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Kultur

»Wir kamen uns vor wie Tierfilmer«

Filmemacher David Bernet beobachtete die Verhandlungen zum EU-Datenschutz

  »Wir kamen uns vor wie Tierfilmer« | Filmemacher David Bernet beobachtete die Verhandlungen zum EU-Datenschutz

In »Democracy – Im Rausch der Daten« dokumentiert Regisseur David Bernet die Verhandlungen zur neuen europäischen Datenschutzrichtlinie. Ein junger Abgeordneter und seine Mitarbeiter wollen den Schutz der Privatsphäre verbessern, sehen sich aber Heerscharen von Lobbyisten gegenüber. Die Industrievertreter bekämpfen jeden Vorschlag, der Geschäftsmöglichkeiten zu Gunsten von Bürgerrechten einschränkt. Die große Öffentlichkeit nimmt derweil von der Debatte kaum Notiz. Erst durch Edward Snowdens Enthüllungen, die in die Schlussphase des Prozesses fallen, wird die Richtlinie plötzlich öffentlich bedeutsam.

kreuzer: Während die Datenschutzrichtlinie neu formuliert wurde, sprachen die europäischen Öffentlichkeiten kaum über die Bedeutung von persönlichen Informationen und was Unternehmen oder Geheimdienste damit anfangen. Edward Snowden hatte sein Wissen noch nicht enthüllt. Wie abstrakt war der Gesetzgebungsprozess in Brüssel für Sie als Beobachter?

DAVID BERNET: Als wir mit den Vorbereitungen für dieses Projekt begannen, war Datenschutz definitiv kein Thema. Für mich gibt es eine Vor-Snowden- und eine Nach-Snowden-Ära. Für sehr viele Menschen hat der Bewusstseinssprung ins digitale Zeitalter erst mit Snowden tatsächlich stattgefunden. Aber für viele ist das Thema auch jetzt noch abstrakt. Und dies, obwohl sie selbst jede Sekunde Datenspuren erzeugen, die Auskunft geben über sie. Darüber, was sie tun, was sie wollen, mit wem sie in Kontakt stehen. In der Summe wachsen in unzähligen Analysezentren digitale Schatten von uns. Solange die Gesellschaft so stabil ist, wie sie ist, mag das noch kein Schaden sein. Aber es kann auch anders kommen, wenn wir die Grundlagen der Demokratie und der Freiheit vielleicht irgendwann nicht mehr erhalten. Datenschutz gehört zu diesen Grundlagen.

Während des Gesetzgebungsprozesses war entscheidend, dass ich ja nicht einen abstrakten Prozess verfolgte, sondern eine Gruppe von Menschen, die in diesem Prozess aktiv waren. Wir erlebten, wie sie versuchten, eine der großen Herausforderungen unserer Zeit in den Griff zu bekommen.

kreuzer: Sie haben den Politiker Jan Philipp Albrecht und seine Mitarbeiter über zwei Jahre mit der Kamera begleitet. Wie umfangreich war das Material, aus dem Sie für den fertigen Film aussieben mussten?

BERNET: Die Dreharbeiten liefen ab Januar 2012 zweieinhalb Jahre. Insgesamt sind knapp 200 Stunden Drehmaterial entstanden. Diese große Zahl hat auch damit zu tun, dass wir oft mehrere Stunden Gespräche und Verhandlungen verfolgten – ohne zu wissen, wann ein Moment entsteht oder ein entscheidender Satz fällt, der die Situation verständlich macht oder die Filmerzählung insgesamt weiterbringen kann. Wir mussten einfach grundsätzlich offen und sehr aufmerksam sein gegenüber dem, was da auch immer kommen könnte. Und wir haben auf mehreren Ebenen des Gesetzgebungsprozesses gedreht. Nicht nur im Parlament bei Albrecht, sondern auch in der Kommission, im Minister-Rat und außerhalb der EU-Institutionen auf den Fersen von Industrie-Vertretern und Bürgerrechtsaktivisten.

kreuzer: Die Formulierung der neuen Datenschutzrichtlinie war ein Mammutprojekt. Zeitweilig drohte eine Flut von Änderungsanträgen den ganzen Prozess zum Scheitern zu bringen. Haben Sie selbst das Gefühl, alle inhaltlichen Streitpunkte überblicken zu können?

BERNET: Nein. Es handelt sich um einen Gesetzesentwurf von hundert Seiten Text. Viele Kapitel und viele Artikel, die sich alle aufeinander beziehen. Für mich als juristischen Laien war es schon eine Herausforderung, die Texte wenigstens so gut zu verstehen, dass ich mir ein Bild machen konnte, welches Stadium der Debatte für den Film interessant sein könnte. Oft wurden während den Verhandlungen nur juristische Termini oder nur die Nummern der Artikel zitiert, um Zeit zu sparen. Irgendwann war ich trainiert, um dennoch vorherzusehen, wann die Gespräche auch für Laien interessant sein könnten. Wir kamen uns manchmal vor wie Tierfilmer, die stundenlang vor dem Mauseloch sitzen und darauf warten, dass etwas passiert.

