»Herzliche Rivalität« – so bezeichnete der Presseverantwortliche der BSG Chemie Jörg Augsburg das Verhältnis zwischen den zwei Fußballvereinen BSG Chemie Leipzig und dem 1. FC Lokomotive Leipzig. Beide traten zum Viertelfinalspiel des Sachsenpokals am Sonntag gegeneinander an, und das erzeugte ein gewaltiges Rascheln im Blätterwald. Die Medien offenbarten in erster Linie Gewaltfantasien, das sportliche Moment trat dabei fast gänzlich in den Hintergrund. Vorab: Die im Vorfeld hochgeschriebene Gewalt fand im Stadion nicht statt. Dafür gab es einige Verstöße gegen die Stadionordnung im Alfred-Kunze-Sportpark von Lok-Fans.
Vor dem Spiel votierte die Leserschaft einer Leipziger Tageszeitung für einen Sieg von Chemie, wobei ein Erfolg von Lok prozentual noch hinter der zur Auswahl gestandenen Aussage »Ist mir egal. Hauptsache, es bleibt friedlich« lag.
Vor Anpfiff des Spiels mussten die Besucher eine Reihe von Kontrollen durch hochgerüstete Polizeibeamte durchlaufen. Allein auf der Gustav-Esche-Straße und am Ritterschlösschen befanden sich drei, bis der Weg zum Haupteingang des Alfred-Kunze-Sportparks (AKS) zu sehen war. Da die Beamten offensichtlich ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Fußballpublikum besitzen, musste man sich schon mal mit der Behauptung auseinandersetzen: »Na, Sie wollen bestimmt nur durchfahren und nicht zum Fußball!«
Zwischen den Polizeikontrollen auf der Straße hing am alten Leutzscher Bahnhof eine kleine Beflaggung mit der Botschaft »Lok 4 ever«, Blau auf Weiß. Riesengroß dagegen steht in Grün und Weiß »Leutzscher Hölle« an einer Wand geschrieben, an der die Lok-Fans auf ihrem Weg zum Stadion entlanglaufen mussten. Lok-Trainer Heiko Scholz – spielte von 1984 bis 86 bei der BSG, bevor er zu Lok wechselte – wusste bereits im Vorfeld um den Leutzscher Festungscharakter.
»Juden Chemie«-Aufkleber
Dass das Viertelfinale als Derby ein Ereignis der besonderen Art war, kündeten bereits die im Vorfeld in einigen Medien zu findenden martialischen Überschriften an, die sich auf einen Gewaltrausch beim Derby fokussierten. Bestätigung dafür konnte bei der »Fanszene Lokomotive Leipzig« geholt werden. Auf ihrer Facebookseite feierte sie ihren Übergriff auf den AKS am Reformationstag, ihren Status als Opfer, weil das Ordnungsamt 150 der registrierten Hooligans der Kategorie C die Reise nach Leutzsch verbot, und ihre martialische Choreo am Freitagabend zum Abschlusstraining der Mannschaft. Bei Letzterer ging sie ihrem Hang zu monumentalem Pyroeinsatz nach und veröffentlichte ein Foto, auf dem ein Mann mit einem grün-weißen Basecap von einem mit Lok-Schals Behangenen eins auf die Nase bekam – zumindest angedeutet. Auf diese Inszenierungen reagierte der Norddamm, der Stammplatz der Leutzscher Ultras, bereits, als sich die Mannschaften am sonnigen Sonntagmittag aufwärmten, durch das Banner »6.500 likes – 250 beim Abschlusstraining – wir gratulieren Fanszene«. Dass die Seite mittlerweile über 7.000 Likes sammelte, alarmiert, denn es offenbart die flotte Verbreitung dieses gewaltreichen Gedankenguts. Zudem finden sich dort auch zahlreiche Empfehlungen der Imperium-Fight-Veranstaltung. Ebenfalls im Vorfeld wurden »Juden Chemie«-Aufkleber veröffentlicht. Zwischen den zwei Wörtern ist das grün-weiße Fünfeck mit einem Stern in der Mitte anstelle des Chemie-Logos zu sehen. Der Norddamm reagierte auf diesen antisemitischen Angriff mit dem Banner »Leutzscher Juden« auf Torhöhe. Hierbei waren in der Mitte das BSG-Logo und der Stern miteinander verwoben.
Die »Fanszene Lokomotive« behängte ihren Teil des Gästeblocks mit dem überdimensionalen Banner, auf dem Blau auf Gelb zu lesen war: »Good night green white«. Diesen konnten Polizeipräsident Bernd Merbitz und der Präsident des Sächsischen Fußball-Verbandes Hermann Winkler bei ihrer gemeinsamen Inspektion kurz vor dem Anpfiff nicht übersehen. Vor allem die an den Rändern zu sehende Gewaltszene mit einer Gestalt, die auf einen bereits am Boden Liegenden einschlug.
