Vorab aus dem kommenden kreuzer 01/2017: Programmchefin Grit Lemke verlässt überraschend das Dok Leipzig. Im Gespräch mit dem kreuzer erklärt sie die Gründe für ihre Entscheidung. Festivalleiterin Leena Pasanen erläutert dagegen ihre geplanten »Umstrukturierungen«.
Grit Lemke wirkt befreit. »Es ist verrückt. Ich wollte meine Entscheidung eigentlich noch nicht öffentlich machen. Ich hatte es meinen Kollegen erzählt und einer von ihnen hat es auf Facebook gepostet. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war meine ganze Mailbox voll. Seitdem steht das Telefon nicht mehr still.« Eine Woche vor Weihnachten entlud sich die Spannung, die sich über die vergangenen zwei Jahre, seit dem Amtsantritt der Festivalleiterin Leena Pasanen, aufgebaut hatte. Immer wieder hörte man in den Monaten zuvor von Missstimmungen im Team des traditionsreichen Festivals. Viele Mitarbeiter verließen das Dok. Zuletzt hatte Annegret Richter die Leitung des Animationsfilmbereichs des Dok Leipzig abgeben müssen. Mitarbeiter klagten über fehlende Kommunikation und eine allgemeine Konzeptlosigkeit der Festivalleitung. Kooperationspartner wie die Bundeszentrale für politische Bildung würden inzwischen nicht mehr mit dem Dok Leipzig zusammenarbeiten. Auch dass Intendantin Pasanen zu selten anwesend sei, selbst während des Festivals, war ein – unter der Hand – oft gehörter Vorwurf. Zudem mache die sich angeblich verschärfende finanzielle Lage des Festivals den Mitarbeitern zu schaffen, hört man aus dem Team. So heißt es von Insidern etwa, der Programmetat sei deutlich gekürzt worden, Rechnungen würden sich mittlerweile stapeln.
Das Programm trug Lemkes Handschrift
Im Oktober 2014 bestätigte der Stadtrat Leena Pasanen als neue Intendantin des Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm und zugleich als Geschäftsführerin der städtischen Leipziger Dok-Filmwochen GmbH. Die Finnin hatte zuvor als Programmgestalterin beim finnischen Fernsehen und zuletzt als Leiterin des Kulturinstituts an der finnischen Botschaft in Budapest gearbeitet. Sie übernahm die Festivalleitung von Claas Danielsen, der das Festival in den letzten zehn Jahren geführt hatte. Danielsen war das Gesicht des Festivals, Grit Lemke das Herz. Sie begann schon 1991 ihre Arbeit beim Dok Leipzig, 2010 wurde sie Leiterin des Dokumentarfilmprogramms. Zuletzt war sie für das gesamte Filmprogramm verantwortlich. Die Auswahl der Filme und die Zusammenstellung des Programms trugen ihre Handschrift.
[caption id="attachment_50898" align="alignleft" width="272"] Grit Lemke, Foto: Susann Jehnichen[/caption]
Doch seit dem Amtsantritt von Pasanen machte sich Unmut breit im Team. Erst habe es Streit gegeben über den Stellenwert des Jubiläums zur Gründung des Festivals vor 60 Jahren, das Pasanen angeblich nicht so wichtig fand. Dann wuchsen die Anforderungen, so hörte man. Einzelne Mitarbeiter hätten Verantwortungen übernehmen müssen, die vorher der Geschäftsführung oblagen. Viele von ihnen verließen frustriert das Dok. Darauf angesprochen, bezeichnet Grit Lemke die Mehrarbeit als Teil des Übergangs. »Ich habe diese extreme Belastung ein Jahr sehr gerne hingenommen. Natürlich ist es schwer, wenn jemand neu dabei ist. Das geht aber nicht über Jahre hinweg.« Dann war Schluss. Die Festivalleitung bot ihr keine Verlängerung ihres bestehenden Vertrags mehr an und entzog ihr die Leitung des Programms. »Das konnte ich nicht hinnehmen«, sagt Lemke. Zur kolportierten finanziellen Schieflage der Dok-Filmwochen GmbH will Lemke nichts sagen.
Ein enormer Mehraufwand, hört man aus den Reihen des Festivalteams, entstehe allein durch die Sprachbarriere Pasanens. Auch im zweiten Jahr ihrer Festivalleitung läuft die Kommunikation nach wie vor komplett auf Englisch. Mitarbeiter müssen zwischen ihr und den Institutionen vermitteln, Termine bei Einrichtungen und Sponsoren wahrnehmen, Förderanträge und Berichte schreiben. Briefe, beispielsweise, die an Förderer, Partner, Medien gingen, hätten teilweise mehrmals hin- und herübersetzt werden müssen. Bei Screenings und beim Festival selbst war es meist Lemke, die die Moderation übernahm. Festivalchefin Pasanen glänzte oft durch Abwesenheit oder trat nach ein paar einführenden Sätzen in den Hintergrund.
