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Kultur

Ganz normale Ausnahmezustände

Vorstellungsgespräch und Ekstase: Zwei TdJW-Premieren zwingen zu Applaus

  Ganz normale Ausnahmezustände | Vorstellungsgespräch und Ekstase: Zwei TdJW-Premieren zwingen zu Applaus

»Ich hab’s, ›Homo sacer‹!«: Müsste ein Stadttheaterdramaturg die jüngste Doppelpremiere am Theater der Jungen Welt bildungshubernd einrahmen, würde er auf Giorgio Agamben weisen. Er oder sie würde betonen, wie sehr Rausch und Ekstase eben den Rauschzustand markieren, die Entgrenzung des Normalen darstellen. Und eine Bewerbersituation im Raubtierkapitalismus lasse den Kandidaten aufs nackte Leben schrumpfen. Die Psychofalle Vorstellungsgespräch entpuppt sich als Dunkelzone und entkleide den Menschen aller Rechte. Auch hier. Ein Ausnahmezustand. Und bla.

Man kann einfach auch lobend erklären: Das TdJW hat zwei gelungene Premieren vorgelegt. Mit überzeugender Physis und ernsthafter Leichtigkeit arbeitet sich Heike Hennig in »Crystal« choreografisch am Rauschzustand ab. »Die Grönholm-Methode« (Regie: Jürgen Zielinsky) entfaltet sich als böse Groteske um die Allmachtsfantasien der Personaler. Vier Menschen sitzen in einer Bewerbungssituation zusammen, doch erscheint keine Jury oder Komitee. Es stellt sich heraus, dass ein Maulwurf unter ihnen ist. Den gilt es herauszufinden, bevor andere Spielchen zu spielen sind. Wendungsreich spurtet das Stück von Clou zu Clou und ins überraschende Finale. Viele Inszenierungstricks waren hier nicht vonnöten, dafür bedurfte es des potenten Personals, sonst wäre dieses Kammerspiel auf der kleinen Bühne gnadenlos gescheitert. Denn man sitzt dicht dran, von zwei Seiten schaut das Publikum auf die kleine, bis auf Bürostühle und Konferenztisch leere Spielfläche. Gaze-Vorhänge werden heruntergelassen, wirken wie venezianische Spiegel und verstärken so die Wirkung des Labors und den Blick des Beobachters. Die vier Schauspieler zeigen allesamt sehr gute Sprecherqualitäten und füllen dies Menschenexperiment mit Emotionen und Leben. Well done, das wäre nicht auf jeder Stadttheaterbühne geglückt, wo nicht mal das Deklamieren von der Rampenkante ansprechend ausfällt.

Satyr im Tutu 

Gib mir mehr: Drogeninduzierte Zustände sind das Thema in »Crystal – Variationen über Rausch«, das zugleich an den Ursprung des Theaters zurückgeht. Die schillernd-vielschichtige Auseinandersetzung mit dem inneren Ausnahmezustand spannt einen weiten assoziativen Bogen und entwickelt eine Choreografie mit der Saugwirkung eines Mahlstroms. Drei Schauspieler und drei Tänzer beeindrucken in der Performance durch Körperlichkeit, physische Dynamik und Schnellkraft. Der Bühnenboden ist eine helle Tanzfläche, eine Kohlenstoff-Strukturformel aus Hexagonen ist aufgebaut. Oben rotiert eine Diskokugel. Buntes, psychedelisches Licht erstrahlt, sphärische Musik erklingt, der Rausch beginnt. Eine Tänzerin zuckt über die Bühne, ein Satyr im Tutu erscheint, während sich langsam vier Darsteller aus der Zuschauertribüne erheben und nach vorne arbeiten. Unzählige Namen der orgiastischen Wesen der griechischen Mythologie hauchen sie via Mikro in den Raum – um schließlich Dionysos mantraartig zu beschwören. Immerhin steht dessen Reigen am Anfang des europäischen Theaterkults. Nach diesem Auftakt legt das Ensemble – zwischen Schauspielern und Tänzern ist oft schwer zu unterscheiden – los, lässt zwischen Breakdance und Derwischtanz, Human Beatbox und Volkslied Vielgestaltiges auftreten.

Der Rauschbegriff ist hier ein sehr weiter, nicht nur klassische Drogen werden thematisch untergemischt, sondern auch Alltagssituationen, denen man gern entfliehen würde. Sozialer Druck, familiäre Imperative und Körpernormen blitzen als Zumutungen nicht nur für junge Menschen auf. Grenzen zwischen Spaß, Obsession, Sucht und Wahn sind nicht klar gezogen, weil sie nicht eindeutig sind. Manchmal sind die Assoziationen doch zu eindeutig – warum zum Beispiel wird der Drogenrauch immer zu elektronischer Musik beim Raven inszeniert? Das »Trainspotting«-Zitat immerhin sitzt, wenn die Tänzer weiter abgehen, als der Beat längst nicht mehr stampft. Andere Anspielungen sind zu entdecken – wer sie nicht sieht, wird trotzdem nicht um eine intensive Erfahrung gebracht. Die Zuschauer sollen sich selbst mit der Bühnensituation und ihrem eigenen Erfahrungsraum auseinandersetzen. Beim fakultativen Publikumsgespräch kann man sich über das Gesehene austauschen.

Die Einschläge kommen näher

Drastisch und angehend fällt eine Kriegs- und Zerstörungsszene aus. Sie nimmt sich dem Titel gebenden Crystal Meth an. Die Droge ist keine Designerdroge der Spaßgesellschaft, sondern puschte und euphorisierte im Zweiten Weltkrieg als so genannte Panzerschokolade die Wehrmachtssoldaten. Der offizielle Name des Wachhaltemittels ist Pervitin. Bühne und Zuschauerraum erbeben unter Stahlhämmern und Bombentreffern, metallischem Gekreische und Patronenpeitschen. Die Einschläge kommen näher. Die sechs auf der Bühne befinden sich im inneren und äußeren Krieg. Sie zucken zusammen unter Schlägen, Krämpfe verformen die Körper, unsichtbare Mächte treiben sie in Raserei und Tobsucht. Hier sind Schmerzensmenschen am Werk, beeindrucken, faszinieren, schrecken ab. Wie im Rausch eben. Darauf folgt Goethe: »Hab oft einen dumpfen düstern Sinn, / Ein gar so schweres Blut! / Wenn ich bei meiner Christel bin, / Ist alles wieder gut.« Mit einer ernsthafteren Leichtigkeit kann man dieses Thema nicht beackern.


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