Im Spätsommer des vergangenen Jahres gründeten sich bundesweit Gruppen, die offene Treffpunkte schaffen wollen, in denen Geflüchtete und Einheimische zusammenkommen und sich gegenseitig helfen können – etwa mit Integrationskursen, Freizeitangeboten oder Kulturabenden. »A social center for all« heißt die Forderung, die zur Not mit einer Hausbesetzung durchgesetzt werden soll. Das haben am Wochenende nun Aktivisten in Leipzig umgesetzt und die alte Führerscheinbehörde besetzt – und am Montag nach einem Gespräch mit Oberbürgermeister Burkhard Jung wieder freigegeben. Bereits vor dieser Aktion haben wir mit ihnen über ihre Motivation und Ziele gesprochen. Ihre Namen möchten die Aktivisten nicht öffentlich machen, darum sprechen sie hier unter einem Pseudonym.
kreuzer: Eure erste zweitägige Besetzung von Räumlichkeiten der Erziehungswissenschaften im Dezember 2015 war eine symbolische Besetzung, schließlich werden diese Räumlichkeiten bald von der Stadt für Geflüchtete genutzt. Wollt ihr Symbole setzen oder etwas bewegen?
SAMUEL CLEMENS: Bei der ersten Besetzung wollten wir die Medien auf unser Anliegen aufmerksam machen. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine symbolische Besetzung viele Kapazitäten frisst. Einen weiteren Symbolakt können wir nicht stemmen.
kreuzer: Was hat euch dazu bewegt, die Initiative für ein Social Center For All zu gründen?
CLEMENS: Durch den »Sommer der Migration« haben wir uns in Anbetracht der politischen Probleme machtlos gefühlt. Demonstrationen gegen rassistische Übergriffe haben keinen Nutzen. Deshalb wollten wir uns breiter aufstellen.
kreuzer: Und euer Zentrum wird die politischen Probleme lösen und mehr verändern als Demonstrationen?
CLEMENS: Man gibt zumindest einen Raum, in dem sich Gruppen treffen und organisieren können. Das ist die Grundvoraussetzung, dass man Probleme gemeinsam angehen kann.
kreuzer: Gibt es in Leipzig dafür nicht schon genügend offene Räume?
CLEMENS: Die bestehenden Räume sind für viele, die sich engagieren und nicht aus der Szene sind, nicht ansprechend. Durch das »For All« wollen wir es schaffen, dass auch Leute aus anderen Milieus zu uns kommen. Wir wollen keinen linken Ruf entstehen lassen.
kreuzer: Auf eurer Website steht, dass ihr praktisch gegen alles seid, was ihr als Symptome des kapitalistischen Wirtschaftssystems definiert: Hartz IV, Arbeitslosigkeit, schlechte Arbeitsbedingungen von Pädagogen, Rassismus, Obdachlosigkeit. Also wird das Social Center For All doch ein antikapitalistisches Zentrum mit linkem Ruf?
CLEMENS: Die Dinge können halt nicht voneinander getrennt werden. Aber wir diskutieren bei jedem Workshop, wie wir diesen Ruf umgehen, um in der breiten Gesellschaft anzukommen.
kreuzer: Haben diese Diskussionen bereits zu Ergebnissen geführt?
CLEMENS: Die Presseanfragen und die Berichterstattung über die erste Besetzung zeigen, dass die Idee gesellschaftlich akzeptiert und gewollt ist. Aber direkt Anfragen oder Unterstützung aus der Gesellschaft gab es bisher nicht.
kreuzer: Wenn der Rücklauf aus der Gesellschaft bisher so gering ist, woher nehmt ihr euer Selbstverständnis?
CLEMENS: Der entscheidende Moment der Legitimation kommt erst nach der nächsten Besetzung. Es ist aber ein Unterschied, Häuser für privaten Gebrauch zu besetzen oder ein Zentrum für alle zu schaffen. Man kann nichts gegen eine Häuserbesetzung sagen, wenn die Aktion der Gesellschaft zu Gute kommt.
kreuzer: Muss das Zentrum in einem besetzen Haus entstehen oder ist auch eine Kooperation mit der Stadt möglich? Schließlich plant diese auch ein Willkommenszentrum für Geflüchtete.
CLEMENS: Es gibt immer eine Verhandlungsbasis. Direkt zur Stadt zu gehen und ein Haus zu fordern, schätzen wir jedoch als unrealistisch ein, denn die Stadt will ein Konzept, das wir nicht haben. Außerdem ist Selbstverwaltung das größte Anliegen. Es wird sich zeigen, ob wir trotzdem mit der Stadt ein Konzept ausarbeiten oder aus dem Druck einer Besetzung heraus agieren werden.
kreuzer: Wollt ihr als alternative Krisenverwalter mit dem Social Center For All ein Konkurrenzunternehmen zu den staatlichen Einrichtungen aufbauen?
CLEMENS: Prinzipiell wollen wir keine Aufgaben des Staates übernehmen. Wir wollen einen Ort des gesammelten Protests, vor allem für Geflüchtete, bieten. Und das frei und nicht vom Staat kontrolliert. Dafür gibt es keine Konkurrenz, denn so was gibt es noch nicht.
kreuzer: Können sich Geflüchtete nicht selbst in eigenen Netzwerken organisieren?
CLEMENS: Natürlich könnten sich Geflüchtete selbst organisieren. Aber Hausordnungen von Unterkünften lassen dies gar nicht zu. Durch die Verschärfung der Asylgesetze kommt hinzu, dass sich Geflüchtete nicht an Demonstrationen beteiligen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren.
kreuzer: Seht ihr euch als weiße Vertreter der Stimmlosen?
CLEMENS: Das wollen wir vermeiden. Aber man kann von Geflüchteten nicht erwarten, dass sie selbst ein Haus besetzen. Für uns bedeutet das: Hausfriedensbruch; für Geflüchtete ein Flugticket nach Hause, also die Abschiebung. Daher ist es notwendig, dass wir uns um die Räumlichkeiten kümmern. Sobald die Stadt sagt, dass dieses Haus nicht geräumt wird, sondern bestehen kann, haben Geflüchtete da nichts zu befürchten.
kreuzer: Bei einer Podiumsdiskussion im Januar hat eure Sprecherin auf die Frage nach politischen Zielen des Social Centers For All geantwortet: »Damit bin ich überfordert. Außerdem ist es oberflächlich, die Idee auf einzelne Ziele zu reduzieren.« Habt ihr euch inzwischen etwas sortiert und könnt Ziele nennen?
CLEMENS: Hinter allem steht die Idee, marginalisierte Gruppen zusammenzubringen, die sich bisher gegeneinander ausspielen. Beispielsweise Engagierte für Geflüchtete und Erwerbslose. Wir wollen, dass es allen besser geht und nicht weiter nach dem Motto »uns gehts besser, wenn es den anderen schlechter geht« gehandelt wird.