Die Kommunikation innerhalb des Teams gestaltet sich schwierig, zumal sich bei vielen das Gefühl breitmachte, ohne funktionierendes Management auf sich allein gestellt zu sein. Es fehlen die Impulse, die die Festivalarbeit benötigt, um sich zu entwickeln.
Pasanen: »Struktur des Unternehmen auffrischen«
Stattdessen wird »umstrukturiert«, wie es Pasanen nun plötzlich ausdrückt. Sie begründet die personellen Entwicklungen mit dem Wachstum des Festivals. »In diesem Jahr wuchs die Anzahl der Filmeinreichungen immens, wir hatten etwa 400 Filme mehr«, erklärt Pasanen. »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie man die Struktur des Unternehmens auffrischen kann.« Die Arbeit soll auf viele Schultern verteilt werden. Was sich wie eine basisdemokratische Idee anhört, scheint aber vielmehr die Konzentration von Macht auf die Festivalleitung zu sein, wie etwa die Umstrukturierung der PR-Abteilung zeigt, deren Leitung Pasanen abgeschafft hat. Dies soll nun auch auf die Programmgestaltung angewendet werden. Frischt Pasanen damit das Festival wirklich auf oder reagiert sie nur auf den Frust im Team?
[caption id="attachment_50897" align="alignleft" width="270"] Leena Pasanen[/caption]
»Meine Vision ist, dass ich die Leitung des Teams übernehme und die Aufgaben, die diese Position umfasst. Daneben soll es einen Programmator geben, Kuratoren und ein Auswahlkomitee, das sich voll auf die Auswahl des Programms und den Inhalt konzentrieren kann«, sagt Pasanen. Das Festivalkonzept würde aber nur funktionieren, wenn die einzelnen Teilbereiche zusammenarbeiteten, erklärt Grit Lemke. »Als Festival für den künstlerischen Dokumentarfilm braucht es eine politische Aussage und rote Linien im Programm.« Das hatte im letzten Jahr mit dem Oberthema »Ungehorsam« gut funktioniert und wirkte wie aus einem Guss, auch wenn das Thema bei Kennern der internen Situation beim Dok ein kaltes Lächeln hätte auslösen können. »Dieses Festival braucht ein kuratiertes Gesamtkonzept, so wie es bisher war«, stellt Lemke fest. »Das kann man nicht auf mehrere Personen verteilen, dann wird es zu einem Gemischtwarenladen.«
In seinen bald sechzig Jahren hat sich das Dok Leipzig zum wichtigsten deutschsprachigen Dokumentarfilmfestival entwickelt und gleichzeitig zu einer der letzten Bastionen für den künstlerischen Dokumentarfilm. »Wenn man das jetzt aufgibt, wird es hart«, sagt Lemke. »Sowohl im internationalen Wettbewerb, wie in der Konkurrenz mit Amsterdam, das wesentlich mehr Geld zur Verfügung hat. Aber auch das Dokfilmfestival München steht in den Startlöchern, Leipzig den Rang abzulaufen. Das Einzige, was wir dagegensetzen können, ist unsere künstlerische Handschrift und unsere Tradition – und beides ist in Gefahr.«
Protest von Filmemachern
Derweil zeigten sich Filmemacher gegenüber der Presse entsetzt von der Entwicklung beim Dok Leipzig. »Wir sind völlig konsterniert«, sagte etwa der Regisseur Dieter Schumann dem MDR. Die Entscheidung, auf Lemke zu verzichten, nannte er »mutig«. Der Leipziger Filmemacher Andreas Voigt sieht den guten Ruf und die Qualität des Festivals in Gefahr, der Abgang Lemkes sei »ein schwerer Schlag«, sagte er an derselben Stelle.
Auch aus dem Ausland trudeln inzwischen Reaktionen ein. So schrieb der britische Medienkünstler und Filmemacher John Smith, der im Jahr 2015 mit einer Hommage beim Dok geehrt wurde, an Lemke: »What are the fucking idiots thinking of? I’m sure a lot of people are as outraged as I am – let me know if there’s any protest movement I can join!«
Andreas Voigt will derweil einen Protestbrief an Oberbürgermeister Jung schreiben. Jung und Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke sind die politisch Verantwortlichen für das Dok Leipzig. An ihnen liegt es nun, zu entscheiden, ob sie mit Pasanens Kurs in die Zukunft gehen wollen oder die Reißleine ziehen.
