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Stadtleben

Papier für alle, sonst gibts Krawalle

Ein paar Buchmessetipps

  Papier für alle, sonst gibts Krawalle | Ein paar Buchmessetipps

»Das Papier und wir« titelt die aktuelle, hübsche Ausgabe des Magazins Das Magazin – ob des Baujahrs 1924 kann man den heute unoriginell erscheinenden Namen verschmerzen. Und auch das olle Holzmedium kreuzer kommt am Papier und der Leidenschaft fürs Gedruckte nicht vorbei. Was nicht ausschließt, auch digital über die Buchmesse zu berichten. Unsere Online-Redakteurin Juliane Streich wird sich durch die Hallen bewegen und schieben und an dieser Stelle einen ihrer berüchtigt subjekt-launigen Erlebnisberichte abgeben. Sehr selektiv, anderes ist bei der Auswahl an spannenden Veranstaltungen – um von den uninteressanten gar nicht zu sprechen – auch gar nicht möglich. Vielleicht legen Sie sich noch den aktuellen kreuzer zu, dessen Buchmesse-Beilage :logbuch enthält noch viel mehr Hinweise und Lesestoff zur Leseleistungsschau. Mögen Sie unseren Tipps folgen oder eigene Highlights aufspüren: Viel Spaß auf der Buchmesse und Leipzig liest!

 

Dass Helle Helle leider krankheitsbedingt nicht nach Leipzig kommt, ist wirklich schade. Der Autor dieser Zeilen hatte zusammen mit einer Kollegin vor drei Jahren die Chance, mit Helle zu plaudern. Ihr neuer Roman »Färseninsel« ist aber das Hineinschauen absolut wert, auch wenn die Autorin in diesem Jahr nicht in Leipzig vorbeikommt. Dafür ist Chaim Noll dabei, und das nicht zu knapp. Bestechend und vor Lakonischem übersprühend fielen seine letzten beiden Bücher, der Roman »Die Synagoge« und der Kurzgeschichtenband »Kolja« aus. Nun stellt er mehrfach den ersten Teil seiner Autobiografie »Der Schmuggel über die Zeitengrenze« über das Aufwachsen im geteilten Berlin vor, also seine Zeit, bevor er nach Israel auswanderte. Wenn der Mann nur halb so sympathisch ist wie seine Schreibe, dann lohnt der Besuch.

»Der Schmuggel über die Zeitgrenze« – Lesung und Gespräch mit Chaim Noll, 12.3., 16 Uhr, Leseforum Israel – Halle 4, D 400; 21 Uhr, Ariowitsch-Haus; 13.3., 11.45

taz studio – Halle 5, Stand E 408; 15.30 Uhr, ARD-Hörbuch-Forum – Halle 3, Stand C 400; 21 Uhr, Zeitgeschichtliches Forum

 

Patrick Rothfuss ist in der Stadt! Das wird alle Fantasy-Fans zu Begeisterungsstürmen veranlassen. Als 2008 der erste Teil seiner »Königsmörder-Chronik« auf Deutsch erschien, avancierte Rothfuss rasch zum Genre-Meilenstein. Bis 2012 musste man auf den zweiten Teil warten. Wann die Trilogie abgeschlossen sein wird, steht in den Sternen. Denn wenn Rothfuss jetzt mit einer neuen Veröffentlichung herausrückt, dann ist es eine Romanauskopplung. »Musik der Stille« verfolgt das Dasein des seltsamen Mädchen Auri, das im Labyrinth unter der Universität lebt. Die Nebenerzählung ist nicht weniger als der Hauptroman mit Poesie und Einsichten angereichert. Es ist anzunehmen, dass seine Veranstaltungen ziemlich überlaufen sein werden – aber das wird Fans nicht abschrecken.

»Musik der Stille« – Lesung und Gespräch mit Patrick Rothfuss, 13.3., 16 Uhr, Fantasy Leseinsel, Halle 2, Stand H309; 14.3., 19.30 Uhr, Peterskirche

 

Und auch Liebhaber von Bilderbüchern und Bildgeschichten, also Comics, kommen auf ihre Kosten. Claudia Mende stellt ihr Buch »Tom und der Waldschrat« (mit Illustrationen von Mele Brink) für Leser ab fünf Jahren vor. Darin lernt Tom den Wald als magischen Ort kennen, erfährt etwas über Naturschutz und erliegt ganz dem Charme des schratigen Waldbewohners – ähnlich charmant fallen die Zeichnungen aus. Wut, Witz und Verve, weniger Charme, legt Kate Beaton in ihren Comic-Strips »Obacht! Lumpenpack« an den Tag. Zwischen Hoch- und Popkultur pickt sie sich Kulturgut und historische Ereignisse heraus, die sie pointiert aufs Korn nimmt. Zu Nina Bunjevac’ und Marc-Antoine Mathieus neuesten Arbeiten erfahren Sie mehr in den hier folgenden Rezensionen aus dem aktuellen :logbuch.

