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Politik

»Es gibt keine gleiche Augenhöhe«

Zwei Leipziger Blogger und Aktivisten über die Situation in Calais vor der Räumung

  »Es gibt keine gleiche Augenhöhe« | Zwei Leipziger Blogger und Aktivisten über die Situation in Calais vor der Räumung

Zurzeit wird der sogenannte »Jungle« in Calais geräumt. Er war ein Paradebeispiel gescheiterter europäischer Asylpolitik. Etwa zehntausend Geflüchtete saßen hier fest, weil ihnen die Weiterreise nach England verwehrt wird. Das Leipziger Projekt Refugee Support Calais hat regelmäßig über die Missstände und miserablen Zuständen berichtet. Im Interview erzählen Fabian Blunck und Nico Sommerfeld, wie sie die Situation vor Ort erlebten.

kreuzer: Wie sind eure Erwartungen mit der Realität vor Ort kollidiert?

Nico Sommerfeld: Ich hatte keinen Schockmoment. Den hatte ich eher, als ich im Februar das erste Mal von dem Lager gehört habe.

Fabian Blunck: Ich fand es sehr krass, wie viel weniger Infrastruktur im Vergleich zum März da war. Dass zum Beispiel die Straße, in der sich Shop an Restaurant reihte, jetzt weg war. Die Konsequenzen zu sehen, wenn der französische Staat diese Form von Selbstorganisation bewusst unterbindet. Die Shops wurden von der Polizei geräumt, die vermeintlichen Besitzer wegen Schwarzarbeit festgenommen, denn sie haben ja keine Steuern bezahlt. Frankreich will die Leute nicht als Asylbewerber haben, daher werden sie in einem Nicht-Status gelassen.

kreuzer: Wie ist das Projekt zustande gekommen?

Blunck: Als alle nach Griechenland und Idomeni schauten, entschieden wir uns für Frankreich. Wir waren überrascht, dass es Lager in dieser Größe nicht nur an den europäischen Außengrenzen gibt. Im März und im September fuhren wir dann für jeweils zwei Wochen hin. In den Monaten dazwischen hielten wir in ganz Deutschland Vorträge, um über unsere Erfahrungen und Eindrücke im Widerspruch zwischen Hilfe, Selbstorganisation und Aktivismus zu berichten.

kreuzer: Was wollt ihr damit bewirken?

Sommerfeld: Wir wollen eine Öffentlichkeit herstellen. Daher bloggten wir für die Tageszeitung neues deutschland. Außerdem haben wir Technik gesammelt, um sie der öffentlichen Bibliothek »jungle Books« zur Verfügung zu stellen und wollten die selbstorganisierten Strukturen kennenlernen. Bei unserer Fahrt im September legten wir den Schwerpunkt auf Interviews mit LKW-FahrerInnen, BewohnerInnen, Geflüchteten, HelferInnen und GewerkschaftsvertreterInnen.

kreuzer: Welche Rolle nehmt ihr ein, wenn ihr im Camp seid? Wie geht ihr mit Machtdifferenzen um?

Blunck: Während der beiden Fahrten waren wir auch Freiwillige, die Spenden sortierten, Essen kochten oder sonstige Hilfetätigkeiten übernahmen. Wir haben also die Rollen Freiwillige, BloggerInnen, AktivistInnen und Supporter eingenommen. Diese Probleme zwischen Hilfsstrukturen und Geflüchteten und etwaige Rollenkonflikte haben wir versucht, möglichst transparent auf dem Blog zu skizzieren. So groß unsere Abneigung nach wie vor ist, dass Erwachsene wie Kinder behandelt werden, wir mussten sie dennoch auch verteidigen.

kreuzer: Führt das nicht Machtverhältnisse, die schon bestehen, weiter fort?

Blunck: Ja, es gibt keine gleiche Augenhöhe. Die einen sind ausgeliefert und die anderen nicht. Aber mir würde nichts anderes einfallen.

Sommerfeld: Es ist aber auch ein Problem, dass die Flucht individualisiert bleibt. Die Hilfsorganisationen verhindern in gewisser Weise auch, dass die Menschen ihr Leben dort gemeinsam organisieren können. Es ist so fern davon, dass das Problem dort gelöst wird. Die Hilfsorganisationen nehmen eine funktionelle Position innerhalb des Grenzregimes ein.

Blunck: Ich sehe das anders. In den ganzen wilden Camps drum herum sind die Leute auf sich alleine gestellt, aber in dem großen Camp stellt die Hilfsorganisation eben die Infrastruktur zur Verfügung. Man ist nicht abhängig davon, wen man kennt. Das ist schon ein großer Schritt Richtung Verringerung von Machtasymmetrien.

kreuzer: Was war die schwierigste Situation, die ihr dort erlebt habt?

Sommerfeld: Für mich waren die Interviews am härtesten. Zum einen mit den Truckern, weil man natürlich weiß, dass das auch alle keine Engel sind. Im Gespräch mit ihnen werden dann die ganz harten Lösungen genannt. Im Sinne von: »Ungarn macht das richtig, da kommen sie über die Grenze und es wird geschossen.« Auch mit Geflüchteten war es schwierig, weil man sehr instrumentell herangeht. Man kommt rein und weiß, man hat jetzt eine halbe Stunde. Die Geflüchteten erzählen einem dann auf Nachfrage mehr oder weniger ihre Lebensgeschichte. Aber man hat ständig im Hinterkopf, dass man eine Frageabsicht hat und am Ende ein Interview haben will. Das ist extrem unangenehm. Nach drei Stunden zischt man wieder ab und lässt die Leute alleine.

kreuzer: Was wäre der Idealfall in der Verwaltung des Ortes?

Blunck: Dass es ihn nicht gibt. Wir haben aber gelernt, dass es auch etwas Gutes ist, dass diese Infrastruktur gestellt wird, damit sich die Leute darauf konzentrieren können, warum sie dort gestrandet sind. Es geht nicht darum, ob das Essen besonders gut ist, sondern sie wollen einfach weiter. Daher ist es auch eine Unterstützung zur Fluchthilfe, damit die Geflüchteten sich nicht mehr darum kümmern müssen, ob sie Klamotten, ein trockenes Bett oder Essen haben. Das wird gestellt und man kann sich darum bemühen, die Flucht fortzusetzen.


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