[caption id="attachment_45818" align="alignleft" width="285"] Skadi Jennicke, Foto: Die Linke[/caption]
Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke kommentiert: »Es ist Leena Pasanen zunächst zugute zu halten, dass sie personelle Veränderungen erst nach dem Durchlauf ihres zweiten Festivals tätigt. Ich gehe also davon aus, dass sie sorgfältig abgewogen hat und ihre Entscheidung auf konkreten Erfahrungen gründet. Es ist an ihr, dem Festival, insbesondere angesichts des bevorstehenden Jubiläums, eine programmatische wie konzeptionelle Perspektive zu geben. Hier steht sie in der Verantwortung.«
Man hätte im Rathaus zumindest ahnen können, dass Pasanen offenbar Schwierigkeiten hat, das Festival zu managen. In einem Beitrag des Dokumentarfilmmagazins Modern Times gibt Pasanen im November 2016 zu, dass sie im ersten Jahr »wenig vertraut war mit den üblichen Schwierigkeiten in der Verwaltung eines so großen Festivals«. Ihre Lösung des Problems wird dann so beschrieben: »Aber nun, so sagt sie (gemeint ist Pasanen, d. Red.), spielt sie ihre Stärken aus, kombiniert mit einer finnischen Unverblümtheit, trifft schnelle Entscheidungen und delegiert viel. Das, so sagt sie, sei für die Deutschen ungewohnt und manchmal verwunderlich.«
Bürgermeisterin Jennicke findet das nicht ungewöhnlich: »Leena Pasanen bringt andere kulturelle Erfahrungen mit, auch hinsichtlich ihres Führungsstils. Ein internationales Festival sollte das gut vertragen. Da, wo das nicht funktioniert, müssen beide Seiten aufeinander zugehen und gemeinsam interkulturell lernen. Das erfordert Präsenz und Kommunikationsstärke – beides setze ich bei einer Führungskraft voraus.«
»Traurig für das Festival«
Leena Pasanen wirkt im Gespräch mit dem kreuzer emotionslos, als es um die Bedenken geht, die die Neuerungen mit sich bringen: »Ich habe keine Angst vor Veränderungen. Das ist immer schwierig, aber manchmal kann man es nicht vermeiden und vielleicht erwächst daraus etwas Neues. Ich verstehe die Bedenken, wenn es um die Tradition geht oder was auch immer. Aber alles, was ich tun kann, ist das bestmögliche Festival für 2017 zu machen, zusammen mit dem Team, das bleibt. Wir werden sehen, wie das läuft.«
Auch finanziell sei das Festival gut aufgestellt, erzählt sie im Gespräch, das Gesamtbudget würde wachsen, aber natürlich auch die Kosten. Es hätte Einsparungen gegeben bei der Öffentlichkeitsarbeit und etwa 30 Prozent bei den Reisekosten. »Das bedeutet aber nicht, dass weniger Filmemacher eingeladen wurden«, sagt Pasanen. Das Festival habe im Jahr 2015 zwar ein Defizit gemacht, doch das Jahr 2016 »sieht gut aus«. Sie betont: »Wir stecken nicht weniger Geld in Inhalte.« Auf konkrete Nachfrage nach Kürzungen im Programmetat sagt sie, dass man diesen Posten nicht genau von anderen trennen könne.
Für Grit Lemke enden 26 Jahre Mitarbeit beim Dok Leipzig. »Es tut mir sehr leid, mich vom Leipziger Publikum verabschieden zu müssen«, stellt sie fest. »Ich bin traurig für das Festival, aber nicht darüber, dass ich unter diesen Bedingungen nicht mehr arbeiten muss. Ich bin so traurig wie ein Galeerensklave, der vom Schiff gejagt wird.« Auch der ehemalige Festivalleiter Claas Danielsen findet: »Sie hinterlässt eine große Lücke.« Mit Grit Lemke gehen auch drei weitere langjährigen Mitglieder der Auswahlkommission: Cornelia Klauss, Matthias Heeder und Lars Meyer.
Leena Pasanen will bis Februar neue Mitglieder für die Auswahlkommission finden und davor den »Auswahl- und Programmierungsprozess für die Zukunft definieren«. Wie diese Zukunft ohne ein funktionierendes Team aussieht, wird sich zeigen.