Das Mediengeschäft hat sich länger schon der Wissenschaft bemächtigt. Wenn Themen populär sind, müssen sie bespielt, die eigene Bedeutung muss bewirtschaftet werden. Das geht besonders gut mit schönen Diagrammen. Die neue »Mitte«-Studie ist ein geradezu perfektes Beispiel, wie sich die Wissenschaft dem Medienzirkus an den Hals wirft und dabei die eigenen Standards vernachlässigt. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch politisch brisant.
Der Medienrummel war enorm, als die neue »Mitte«-Studie der Leipziger Forscher Oliver Decker, Elmar Brähler und Kollegen offiziell vorgestellt wurde. Die vergangenen Monate haben das Thema ohne Zweifel heiß gemacht, schließlich ist aller Orten eine auffällige und beängstigende Rechtsdrift zu beobachten. Die Studie liefert dazu bereits im Titel eine starke These: Die »Mitte« (mal in Anführungszeichen verpackt und mal nicht) sei mittlerweile »enthemmt«; sie habe also jede Hemmung, jeden vorgeschobenen Anstand fallen gelassen und traue sich nun, ihre xenophobe, rassistische und islamfeindliche Einstellung offen auszuleben. Angesichts der Debatten zur sogenannten Flüchtlingskrise entspricht dies zunächst dem Augenschein, schließlich schiebt sich völkisches Denken immer deutlicher an die Oberfläche.
Doch gerade im Rahmen dieser »Langzeitstudie«, wie die Forscher ihre eigene Arbeit klassifizieren, überrascht dies doch, sprach die Ausgabe von 2014 noch von einer »stabilisierten Mitte«. Damals war die Kernaussage eher milde: Die Zahl jener Bürger mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild sei rückläufig, die politische Mitte habe sich im Wesentlichen stabilisiert, weil sich die Wirtschaft ebenfalls stabil halte.
Nun haben entsprechende Studien die Aufgabe, Veränderungen zu messen. Zwischen »stabil« und »enthemmt« besteht allerdings ein ganz grundsätzlicher Unterschied, der sich schwerlich nur auf Messungen zurückführen lässt. Wenn die heutige »Mitte« mittlerweile »enthemmt« sei, heißt das unweigerlich, sie trägt entsprechende Einstellungen länger schon mit sich und traut sich erst jetzt, sie offen auszuleben. Kurz: Entweder die Studie von 2014 lieferte einen falschen Output oder die aktuelle. Irgendwo zwischen »stabil« und »enthemmt« liegt jedenfalls ein auffälliger Fehler, dessen wissenschaftlich saubere Aufarbeitung allerdings, so lässt sich vermuten, der kurzweiligen Prominenz im Mediengeschäft geopfert wurde.
Im Fokus der Studien stand bisher ein geschlossen rechtsextremes Weltbild, bestehend aus sechs zentralen Dimensionen mit insgesamt 18 Aussagen. 2016 wurde für Gesamtdeutschland mit Blick auf diese Dimension der niedrigste Wert seit 2002 gemessen (5,4 Prozent gegenüber 5,7 Prozent im Jahr 2014). Dabei sei in den alten Bundesländern ein Rückgang um 0,4 Prozent und in den neuen ein Anstieg um 0,2 Prozent zu beobachten. Ob die Unterschiede überhaupt statistisch signifikant sind, bleibt genauso aus wie die Berechnung von Effektstärken dieser beobachteten Unterschiede. Kurz: Die Differenzen zwischen 2014 und 2016 sind kaum von Belang, und wir dürften es eigentlich – im Bild der Studie von 2014 – immer noch mit einer »stabilisierten Mitte« zu tun haben. Diese Dimension trägt die neue These der Verfasser also nicht.
Der Osten sei, wie üblich, ein Problemgebiet. In erster Linie seien dafür die autoritären Strukturen in der DDR verantwortlich, heißt es in der Studie. Die Erhebung von 2002 zeigt allerdings, dass rechtsextreme Einstellungen in Ostdeutschland geringer ausgeprägt waren als im Westen. Dass die hohen Zahlen im Osten mehr als 25 Jahre nach der Wende, also deutlich weiter weg von der DDR als 2002, sich dennoch aus deren langem Schatten begründen lassen sollen, ist bestenfalls eine streitbare These.
Aussagen im Zeitverlauf suggerieren zudem, dass es sich um eine Längsschnittstudie handelt. Die Autoren führen zwar sehr detailliert Buch darüber, wie die Stichprobe gezogen wurde, aber nicht, ob dieselben (also nicht die gleichen) Personen befragt wurden. Erst so lassen sich überhaupt Aussagen im Zeitverlauf rechtfertigen. Wir haben es also vermutlich mit Querschnittsdaten zu tun, aus denen nur sehr eingeschränkt vergleichende Ergebnisse abgeleitet werden können.
Besonders bei der Auswertung nach politischen Parteien wäre eine Relativierung der Zahlen Pflicht. Während die Stichprobe nur dort repräsentativ sein kann, wo ein Merkmal der Stichprobe das Abbild der Grundgesamtheit repräsentiert (zum Beispiel die Verteilung des Geschlechts), bringt die vergleichsweise kleine Gruppe an jeweils parteigebundenen Befragten freilich statistische Verzerrungseffekte mit sich. Mit anderen Worten: Eine Klarheit und Transparenz von Daten – wie in der Wissenschaft gefordert und erforderlich – sieht anders aus. Die Autoren geben nur ansatzweise Auskunft über Testverfahren oder Kennwerte, die wichtig sind, um die Qualität der Daten seriös einschätzen zu können.
Am Ende macht die Studie dann das, was sich wissenschaftlich nicht gebührt: Bestimmte Zahlen bekommen Beine und rennen nun durch den Mediendschungel – zum Beispiel zur Islamfeindlichkeit. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, ob die erwähnte Dimension überhaupt mit mehreren Items gemessen wurde. Übrig bleiben einzelne Items zur Islamfeindlichkeit oder zur Homophobie, die bei 40 oder 50 Prozent liegen. Damit lässt sich jedoch kein Vorurteil messen, jedenfalls nicht seriös.
Für den Berliner »Linksextremismusforscher« Klaus Schroeder ist diese Studie leider eine Steilvorlage. Sie sei reißerisch und belanglos, argumentiert er im Deutschlandfunk. Leider – muss man an dieser Stelle sagen – liegt er damit nicht völlig falsch, auch wenn Schroeder erst voriges Jahr mit einer skandalös tendenziösen Erhebung das wahrlich abgedrehte Argument vertrat, die deutsche Gesellschaft werde vom Linksextremismus in ihrer Existenz unmittelbar bedroht.
Kurzum: Für einen gewissen Medienrummel wurden hier offenbar wissenschaftliche Standards untergraben. Das hat auch eine gefährliche Seite: Die allenthalben zu beobachtende Aufregung um die beängstigend hohen Zugstimmungswerte zur Islamfeindlichkeit dürften auch den geistigen Brandstiftern um Alexander Gauland oder Götz Kubitschek aufgefallen sein. Und die können sich nun einer empirischen Erhebung bedienen, um zu argumentieren, dass sie doch – zumindest beinahe – die Mehrheit repräsentieren.