Der Arm von Ex-Familienministerin Kristina Schröder (CDU) scheint lang. Eineinhalb Jahre nachdem sie ihren Posten abgegeben hatte, erschien nun eine von ihrem Ministerium in Auftrag gegebene Studie zum Linksextremismus. Mit dem mehr als 600 Seiten umfassenden Buch »Gegen Staat und Kapital – für die Revolution. Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie« legen Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin ein fast schon epochales Werk vor (jedenfalls in Bezug auf seinen Umfang), bei dessen Lektüre sich nicht nur Kritiker der Extremismusformel, sondern auch ganz neutrale Verfechter wissenschaftlichen Arbeitens die Haare raufen werden.
Als gleichermaßen End- und Ausgangspunkt der Studie dient eine Skala, die nach einer umfassenden Analyse all dessen, was die Autoren unter Linksextremismus verstehen, gebaut wurde. Nach 558 Seiten Lektüre zur bisherigen Forschung, der 68er-Bewegung, zum Streit um das Extremismusmodell (»[d]ie meisten Kritiker entstammen dem linken oder linksradikalen Spektrum bzw. können diesem zugerechnet werden«), einer eingehenden Analyse »der Autonomen«, einzelner linksextremer Gruppen und der Geschichte des revolutionären 1. Mai in Berlin, wird verraten, was die sechs Dimensionen linksextremer Einstellungen sind: Antikapitalismus, Antifaschismus, Antirassismus, Demokratiefeindlichkeit, kommunismusnahes Geschichtsbild/Ideologie und Antirepression.
Die linke Bombe tickt?
1.362 Personen wurden zu diesen Dimensionen telefonisch befragt. Das wenig überraschende Ergebnis: »Linksextreme Einstellungen [...] haben längst Eingang in die so genannte Mehrheitsgesellschaft gefunden«. Die Lage scheint also brenzlig. Denn tausende Linksextreme seien derzeit in Deutschland aktiv. Und sie sind nicht alleine. Millionen normaler Menschen sind mit »linksextremem Potenzial« ausgestattet. Vor allem im Osten. Dort tickt die linke Bombe in 28 Prozent der Bevölkerung. Diese alarmierenden Erkenntnisse durften die Autoren auch in einem umfangreichen Artikel in der FAZ darstellen. Offensichtlich hatte sich in der Redaktion niemand bereit erklärt, eine Rezension zu schreiben. Was verständlich sein sollte für alle, die jemals versucht haben, das Buch zu lesen und auf seinen wissenschaftlichen Gehalt abzuklopfen.
Die genauere Betrachtung der einzelnen Indikatoren, die benutzt wurden, um zu diesen Ergebnissen zu kommen, offenbart eine gewisse Form von Dreistigkeit, mit der Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens umgangen werden. So wird in der FAZ gewarnt: »Mehr als vier von zehn Befragten, im Osten sogar mehr als jeder zweite, äußern sich mehr oder weniger unzufrieden mit der in Deutschland praktizierten Demokratie. Eine breite absolute Mehrheit hält die praktizierte Demokratie nicht für eine echte Demokratie, weil der Einfluss der Wirtschaft zu groß sei.« Nun mag verwundern, wie bei Schroeder/Deutz-Schroeder diese absolute Mehrheit auch noch breit wurde. Weitaus irritierender aber ist die Frage, was an der Zustimmung zu diesen Aussagen demokratiefeindlich sein könnte. Wer mehr Demokratie fordert, ist demokratiefeindlich; und wer weniger Schnaps trinkt, wird umso trunkener. Gleiches gilt für die Aussage: »In unserer Demokratie werden Kritiker schnell als Extremisten abgestempelt«. Immerhin: »[K]napp die Hälfte der Befragten unterstützt die Behauptung«. Schroeder/Deutz-Schroeder lassen den Status dieses Items allerdings offen, was es in jede Richtung nutzbar – und damit sinnlos – macht. Schließlich wäre es denkbar, dass viele Interviewpartner in den Hörer nuschelten: »… und das ist auch gut so!« Übrig bleibt eine Nullaussage. Mehr noch: Wer beobachtet, was hier passiert, also dass Kritiker des Status quo pauschal als Extremisten abgestempelt werden, wird selbst dieser Gruppe zugeschlagen. Die berühmte Katze beißt sich in den Schwanz, und die Prophezeiung erfüllt sich selbst.
