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Sport

Der Glaube an die Hölle

Die BSG Chemie ist am Wochenende aufgestiegen – ein Saisonrückblick

  Der Glaube an die Hölle | Die BSG Chemie ist am Wochenende aufgestiegen – ein Saisonrückblick

Samstagnachmittag, letzter Spieltag in der Sachsenliga, Endspielstimmung im Alfred-Kunze-Sportpark. Viele Zweifel an einem Aufstieg in die nächsthöhere Spielklasse mussten die Spieler der BSG Chemie jetzt auf dem Fußballplatz bekämpfen. Die fast 4.000 Zuschauer im Leutzscher Holz merkten, dass die vielfach vertanen Torchancen bis zur 75. Minute kein Grund sein durften, um die Mannschaft nicht anzufeuern, denn dann löste sich endlich der Knoten.

 

Der Ort

Wer vom alten Leutzscher Bahnhof den Weg zum Alfred-Kunze-Sportpark (AKS) antritt, der geht gen Leutzscher Hölle. Das verkündet der überdimensionale grün-weiße Schriftzug an einer Hauswand und den sollte niemand niemals auf die leichte Schulter nehmen. Hier im AKS wurden in der nun abgelaufenen Saison diesen großen Worten einige große Bilder zur Seite gestellt, um das Hausrecht nicht nur akustisch, sondern auch visuell zu unterstreichen. Am Samstag war Grün auf Weiß »Chemie Leipzig für immer mit Dir« am verwaisten Gästeblock zu lesen. Vor dem Norddamm stand Grün auf Weiß geschrieben »Nichts ist größer als Du«, gefolgt von einer in grünen und weißen Luftballons eingerahmten Fahne, auf der das BSG-Logo zu sehen war. Es gab im Laufe der Saison kompliziertere Choreografien, aber am Samstag ging es nicht um ästhetische Erscheinungen, sondern um ein möglichst ohne Firlefanz vorgetragenes Spiel mit positivem Ausgang. Auf dem Weg zum Stadion waren dann auch Stimmklänge aus der Hauptstadt zu vernehmen, die Geschichten vom Schwarzmarkt bei Chemie-Spielen damals zu DDR-Zeiten zum Besten gaben. Die passten trefflich zu Männern mit schneeweißer Mähne, die ihre alte Chemie-Flagge aus dem Keller gekramt hatten.

Die Saison

Sie begann in Leutzsch mit einem haushohen Heimsieg gegen Eilenburg. Der »Herzenswunsch« Aufstieg schien nach weiteren Siegen in realistischer Nähe. Auswärtsniederlagen schmälerten das Bild etwas, stellten aber die Tabellenführung nicht in Frage. Trotzdem wurde die Zusammenarbeit mit André Schönitz als Trainer aufgegeben und Ende Januar Dietmar Demuth als neuer Coach vorgestellt. Er führte St. Pauli in die Bundesliga, Babelsberg 03 in die 3. Liga, zuletzt trainierte er Regionalligist Meuselwitz – also alles Klassen etwas über der Sachsenliga, aus der Chemie nun unbedingt aufsteigen wollte. Das erste Pflichtspiel wurde in Eilenburg gewonnen. Danach allerdings wischte sich mancher am Spielfeldrand verwundert die Augen. Plötzlich schien kein System mehr auf dem Platz zu herrschen. Kopflos wirkte alles und der Zug zum Tor fehlte. Logischerweise führte dies nicht zu souveränen Siegen an der Tabellenspitze, um das Saisonziel zu erreichen. Vielmehr blieben dringend notwendige Punkte für die Meisterschaft bei Mannschaften aus der unteren Ligatabelle liegen. Und bei den Heimspielen gegen Heidenau oder Chemnitz folgte der Gästeausgleich auch noch in langen Nachspielzeiten. Da konnte schon ein leicht bleiernes Gefühl aufkommen. Zweifel und Zaudern machten sich auf den Rängen breit – vor allem, wenn das Spiel mehr als 90 Minuten dauerte. Durchhalten und den Glauben an sich nicht zu vergessen, hieß es dagegen vom Norddamm. Wie etwa mit dem Spruch, der an den kurz zuvor gestorbenen Muhammad Ali vor dem Spiel gegen den Tabellenführer Kamenz Anfang Juni erinnerte: »Wenn mein Kopf es sich ausdenken kann, wenn mein Herz daran glauben kann – dann kann ich es auch erreichen.« Das Bleierne hatte sich zugunsten einer neuen Frische auf dem Platz verflüchtet. Chemie gewann 1:0 und für Kapitän Stefan Karau war es das bis dahin beste Spiel der Saison. Für den Trainer war sowieso klar, dass alle folgenden Spiele gewonnen werden. Also auch das am letzten Samstag, obwohl der erkrankte Torjäger Tommy Kind fehlte.