Als dann im Parlament plötzlich 4.000 Änderungsanträge eingereicht wurden – das ist übrigens Rekord in der Geschichte der EU-Gesetzgebung –, drohten die Verhandlungen in den Details zu ersticken. Und ausgerechnet in diese Phase der Depression, wie ich sie nenne, platzten die Enthüllungen von Snowden und veränderten die Stimmung.

kreuzer: Wenn Sie heute auf die Recherche und die Dreharbeiten in Brüssel zurückblicken, wie abgehoben empfinden Sie den europäischen Politikbetrieb gegenüber den betroffenen Bürgern?

BERNET: Ich empfand den Betrieb nicht als abgehoben. Man muss Brüssel als eine politische Plattform verstehen, auf der Antworten für die wichtigsten Themen unserer Zeit gesucht werden. Es ist erstaunlich, wie dynamisch es dort zugeht. Ich bin noch nie in meinem Leben so vielen offenen, smarten und engagierten Leuten auf einem Fleck begegnet. Diese vermitteln einem den Eindruck, dass sie sich tief verankert fühlen in der Grundidee der Europäischen Union. In Brüssel gibt es bereits so etwas wie eine supranationale, europäische Identität. Und diese Menschen leben sie.

Das Problem ist aber, dass die Debatten in Brüssel meist mehrere Jahre voraus sind. Wenn die Themen dann in den nationalen Öffentlichkeiten ankommen, ist es auch meist schon vorbei. Daher die weit verbreitete Hysterie gegenüber allem, was aus der EU kommt. Zudem nutzen die nationalen Regierungen Brüssel zum Schattenboxen. Dabei sind es meist die Mitgliedstaaten selbst, die bei der Europäisierung der Politik Hemmnisse einbauen, für die sie dann wiederum die »EU« verantwortlich machen.

kreuzer: Wie kann diese Lücke zwischen den am Gesetzgebungsprozess beteiligten Experten und den betroffenen Bürgern überbrückt werden?

BERNET: Die meisten Themen sind in sich sehr komplex. Mir kommt es so vor, dass der Übersetzungsprozess zwischen den Details politischer Entscheidungsfindung und einer öffentlichen Debatte immer schwieriger wird. Was wir brauchen, sind starke Medien, die in der Lage sind, die europäische Öffentlichkeit am Brüsseler Geschehen partizipieren zu lassen. Ich meine damit nicht nur den Alltagsjournalismus, sondern ganz unbescheiden auch solche Dinge wie diesen Dokumentarfilm. Denn ohne diesen Transfer ist es für normale Menschen nicht möglich, europäische Politik so zu reflektieren, dass sie auch in der Lage sind, darauf zu reagieren.

In Europa mit seinen vielen Sprachen ist so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit allerdings besonders schwierig herzustellen. Aber mir scheint, dass viele Menschen seit den letzten Jahren der Krisen – sei es der Euro, die Ukraine, Flucht und Migration – eine gewisse Ungeduld entwickeln, was europäische Politik angeht. Zu viele Mitgliedstaaten verteidigen nationale Pfründe, anstatt der EU das Gesicht und die Strukturen zu geben, die sie braucht, um souverän und kraftvoll mit den akuten Themen umzugehen. Vielleicht gewöhnen wir uns dann auch mal daran, dass wir eine gemeinsame Sprache für Europa-Themen brauchen. In Brüssel gibt es die schon. Es ist Englisch.

kreuzer: Was ist aus Ihrer Sicht heute die größte Gefahr für die europäische Demokratie?

BERNET: Eine große Gefahr für die Demokratie ist, dass die Menschen vergessen, was sie wert ist. Mir scheint, wir konsumieren die Vorteile der demokratischen Gesellschaft, ohne uns um ihre Grundlagen zu kümmern. Die weit verbreitete Ignoranz gegenüber dem Thema Datenschutz gehört dazu. Die Leute sagen: »Ich habe doch nichts zu verbergen.« Und das kann ja auch sein. Vielleicht haben sie auch nichts zu verbergen. Aber es reicht einfach nicht, nur an sich selbst zu denken. Was ich hier extrem vermisse, ist eine gewisse Solidarität gegenüber Menschen oder gesellschaftliche Minderheiten, die unter Umständen darauf angewiesen sind, etwas zu verbergen. Zum Beispiel für Leute, die sich politisch engagieren, investigative Journalisten oder Menschen, die ein gesundheitliches Leiden haben, das sie zu Parias machen könnte. Wenn die Überwachung durch digitale Geräte – Handy, Autocomputer, Internet, digitale Stromzähler etc. –, die wir jeden Tag benutzen, keine rechtlichen Grenzen hat, wird es diese Freiheit des Geheimnisses nicht mehr geben. Und diese Freiheit ist wichtig in einer demokratischen Gesellschaft, die sich in ihrem Kern auf die Freiheit des Individuums beruft.


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