Tradition der Schlägereien
[caption id="attachment_50004" align="alignleft" width="272"] Polizeipräsenz beim Derby[/caption]
Der Stadionsprecher wies vor dem Spiel auf die Geschichte dieses Derbys bis in die 1930er Jahre hin. Es begann mit einem Freundschaftsspiel – man nannte es damals Gesellschaftsspiel – des Vereins für Bewegungsspiele (VfB, Vorgänger von Lok) gegen den Sportverein für Turnen und Rasenspiele (TuRa, Vorgänger von Chemie, spielte seit 1935 in Leutzsch) am 17. März 1935. Hierbei besiegte das 1932 von einem Unternehmer gegründete Team TuRa den VfB, der sich 1903 den ersten deutschen Meistertitel holte, mit 2:1. Das war deswegen brisant, weil einige bekannte Fußballer aus den seit dem Frühjahr 1933 verbotenen Arbeitervereinen bei TuRa Unterschlupf gefunden hatten, während der VfB den bürgerlichen Deutschen Fußball-Bund 1900 in Leipzig mitbegründete. Als der VfB dann in der Gauliga 1936/37 auf TuRa traf, kam es beim ersten Spiel in Probstheida am 13. September 1936 vor 10.000 Zuschauern zu Schlägereien unter den Zuschauern und TuRa kassierte einige Platzverweise. Die Konsequenz aus diesem Spiel bestand darin, dass das Rückspiel in Leutzsch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand und danach eine Ordnungsmannschaft der SA die Heim- und Auswärtsspiele der Leutzscher begleiten musste.
Vor dem Derbyspiel am Sonntag wies der Hausherr bereits im Vorfeld an, »dass auch zum Pokalderby die Stadionordnung des Alfred-Kunze-Sportparks uneingeschränkt durchgesetzt wird. Das betrifft unter anderem das Vorzeigen oder Äußern rassistischer, antisemitischer, homophober und anderer menschenfeindlicher Symbole und Slogans sowie entsprechende szenetypische Kleidung«. Die »Fanszene Lokomotive Leipzig« hielt sich nicht daran und zeigte in der 40. Minute den Spruch »Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher« per Banner. Seit der Chemie-Mitgliedersammlung im Juni ist die Parole aufgrund ihres rechten Denkansatzes verboten. Offensichtlich sollte Zwietracht in den Reihen der grün-weißen Anhänger gesät werden. Denn das Verbot aufgrund des nationalistischen Inhalts lief nicht ohne Debatten in Leutzsch über die Bühne. Außerdem lieferten Teile des Gästeblocks konkrete Hinweise auf die vor dem Derby an Autobrücken aufgehängten Puppen in Grün samt Chemie-Attributen mit ihrem Spruch: »An jedem Montag ihr grünen Schweine, hängt an Brücken, vorher gab es Keile.«
Duseltor in Unterzahl
Um auf den Fußballsport zu kommen: Auf dem Rasen sah das Publikum 90 Minuten kaum wirklich richtig gut herausgespielte Torchancen, obwohl Chemie hochmotiviert die zweite Halbzeit begann und ab der 60. Minute durch den Platzverweis von Steffen Fritzsch nach einem schweren Foul an Chemie-Kapitän Stefan Karau in Überzahl spielte. Irgendwie wollte das ungeschriebene Leutzscher Gesetz nicht greifen: Wenn Chemie in der zweiten Halbzeit auf den Norddamm zuspielt, fallen Tore – dieses Mal jedoch auch nicht in der Nachspielzeit.
In der 116. Minute, vier Minuten vor einem Elfmeterschießen, traf Hiromu Watahiki per Duseltor und somit stand das Ergebnis fest: ein Sieg für den Regionalligisten Lok gegen den Oberligisten Chemie. Den hielt zumindest Chemie-Spieler Andy Müller für unverdient. Djamal Ziane von Lok sah das etwas anders; obwohl Lok seiner Meinung nicht als Favorit angetreten war, wollte er ein besseres Spiel seiner Elf in Unterzahl bemerkt haben.
»Derbysieger 2016, Hey Hey«
Lok-Trainer Heiko Scholz hatte im Vorfeld lediglich eine 50-prozentige Chance für seine Mannschaft prognostiziert, doch dafür war Lok erstaunlich gut auf den Sieg vorbereitet. Unmittelbar nach dem Abpfiff verteilte der verletzte Lok-Kapitän Markus Krug gelbe Nickis mit der blauen Aufschrift: »Derbysieger 2016, Hey Hey«. Die Chemiker hätten keine gehabt, wenn sie als Gewinner vom Platz gegangen wären.
Das Fazit aus dem Derby: Die »Fanszene Lokomotive Leipzig« forderte beim Regionalliga-Heimspiel gegen den FC Victoria Berlin 1889 Berlin per überdimensionalem Banner »Dialoge statt Verbote« – dabei ging es um die Maßnahmen, die die Lok-Führung nach den Böllerwürfen beim Heimspiel gegen RB II beschlossen hatte. Im Hinblick auf die Taten vorm und beim Derby stellt sich die Frage, zu welchen Dialogen diese Gruppe überhaupt fähig ist, nicht mehr. Die Tatsachen, die sie schuf, sprechen die deutliche Sprache menschenverachtenden Gedankenguts.