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Heimleuchten

Das Festival Off Europa geht in die Nahdistanz – und ist damit nicht allein

  Heimleuchten | Das Festival Off Europa geht in die Nahdistanz –  und ist damit nicht allein

»Als unser Festivalthema erstmals in größerer Runde diskutiert wurde, fielen Bemerkungen wie ›Nabelschau‹ und ›Heimattümelei‹.« – Off-Europa-Leiter Knut Geißler weiß um die Fallhöhe der jüngsten Programmänderung seines Festivals. Mit jenem Satz leitet er das Programmheft ein. Vom Länderfokus zum Themenschwerpunkt: Neue Wege geht das Festival, die man aber auch als Rückkehr verstehen kann. Denn Off Europa nimmt das inhaltliche Paradigma wieder auf, mit dem es (als »Manöver«) 1992 begann. Statt ein Land nach den besten und ungewöhnlichsten Produktionen abzugrasen, werden ab diesem Jahr thematische Schwerpunkte gesetzt. Unter dem Motto »Heimat Landschaften« wird anno 2023 vor allem Theater aus der Nahdistanz gezeigt.

Ja, richtig gelesen. Was sofort auffällt: Es sind vor allem Produktionen eingeladen, die nicht von Fern kommen. Aus Halle und Bautzen, Berlin und Dresden, Chemnitz und Leipzig reisen sie unter anderem an, um in Leipzig, Dresden und Chemnitz zu spielen. Darum auch die einleitenden Worte, mit denen der Festival-Leiter möglicherweise aufwallende Gemüter beruhigen will. Wären da nicht noch ein paar andere Gruppen, könnte man den Eindruck bekommen, es mit einem Regionalfestival zu tun zu haben. Ein solches ist per se nicht verkehrt – aber ungewöhnlich, war Off Europa doch bisher ein Augenöffner, der Ungewöhnliches sichtbar machte. Viele Leipziger Theaterfans, die selten nach Dresden oder Halle reisen, erhalten nun die Chance, über den kleinen Tellerrand zu schielen. Oder die Gelegenheit, das Stück über DDR-Punk und Baseballschlägerjahre »Wir kriegen euch alle!« noch einmal zu sehen, das im Herbst im Lofft Premiere hatte. (s. kreuzer 11/22) Im Erzeugen dieser Verwunderung bleibt sich das Festival dann doch treu und verlässt sich auf die Entdeckungslust des Publikums. Vertrauen wir auf das glückliche Händchen.

Heimat wird beim Festival weit gefasst, zum Beispiel auch der menschliche Körper als Gehäuse und Zuhause thematisiert. Aber einen Kairos erwischt es mit dem Thema nicht. Das liegt ohnehin in der Luft, besser: hängt hier ab. Auch im Theater wird Heimatliches immer wieder, leider meist ungebrochen, aufgeführt. Entweder kommt das ungewollt zu nostalgisch daher, wenn wieder einmal ehemalige Tagebaulandschaften Thema sind, oder verklärend in Gestalt einer Ost-Bespiegelung. Intensive Auseinandersetzungen sind aber selten – und müssten damit beginnen, auszubuchstabieren, was »Heimat« eigentlich sein soll.

»Heimat ist, wo der Kühlschrank steht.« – Man könnte die Dinge pragmatisch angehen. Doch steht der Zeitgeist nicht auf Lakonisches und Schulterzucken. Der wärmende, weil diffuse Begriff ist in vieler Munde. Heimat ist ziemlich willkürlich, weil man in seine Herkunft hineingeworfen wird und sie nur dann thematisiert, wenn sie brüchig oder ganz dem Erfahrungsraum entzogen ist. Mit dem Buchtitel »Phantomschmerz« brachte Christian Schüle das Heimatliche gut auf den Punkt. Der eigentlich stilsichere Publizist geriet aber selbst auf Abwege: »Handelsketten ... schlingen sich kulturfremd um alle Heimatschollen. ... Authentizität und Ursprung, Treue, Vertrautheit und Loyalität, vielleicht Persönlichkeit, Familiarität, Sozialität und Verschiedenheit, gehen perdu, der Ursprung geht verloren.« Ein Beispiel dafür, wie man auch als ganz Unbesorgter schnell einem Gefühl auf den Leim gehen kann.

Heimat bleibt kontaminiert. Das problematische Wort umschifft der Autor Daniel Schreiber, wenn er im gleichnamigen Buch beim »Zuhause« ansetzt: »›Heimaten‹ sind ... etwas, das früher oder später einmal verschwindet. Eine Wohnung aber hat und findet man in der Regel immer, egal wie beschwerlich die Suche sein mag. Sie ist der eigentliche Anker im Leben, ein Anker, den man notfalls mitnehmen und woanders auswerfen kann, in jedem Fall aber ein Anker, den man nicht verliert.«

Natürlich kommt dem Thema Heimat – besser: deren Verlust – mit dem Ukrainekrieg noch einmal eine neue Dringlichkeit zu, weil die anderen Kriege und Konflikte eben weiter weg stattfinden. Wird der Wohnort weggebombt, wäre man froh, über Heimat sprechen zu können. Auch dieses Thema steht bei Off Europa auf dem Programm – und damit ein Anlass, über Formen des Zuhauses, Hausens und Gehäuses nachzudenken.

> Off Europa: 14.–21.5., verschiedene Orte in Chemnitz, Dresden und Leipzig, www.offeuropa.de


Foto: Josefin Kuschla.


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