Extrem: Antirassismus und Kapitalismuskritik
Auch den Ausführungen zu antikapitalistischen Einstellungen mangelt es nicht an Absurdität. In der Einleitung zum Buch wird noch konstatiert: »Wer die Wirtschaftsordnung – die soziale Marktwirtschaft, d.h. aus linksradikaler und linksextremer Sicht den Kapitalismus – überwinden will, mag den Wohlstand gefährden und die unternehmerische Freiheit einschränken wollen, ist jedoch kein Verfassungsfeind, mithin kein Extremist.« Dass wer Kapitalismus sagt, linksradikal oder -extrem sein muss, könnte den einen oder die andere verwundern. Schließlich gehören dann auch Neonazis dazu – und Frank Schirrmacher. Irritierender aber ist, dass diese Kapitalismuskritiker in der Analyse weiter hinten im Buch sehr wohl wieder zu Trägern extremer Einstellungen stilisiert werden. So warnen Schroeder/Deutz-Schroder: »Ein Drittel der Personen behauptet, der Kapitalismus gehe zwangsläufig mit Armut und Hunger einher« und weisen auch dies als Teil linksextremer Behauptungen aus. Das hat fast schon unterhaltenden Charakter, hätte man doch auch die Zustimmungswerte zur Aussage »Die Erde ist eine Kugel« erheben können.
Doch damit ist des Unfugs lange nicht genug. Weitere »Facetten eines linksextremen Einstellungsmusters, [das] zum Teil breite Zustimmung in der Bevölkerung« findet, wurden im Bereich Antirassismus für die Befragten so vorformuliert: »Eine tief verwurzelte Ausländerfeindlichkeit lässt sich bei uns in Deutschland überall beobachten.« Die Antwort darauf mag streitbar sein, ein belastbarer Ausweis linker Positionen ist sie in keinem Fall. Genauso töricht wäre die Behauptung, dass alle, die keine Fans von Bayern München sind (»Antibayern«) zwangsläufig zum Anhang von St. Pauli zu zählen sind.
Selektives Zitieren
Viele Seiten der Studie drehen sich um das Thema Gewalt. Dort wurde offensichtlich, ob aus Faulheit oder mangels Quellen, stellenweise an den Fakten gedreht, bis sie den Autoren passten. Um das Verhältnis der antifaschistischen Gruppe AVANTI zu diesem Thema zu beschreiben, muss beispielsweise ein Selbstverständnis aus dem Jahr 2006 herhalten. AVANTI wird hier folgendermaßen zitiert: »Anlässlich von Naziaufmärschen werden AntifaschistInnen immer wieder mit der Polizei konfrontiert, die zum Schutz der FaschistInnen eingesetzt wird. [...] Ohne Übertretungen der Spielregeln des bürgerlichen Staates ist jedenfalls ein wirksamer antifaschistischer Widerstand nicht zu organisieren.« Klingt gefährlich, wenngleich legitimer und legaler ziviler Ungehorsam diesen Passus abdecken könnte. Im Original jedoch geht es um die Blockade von Naziaufmärschen; und da, wo sich im Zitat die Klammer befindet, steht der Satz: »Hier muss je nach der konkreten Situation ein Weg gesucht werden, die Blockade aufrechtzuerhalten, ohne unnötige Auseinandersetzungen einzugehen.« Das klingt dann irgendwie doch nicht ganz so dolle nach Krieg.
