Am vergangenen Montag marschierten 500 christliche Fundamentalisten im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz zum siebten Mal schweigend »für das Leben«. 400 zumeist junge Menschen fanden, »Emanzipation ist viel geiler — Schweigemarsch stoppen«, und folgten dem Gegenaufruf des Aktionsbündnis ProChoice Sachsen.
Das Wetter ist blendend, die Musik läuft: Noch bevor der Marsch der selbsternannten Lebensschützer beginnt, treffen die Teilnehmer der Gegendemo im nahezu menschenleer anmutenden Annaberg-Buchholz ein. Dort wartet vorerst nur die Polizei, die das verschlafene Städtchen dafür umso zahlreicher bevölkert. Es folgen die erwartbaren Schikanen: Der Beginn des Protests verschiebt sich, weil Beamte zunächst die Personalien aller Ordner auf eventuelle Vorstrafen hin überprüfen wollen. Der Gegenprotest bleibt ruhig, aber bestimmt: Die Maßnahme wird abgewehrt.
In Sachsen mobilisieren die selbsternannten Lebensschützer seit Jahren. Auch auf dem Katholikentag in Leipzig waren sie präsent. Organisationen wie der Bundesverband Lebensrecht hatten dort Stände und riefen zum Schweigemarsch in Annaberg-Buchholz auf. Es war das siebente Mal, dass sich christliche Fundamentalisten im Erzgebirge trafen, um angeblich für das Leben zu demonstrieren. Konkret meinen Anhänger evangelikaler Freikirchen, die in der Region sehr stark vertreten sind, jedoch vor allem ein Verbot von Abtreibungen und die Verteidigung patriarchaler Familienstrukturen. Dabei wird das Lebensrecht von Embryonen über das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau gestellt. Für ebenjenes Recht auf Selbstbestimmung und für die Abschaffung des Artikels 218 im deutschen Strafgesetz, unter dem weiterhin das Abtreibungsrecht in Deutschland verhandelt wird, richtete sich die Gegendemonstration, bei der sich deutlich mehr Frauen einfanden als beim Schweigemarsch.
Beide Demonstrationszüge begegnen sich kurz nach Demonstrationsbeginn, werden von der Polizei jedoch auf Abstand gehalten. Dem insbesondere von Familien und älteren Paaren besuchten Schweigemarsch rufen die Gegner ihre Kritik mit lauten Sprüchen entgegen. Auch der eine oder andere rot eingefärbte Tampon segelt in Richtung der Abtreibungsgegner. Danach laufen beide Demonstrationen auf den vorgeschriebenen Routen weiter.
Anmelder des Marschs ist in diesem Jahr erstmals der Verein »Lebensrecht Sachsen«. Zuvor hatten die Christdemokraten für das Leben (CDL), eine Initiative innerhalb der CDU/CSU, die Demonstrationen organisiert. Der Wechsel war wohl ein strategischer: Man will bei einer potenziellen AfD-Wählerschaft anschlussfähig bleiben. Selbst erklärt der Verein zu seiner Gründung, man wolle alle Bürger erreichen, die sich für den Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende bekennen.
Beim Personal gibt es freilich viele Überschneidungen: Das CDU-Mitglied Thomas Schneider ist stellvertretender Vorsitzender der CDL Sachsen und Gründer der »Aktion Linkstrend Stoppen«, die gegen einen vermeintlichen Linkstrend innerhalb der CDU vorgehen wollen. Außerdem ist er nun auch Vorsitzender vom Verein Lebensschutz Sachsen. Selbst die Slogans der Demo sind auf AfD-Kurs: Plakate wie »Babies welcome« oder Banner mit »Willkommenskultur für ungeborene Kinder« sind nahezu eins zu eins aus dem aktuellen Parteiprogramm der AfD übernommen.
Die Gegendemo legt ein hohes Tempo vor, um die Abschlusskundgebung der Lebensschützer stören zu können. Das geschieht dann lautstark. Die Redebeiträge bei den Evangelikalen werden dennoch gehalten: Eine Hebamme aus der Region schildert bildhaft, wie Embryonen bei einer Abtreibung »auseinandergeschnibbelt und auseinandergerissen« würden, und dass sie als Frau und als Hebamme auch wisse, was so eine Abtreibung psychisch und emotional mit jeder Frau mache. Andächtig folgt ihr das kinderreiche Publikum, das unter anderem T-Shirts mit Aufschriften wie »Jesus ist mein König« trägt. Nächster ist Martin Lohmann, Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht, Dachverband von aktuell 13 »Lebensschutz«-Gruppen. In pastoraler Manier integriert er sächsische Dauerbrennerthemen wie Migration und Extremismusdebatte in seinen Beitrag und betont, dass »wir in Deutschland« keinen Extremismus mehr bräuchten, und zwar weder »rot lackierten braunen Extremismus noch braunen rot lackierten Extremismus«. Zum Schluss fordert er sein Publikum dazu auf, zum nächsten »Marsch für das Leben« am 17. September nach Berlin zu fahren. Dort ist der Schulterschluss mit der AfD schon seit Längerem vollzogen. Die EU-Parlamentarierin Beatrix von Storch marschierte öfter in der ersten Reihe mit.