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Politik

Der Fiebertraum des Ministerpräsidenten

Michael Kretschmer beschwört eine Zweierkoalition für Sachsen nach der nächsten Landtagswahl. Ein Kommentar

  Der Fiebertraum des Ministerpräsidenten | Michael Kretschmer beschwört eine Zweierkoalition für Sachsen nach der nächsten Landtagswahl. Ein Kommentar  Foto: Screenshot / ARD

Michael Kretschmer will ab 2024 vier weitere Jahre regieren, aber nicht in der aktuellen schwarz-rot-grünen Koalition. Drei Maximen hat er für die nächste Regierung ausgegeben: Erstens: Es soll eine Zweierkoalition werden. Zweitens: Ein Bündnis mit der AfD ist ausgeschlossen. Drittens: Eine Minderheitsregierung kommt nicht in Frage. Klingt nach klarer Ansage, ist aber ein nicht aufzulösender Widerspruch. Denn Umfragen sehen genau zwei Parteien bei um die 30 Prozent: die CDU und die AfD, alle anderen bei weniger als 10 Prozent. Man ist geneigt zu sagen: Ja, Herr Kretschmer, keine Sorge, Sie kommen aus Ihrer schwer zu handhabenden Dreierkoalition – weil Sie eine vierte Partei brauchen, um auf eine Mehrheit zu kommen. Für eine Zweierkoalition müssten Sie dann doch den Pakt mit dem Chrupalla eingehen.

Kretschmer und seine Partei wissen das. Es stellt sich also die Frage: Warum träumt Kretschmer öffentlich davon, bald eine Große Koalition mit der SPD zu führen? Diese wäre Stand heute weder groß noch denkbar. Kretschmer gaukelt den sächsischen Wählerinnen und Wählern eine Realität vor, die er selbst durch seinen reaktionär-konservativen Kurs unmöglich gemacht hat. Für die kretschmersche Überlegung müsste die SPD ihr aktuelles Umfrageergebnis verdreifachen. Der kreuzer-Fakten-Check zeigt zudem, dass selbst das noch nicht reicht, denn: 29 % (CDU) + 3x 7 % (SPD) = 50 %. Zur SPD-Verdreifachung braucht es also auch – so ehrlich wollen wir sein: nicht unrealistische – ein bis zwei Prozent, die sich die CDU noch angelt.

Der Apostel der Sozialdemokratie

Natürlich sind das zehn Monate vor der Landtagswahl am 1. September 2024 Rechenspiele ohne Wert. Natürlich können sich Umfragewerte ändern. Zumal die Prognosen über die Zusammensetzung des nächsten Landtags eine Gleichung mit noch zwei Unbekannten ist: Die Freien Wähler und Sahra Wagenknecht. Erstere – in Bayern sind sie bekanntlich in der Regierung und stellen den Vize-Ministerpräsidenten – formieren sich für den sächsischen Wahlkampf, versuchen unter anderem Grimmas parteilosen OBM Matthias Berger als Spitzenkandidaten für sich zu gewinnen. Schaffen die Freien Wähler den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde, würde eine Zweierkoalition noch unwahrscheinlicher. Und entscheidet sich Sahra Wagenknecht tatsächlich noch zu einer Parteigründung und schafft den bürokratischen Aufwand, um auf die Wahllisten zu gelangen, das Chaos wäre perfekt.

Dieses Durcheinander hindert Kretschmer nicht daran, mit seiner SPD-Wahlwerbung durchs Land zu touren. Im Interview mit Sandra Maischberger sagte Kretschmer im Oktober, Olaf Scholz sei ein »sehr, sehr kluger und verlässlicher Mensch«. Wenige Atemzüge zuvor hatte er noch beklagt, mit der Ampel-Regierung sei Kooperieren auf Augenhöhe unmöglich. Eins und eins zusammengezählt, ist leicht ersichtlich, auf wen Kretschmer das zurückführt.

Die Grünen im nächsten sächsischen Kabinett – nur als Notlösung und aus demokratischer Verantwortung denkbar, sagte Kretschmer Anfang Oktober der LVZ. Also ist sein Trommeln für die SPD vielleicht auch nur Verzweiflung, die sogenannte Große Koalition sein letzter Strohhalm zur Machterhaltung. Denn auch wenn Kretschmer eine Koalition mit der AfD ausschließt, seine Partei dürfte da zu Teilen anderer Meinung sein. Auf einer Regionalkonferenz in Riesa brachten einige eine durch die AfD gestützte Minderheitsregierung schon mal ins Gespräch. Kretschmer widersprach glaubhaft, schob seiner Absage aber den vielsagenden Halbsatz hinterher: »solange ich hier noch etwas zu sagen habe«. Marco Wanderwitz, ehemaliger Ostbeauftragter der CDU unter Angela Merkel, sagte im Frühjahr dem Spiegel, dass etliche CDUler aus den Ostverbänden eine Zusammenarbeit mit der AfD herbeisehnten, oder »mindestens eine Tolerierung«. Es ist unbestreitbar, dass vielen in der Sachsen-Union die AfD näher ist als die Parteien links der Mitte. Auf Kommunalebene ist die Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD Alltag, allen Brandmauerbekundungen der Bundespartei zum Trotz. Frappierendes Beispiel dafür, wie weit rechts die sächsische CDU zuweilen steht, ist die Causa Udo Witschas.

