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Freiwillige Selbstverpflichtung

Der Pressekodex wurde erstmals 1973 an den Bundespräsidenten überreicht – welche Rolle spielt er für uns heute, 50 Jahre später?

  Freiwillige Selbstverpflichtung | Der Pressekodex wurde erstmals 1973 an den Bundespräsidenten überreicht – welche Rolle spielt er für uns heute, 50 Jahre später?  Foto: Adobe Stock

Schall und Rauch, zahnloser oder auch Papier-Tiger – diese Redewendungen fallen immer wieder im Zusammenhang mit dem Pressekodex. Dass die darin festgehaltenen publizistischen Grundsätze jedoch aus einer äußerst demokratischen und freiheitsliebenden Grundidee erschaffen wurden, ist vielen Menschen nicht bewusst. Er ist weder ein Gesetz noch ein Regelwerk, vielmehr eine freiwillige Selbstverpflichtung für Medienschaffende. Aus diesem Grund gibt es auch keine Strafen oder gar Anzeigen bei einem Verstoß, sondern die sogenannten »Hinweise«, »Missbilligungen« und »Rügen«. Die Besonderheit: Jeder und jede kann dem Presserat einen Artikel melden, den er oder sie für problematisch hält. Der Presserat prüft diese »Anzeigen« dann und spricht entweder Hinweise, Missbilligungen oder Rügen aus, wenn er den Pressekodex verletzt sieht. Diese sollen dann vom gerügten Medium abgedruckt werden. Es ist tatsächlich ein »Sollen« und kein »Müssen«, da es eben keine bindende Verpflichtung gibt. Es halten sich in Deutschland in der Regel alle Medien an diese Art der Bestrafung – außer der Bild, die zugleich die meisten Rügen durch den Deutschen Presserat erfährt.  

Für schwerwiegende Verstöße – zum Beispiel gegen Persönlichkeitsrechte oder das Recht am eigenen Bild – gibt es das Presserecht. Mit dessen Hilfe ist es möglich, auch rechtlich gegen die Presse vorzugehen. Der Unterschied zum Pressekodex: Man muss selbst betroffen sein, um gegen den Verstoß vorgehen zu können. Fühlt sich eine Privatperson beispielsweise durch ein Medium diskreditiert und in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt, kann sie eine Klage anstreben. Eine Konsequenz des Presserechts könnte dann beispielsweise eine Gegendarstellung sein, die das Medium abdrucken muss. 

Als Willy Brandt Bundeskanzler war 

Der Pressekodex wurde erstmals – als »Niederschrift der Berufsethik praktizierender Journalisten« – an den Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann überreicht, am 12. Dezember 1973 in Bonn. Die Übergabe fand im Rahmen einer Feierstunde im Bundespräsidialamt statt. Heinemann betonte in seiner Rede, dass der Pressekodex ein wichtiger Schritt zur Selbstkontrolle der Presse sei und dass die Pressefreiheit nur dann Bestand haben könne, wenn sie mit Verantwortungsbewusstsein ausgeübt werde.  

Jede Änderung, die seitdem am Pressekodex vorgenommen wurde, wurde an den jeweils amtierenden Bundespräsidenten übergeben. Inzwischen setzt sich der Presserat aus dem Trägerverein und dem Plenum zusammen. Der Trägerverein besteht aus acht, das Plenum aus 28 Mitgliedern, die Geschäftsstelle hat zehn Angestellte. Finanziert wird deren Arbeit durch einen Zuschuss des Bundes und den Verkauf des Presseausweises.  

Im Pressekodex sind inzwischen 16 Ziffern festgehalten. Die prominentesten, weil sie oft verletzt werden, sind Ziffer 2 (Sorgfaltspflicht) und Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit). Gerade gegen Ziffer 8 wird häufig in der Kriminalberichterstattung verstoßen. Bis jetzt wurden 2023 bereits 59 Rügen durch den Presserat ausgesprochen. Davon gehen allein 21 auf die Kappe der Bild – die schon seit einigen Jahren keine Rügen für das eigene Blatt mehr abdruckt. Lediglich online sind einige davon einsehbar. Und das, obwohl sich der Axel-Springer-Verlag, zu dem die Bild gehört, dazu verpflichtet hat. Das Medium selbst möchte sich zu diesem Umstand nicht äußern und der Presserat kann nicht mehr machen, als dies hinzunehmen. Aber wie kann das sein? Tatsächlich ist genau dieser Umstand der Grund, warum der Pressekodex oft als zahnloser Tiger belächelt wird. Als Regelwerk, das keine Konsequenzen nach sich zieht.  

