, für die Techno vor allem in Ostdeutschland auch stand. Sie durchweben den Film, bringen die Chronik der Ereignisse, den Blick auf gut 20 Jahre ganz nah heran an den Zuschauer und lösen tatsächlich die Erwartung ein, die wohl viele schon im Vorfeld mit der Doku verbunden hatten. Sichtbar wurde das am überragenden Erfolg des Crowdfunding-Aufrufes im letzten Winter, der sich in Windeseile herumsprach und gut das Doppelte der ursprünglich angepeilten Summe erbrachte. An der Selbstausbeutung des vierköpfigen Kernteams ändert das nichts und »low budget« ist der Film immer noch, auch wenn das Entgegenkommen der nötigen Partner groß war, gerade in Sachen Musikrechte, die immer ein entscheidender Knackpunkt für Dokumentationen sind, die sich mit Musik beschäftigen.
Gut sieht sie also aus, die »Tilledoku«, im Wortsinn, gut hört sie sich an. Und sie schafft es, das Phänomen Distillery als spannendes, nie langweilendes Stück Leipziger Kultur-, Szene- und Politikgeschichte zu erzählen. Mit wieder offenem Ausgang.