Vertane Chance einer Anti-AfD-Koalition

Der Bautzener Landrat hatte im Dezember 2022 offen gegen Geflüchtete gehetzt, kurz zuvor verhalf die CDU einem AfD-Antrag zur Mehrheit, mit dem die Rechten die Kürzung von Integrationsmitteln für abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber forderten. Kretschmer nahm Witschas damals in Schutz, dieser sei falsch verstanden worden. Gut möglich, dass der Ministerpräsident seinen größten Kreisverband damals nicht vor den Kopf stoßen wollte.

Und so sind es die Geister, die Kretschmer selbst in den letzten Jahren rief, die ihn jetzt in seinem politischen Handlungsspielraum einschränken. Zäune an der Grenze zu Polen forderte er schon, da ging Friedrich Merz noch unbesorgt zum Zahnarzt. Kretschmer erklärte die Energiewende mehrfach für gescheitert, im Kontext des russischen Angriffskriegs schmeichelte er mit seinen Relativierungen den sächsischen Putin-Verstehern und -Versteherinnen. Im Richtungsstreit der Nach-Merkel-CDU steht Kretschmer klar aufseiten einer reaktionär-konservativen Linie, wie auch Merz und Markus Söder. Was die Kopie von AfD-Positionen bewirkt, zeigten die Landtagswahlen in Hessen und Bayern: AfD und Freie Wähler im Allzeithoch.

Dass es auch anders ginge, zeigen Hendrik Wüst in NRW und Daniel Günther in Schleswig-Holstein. Beide stehen für einen schwarz-grünen Umschwung in der CDU, zumindest Wüst ist dabei kein Überzeugungstäter. Als Landesvorsitzender der Jungen Union in NRW machte er mit erzkonservativen Positionen auf sich aufmerksam, gab unter anderem der rechtsextremen Jungen Freiheit ein Interview. Progressiver Konservatismus, Klimaschutz als Bewahrung der Schöpfung, das ist für Wüst also auch Wahltaktik. Kretschmer hätte mit seiner Kenia-Koalition die Chance für einen ebensolchen Kurs gehabt. Eine progressive Front gegen die AfD hätte nicht nur die Möglichkeit eröffnet, überparteilich und außerparlamentarisch Mehrheiten gegen die populistische und extreme Rechte zu bilden. Gute Sachpolitik hätte sowohl gemäßigte AfD-Wähler und -Wählerinnen zurück ins demokratische Spektrum holen als auch Kritiker aus den eigenen Reihen verstummen lassen können. Diese Chance ist vertan.

Verliert die CDU kommenden September gegen die AfD, könnte Kretschmer als Landesvater unhaltbar werden. Gewinnt die CDU, hängt es nicht nur von seinem Willen ab, ob eine Koalition mit den Grünen möglich wird, die er dann zum Regieren wohl brauchen würde. Sähe die CDU-Basis eine Not-Koalition mit Grünen anders als ihr Ministerpräsident nicht als demokratische Verantwortung, sondern eine Minderheitsregierung mit Hilfe der AfD weniger als kleineres Übel denn als realpolitisch logischen Schritt, könnte auch das Kretschmers Aus besiegeln.

Für Kretschmer könnte ein Abgang ein Ausweg sein, um als gescheiterter Mahner abzutreten und nicht als Steigbügelhalter zu gelten. Die stolze Sachsen-Union könnte dann im Angesicht der möglichen ersten Regierungsbeteiligung der AfD vor ihrer Bundespartei mit dem Finger auf Thüringen zeigen. Mit ihrer gemeinsamen, erfolgreichen Abstimmung zur Senkung der Grundsteuer hat die Thüringen-CDU den populistischen Rechten Gesetzgebungsmacht gegeben, nach expliziter Absprache mit Merz. Das Loch in der Brandmauer klafft, die Handlungsspielräume für die AfD waren nie größer.


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2 Kommentar(e)

Fabi 04.11.2023 | um 06:54 Uhr

Demokratie bedeutet freie Wahlen ! Nur nochmal zum mitschreiben für das süd Leipziger Provinz Magazin. Es steht jedem frei in ein Land zu ziehen, wo es keine demokratischen Grundstrukturen gibt, einige Länder sind da! Nach Bayern ist nach den kürzlichen Wahlergebnissen wahrscheinlich keine Alternative.

Ande 04.11.2023 | um 12:12 Uhr

Der Schreiber des Kreuzer-Artikels träumt von einem linksliberalen CDU-Kurs für Sachsen ähnlich wie in NRW, vergisst dabei aber die sächsischen Wähler, welche diesem Kurs nicht folgen und dann noch stärker AFD wählen würden. Und wer hier von "sächsischen Putin-Verstehern" schreibt, scheint keinen wirklichen Bezug zu Sachsen zu haben. Meine Vermutung und Frage dazu: Sind Sie In den alten Bundesländern aufgewachsen?