»Tom und der Waldschrat«, 15.3., 10.30 Uhr, Leseinsel Junge Verlage, Halle 5, Stand D200

»Vaterland«: Nina Bunjevac im Gespräch, 13.3., 12 Uhr, Lesebühne der Jungen Verlage, Halle 5 D200

»Vaterland« & »Obacht! Lumpenpack«: Nina Bunjecac und Kate Beaton, 13.3., 16 Uhr, MONAliesA – Feministische Bibliothek

Marc-Antoine Mathieu: Lesung und Gespräch, 13.3., 20 Uhr, Institute francais d'Allemagne

 

Wegweiser und Wüstensand

Schwarze Bildblöcke, monochrome Flächen. Irgendwann taucht ein Pfeil auf, erst grau, dann hell-weiß. Der wird zum Schlüsselloch einer Tür, die ein Mann aufstößt. Schon ist er in einer Sandwüste – alle Himmelsrichtungen stehen ihm offen. Auf der Suche nach Orientierung läuft er los. Mit »Richtung« versucht Zeichner Marc-Antoine Mathieu erneut, die Grenzen der Comicerzählung auszuweiten. Wortlos – wie schon beim vorangegangenen Album »Gott höchstselbst« – schickt Mathieu seinen Protagonisten ins Sinnaufspüren. Seine Zeichnungen, ein Kompass in Graustufen, zeigen sich als ein mannigfaltiges Spiel mit Perspektiven und Fluchtpunkten, Spiegelungen und Brechungen: Immer dem Pfeil nach. Erinnerungen an Genregröße Mœbius werden wach, der auch intensiv mit Erzähltechniken experimentierte. Da ist es kein Wunder, dass auch hier eine endlose Möbiusschleife auftaucht – ein verdrehter zusammengeklebter Papierstreifen, der keine Orientierung bietet, weil oben und unten, hinten und vorne nicht bestimmbar sind.

Zur Ruhe in diesen Bildern steht das zeitgleich erscheinende »Die Verschiebung«, sechster Band der kafkaesken Serie »Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume«, in einem chaotischen Gegensatz. Mit einer Bettfahrt à la kleiner Häwelmann brettern der Humorbeamte Acquefacques wie der Leser in die Story und plautzen gleich ins zweite Kapitel, während die Panels des ersten vorbeirauschen. Beide finden sich im Unbekannten wieder, in einer Geschichte, die sich für sie hin- und herspringend entwickelt. In kraftvollem Strich tut sich hier ein schwarz-weißer Albtraum auf, der nicht weniger mit den Konventionen des Narrativen spielt wie »Richtung«, weshalb es spannend ist, beide zusammen zu lesen. Wegweiser und Sandleeren bilden auch hier Teile des Interieurs. Die Blickpunkte wechseln im Verwirrspiel um Wirklichkeit und Wahrheit, es fehlen Seiten, das Cover taucht erst zum Schluss auf und eine Wörterwüste später wartet ein Abstecher in die Unendlichkeit. »Diese Abwesenheit von Kontext, dieser Mangel an Perspektive, es ist evident: Wir sind im Nichts.« – »Was für ein Panorama.«

Marc-Antoine Mathieu, Richtung. Reprodukt: Berlin 2015. 256 S., 29 €.

Marc-Antoine Mathieu, Die Verschiebung. Aus dem Französischen von Martin Budde. Reprodukt: Berlin 2015. 60 S., 18 €.

 

Radierte Dokumentation

Ein Leben als Hin- und Herspringen zwischen den Systemen und Ideologien: Nina Bunjevac schildert ihre Familiengeschichte in Jugoslawien und Kanada in einer dichten Comic-Autobiografie. Persönliche Schicksale wie die politischen Verwicklungen des 20. Jahrhunderts führt sie dabei geschickt zusammen. Die Mutter flieht 1975 mit Bunjevac und ihrer Schwester aus Kanada in die alte Balkanheimat. Sie will ihrem gewalttätigen Mann entkommen. Der glühende Antikommunist, der in der nordamerikanischen Wahlheimat Terroranschläge auf jugoslawische Vertretungen verübte, sollte bei einem solchen schließlich den Tod finden. Bunjevac erzählt mit diesem Fluchtereignis beginnend von den Erlebnissen ihrer Großeltern und Eltern, die sie zu den Menschen geformt haben, bei denen sie dann selbst aufwuchs. Zentral sind dabei die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs mit ihren Frontbildungen zwischen Parteien und Ethnien, die auch Familienbande zerrissen. Man erfährt neben dem fesselnden Schicksal einer Familie allerhand Historisches, nebenei entfaltet Bunjevac eine Geschichte Jugoslawiens. Im ruhigen Erzählton gibt die Autorin und Zeichnerin den Fäden der Nornen ihren Raum. Als fotorealistische Schwarz-Weiß-Zeichnungen hat sie die Panels gestaltet, die fast wie Radierungen wirken, so genau und detailliert sind sie. Auf Schnickschnack, besondere Effekte oder ungewöhnliche Perspektiven hat sie verzichtet, so dass der Band etwas Dokumentarisches an sich hat, was der ehrliche Ton und die – zumindest scheinbare – Offenheit unterstreichen. Damit setzt Bunjevac Maßstäbe, was das beliebte Comic-Genre »Geschichten aus meinem Leben« betrifft.

Nina Bunjevac: Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada. Berlin: Avant-Verlag 2015. 156 S., 24,95 €


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