Offen geflunkert wird beim Thema Gewalt auch andernorts. So wird auf die 430 verletzten Polizisten während der G8-Proteste in Rostock am 2. Juni 2007 verwiesen, ein Artikel auf Spiegel-Online dient als Quelle. Derweil meldeten Nachrichtensender wie ntv und Institutionen wie das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung kurze Zeit später, dass diese Zahlen nicht der Realität entsprangen. »So musste die besondere Aufbauorganisation der Polizeidirektion Rostock KAVALA auf Nachfrage am 6. Juni zugeben, dass die Verletztenzahlen vom 2.6.2007 nicht stimmig waren, von 30 angegebenen schwer verletzten Polizistinnen blieben lediglich zwei stationär Behandelte übrig. Die restlichen 403 verletzten Beamtinnen – mit deren Hilfe der Protest als gewalttätigster der letzten 20 Jahre ausgemacht wurde – wurden hauptsächlich von ihren Kolleginnen verletzt, durch Tränengas, das, beigemischt ins Wasser der Wasserwerfer, wahllos in die Menge geschossen wurde (vgl. dazu taz vom 7.6.07, S.3). Zudem streute die KAVALA noch am Tag der Großdemonstration Gerüchte über mit Rasiermesserklingen gespickte Tomaten, über mit Nägeln präparierte Kartoffeln, über Messerattacken und Säureattentate. Mancher Polizist und manche Polizistin wusste gar von toten Kolleginnen zu berichten« (http://www.diss-duisburg.de/2007/12/g8-gipfel-in-heiligendamm/). Hier haben die Autoren für ihre Problematisierung schlicht die passendste und bequemste Schlagzeile übernommen.
Alle sind Extremisten
Last but not least: Mit einer Art Unterhaltungswert gesegnet sind die Ausführungen zu allem, was mit dem Begriff Extremismus zu tun hat. Kay Sokolowsky hat in der konkret (4/2015) schon zu Recht festgestellt, dass hier die »primitivste ›Extremisten‹-Definition der letzten vierzig Jahre« zu finden ist. Das gilt auch für den Extremismus allgemein. Schroeder/Deutz-Schroeder erklären den Extremismus der Mitte: »Wenn die (politische) Mitte keine Kritik und keine abweichende Meinung zulässt, wird sie selbst extremistisch.« Wahr gesprochen. Womit dann alle extremistisch sind, vor allem die Autoren selbst. Schließlich macht sich, ihrer mit wachsweichen und irreführenden Items überhäuften Studie zufolge, Kritik am Status quo des Extremismus verdächtig.
Im Buch finden sich noch jede Menge ulkiger Sachen. Ihm gelingt das Meisterstück, auf 325 Doppelseiten über Demokratie, die offene Gesellschaft und ihre Feinde zu reden, ohne sich tatsächlich mit dem Demokratie-Begriff selbst auseinanderzusetzen. Zudem wird kurz vor Schluss festgestellt, dass »nahezu alle linksradikal Eingestellten und eine beträchtliche Zahl der gemäßigten Linken« angeben, »ihr Alltag werde mehr oder weniger stark durch Politik bestimmt«. Ein Aussage, die tatsächlich mehr oder weniger, also nichts aussagt. Empfehlenswert ist das Buch dennoch – vorausgesetzt man hält nicht viel von Sozialwissenschaft und halbwegs plausiblen Methoden, man muss nicht die geforderten 30 Euro dafür zahlen und hat eine gehörige Portion schwarzen Humor. Für diejenigen mag das Werk einen gewissen Unterhaltungswert bieten. Die fast schon dadaistische Volte, dass Extremisten extremistisch und Linke links und damit extremistisch sind, schrammt nah am künstlerischen Wert vorbei. Auf lange Sicht könnte das Buch doch noch zum Standardwerk werden. Schließlich führt es die Extremismustheorie in die Bodenlosigkeit und zeigt, dass mit ihr keine halbwegs differenzierte Analyse politischer Einstellungen möglich ist.