Das Endspiel

»Wer nicht alles gibt, gibt nichts«, so steht es am Spielergang geschrieben. Zusätzliche Motivation lieferte die vor dem Spielbeginn verlesene Ansprache von Alfred Kunze, dessen Urenkelin im Stadion begrüßt wurde. Alfred Kunze, der Meistertrainer von 1964, appellierte damals an Mannschaftsgeist, Mut und Willenskraft.

Vor dem Spiel wurde Andy Müller zum »Spieler der Saison« ausgezeichnet. Das sollte ihm Elan und Anreiz genug sein, um die Vertragsgespräche mit der Vereinsführung für die anstehende Oberliga-Saison ganz positiv pragmatisch mit einem Ja abzuschließen. Denn wer mitten in der Saison mit Kreuzbandriss aufläuft, im Endspiel nicht nur ein Tor schießt, sondern weitere vorbereitet, der ist für die Altherrenmannschaft noch reichlich zu jung.

Zuerst einmal begann mit Anpfiff leider das von Chemie bereits in der letzten Saison favorisierte Spiel der ungenutzten Torchancen. Da Ligakonkurrent Grimma zur Halbzeit führte, musste Chemie gewinnen, um aufgrund der besseren Tordifferenz aufsteigen zu können. Was manchen Zuschauern in der Pause schon in einen übernervösen Zustand führte. In der zweiten Hälfte vergingen weitere Minuten und Chancenvergaben, bis nach fast siebzig Minuten endlich das erste Tor fiel – dies allerdings aus einer sehr sehenswerten Kombination heraus. Nicolas Ludwig traf in der 69. Minute zum 1:0 in Zusammenarbeit mit Andy Müller, der wiederum selbst in der 82. Minute zum 2:0 traf nach einem Pass von Sven Schlüchtermann – und Müller war es auch, der Nico Schönitz in der 90. Minute den Ball für das dritten Tor weiterleitete.

Somit waren Staffelsieg und Aufstieg geschafft. Klingt einfach, aber war für manchen am Rande nur schwer auszuhalten. Und das galt nicht nur für das Publikum. Nach dem Spiel nahm das Trainergespann Dietmar Demuth und Hans-Jürgen Weiß erst einmal für eine Zigarettenlänge auf der Bank Platz, denn siebzig Minuten an der Seitenlinie Arme rudernd ein Tor herbeizuwinken, ist auch nicht einfach.

So hätte die Dramaturgie für alle nicht besser laufen können. Diejenigen, die vor dem Spiel zweifelten, dass der Aufstieg zu schaffen sei, konnten sich siebzig Minuten daran weiden, dass sie es bereits vorab gewusst hatten. Die Optimisten sorgten für eine prächtige Fußballstimmung und die Spieler zeigten, dass schöne Tore irgendwann fallen können, wenn es sein muss.

 

https://www.youtube.com/watch?v=upCPuNUt314

Die Vision

In der Oberliga trifft Chemie nun auf die aus der Sachsenliga 2014/15 bekannten Mannschaften wie Inter Leipzig oder den Bischofswerdaer Fußballverein. Die zwei Aufsteiger beendeten die Saison kurz hinter dem unbesiegten 1. FC Lok Leipzig und mit einem gehörigen Abstand zu den anderen Mannschaften. Der Vorstandsvorsitzender Frank Kühne erklärte den Klassenerhalt als Ziel für die nächste Saison.

Nun bleibt es abzuwarten, wie sich der Aufstieg in die höhere Spielklasse ganz konkret im Verein widerspiegelt. Dort existieren einige Baustellen, um das Fußballgeschehen der ersten Mannschaft und des Nachwuchses wie auch die anderen Vereinssportarten zu organisieren. Das sollte idealerweise so passieren, dass niemand verloren geht, aber trotzdem immer mit einem weiten Blick in die Zukunft geschaut wird – ohne die Vergangenheit zu vergessen.


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