Der Deutsche Presserat 

Der Presserat selbst ist ein Gegenentwurf zu staatlicher Kontrolle der Medien. Im »Dritten Reich« wurde die Presse durch die Journalisten-Kammer staatlich kontrolliert. Eine Mitgliedschaft in dieser staatlichen Institution war Voraussetzung, um als Journalist arbeiten zu dürfen. Das führte zwangsläufig dazu, dass die Ideologie des Nationalsozialismus Einzug in die Berichterstattung nahm und die Presse nicht frei berichten durfte. Als dann Anfang der fünfziger Jahre Konrad Adenauer ein Bundespressegesetz auf den Weg bringen wollte, das einer staatlichen Medienkontrolle gleichgekommen wäre, gab es einen Aufschrei in der Medienbranche. Als Reaktion darauf wurde deshalb am 20. November 1956 der Presserat von fünf Verlegern und fünf Journalisten gegründet. Auch andere Länder haben heute eine solche unabhängige Kontrollinstanz: etwa Frankreich mit dem Conseil de déontologie journalistique et de médiation (CDJM, seit 2019) und Großbritannien mit der Independent Press Standards Organisation (IPSO, seit 2014). Medien aus Russland, Belarus, Ägypten und der Türkei hingegen haben keine unabhängige Kontrollinstanz und werden von staatlichen Institutionen überwacht, zensiert und eingeschüchtert. Der Presserat in Deutschland stellte von 1982 bis 1985 seine Arbeit ein: Weil der Abdruck seiner öffentlichen Rügen seit Jahren ungeklärt war, ließen Journalistinnen und Journalisten ihre Arbeit im Presserat ruhen.  

Kritik und Änderungen am Pressekodex 

Unumstritten ist der Pressekodex jedoch nicht. Der Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker bezeichnete etwa die Richtlinie 12.1 als unzeitgemäße »Selbstzensur«. Die Richtlinie fordert, dass Medien im Zusammenhang mit Straftaten von der Nennung des ethischen Hintergrundes der Verdächtigten oder Täter und Täterinnen absehen. So soll der Diskriminierung von Gruppen vorgebeugt werden. Pöttker forderte die ersatzlose Streichung des Absatzes. 

Dass ein Absatz tatsächlich gestrichen wird, ist eher ungewöhnlich. Viel häufiger werden Absätze ergänzt. So zum Beispiel in jüngerer Vergangenheit die Richtlinie 8.1 zur Kriminalberichterstattung, die 2017 verabschiedet wurde: Durch die Änderung soll bewirkt werden, dass künftig eine Gleichrangigkeit zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den Persönlichkeitsinteressen der Tatverdächtigen vorliegt.  

Um den Redaktionen die Arbeit leichter zu machen, gibt der Presserat auch regelmäßig Leitfäden heraus. Ein großes Thema für den Presserat ist, wie überall in der Gesellschaft, die Digitalisierung. Der Pressekodex musste und muss an Online-Medien und Online-Gadgets wie Kommentarfunktionen angepasst werden. Im März 2015 wurde aus diesem Grund die Richtlinie 2.7 zu Nutzerbeiträgen, sogenanntem »User-Generated Content« verabschiedet. Darin heißt es grundlegend: Die Redaktionen sind für das verantwortlich, was auf ihren Seiten passiert, und müssen die publizistischen Grundsätze sicherstellen – inklusive der Inhalte von Nutzerinnen und Nutzern. Eine weitere Online-Anpassung gab es im März 2016: Damals wurde festgelegt, dass Redaktionen ihre Leserinnen und Leser 30 Tage online über erteilte Rügen informieren müssen. 

Beschwerden und Rügen 

Besonders viele Beschwerden beim Presserat über empfundene Verstöße gegen den Pressekodex gab es 2015 beim Absturz des Germanwings-Fluges 9525, bei Hengameh Yaghoobifarahs Polizeikolumne »All cops are berufsunfähig« in der Taz 2020 und nach dem Unglück bei der Loveparade im Jahr 2010. Nicht immer bedeuten viele Beschwerden aber auch, dass der Presserat Rügen ausspricht. In der Polizeikolumne ging es beispielsweise darum, dass Yaghoobifarah sich fragte, ob man die Polizei abschaffen und in welche Branchen man »Ex-Cops« überhaupt »reinlassen« könne, da der »Anteil an autoritären Persönlichkeiten und solchen mit ›Fascho-Mindset‹ in dieser Berufsgruppe überdurchschnittlich hoch« sei. 382 Leserinnen und Leser wendeten sich daraufhin an den Presserat, da sie eine Herabwürdigung und einen Verstoß gegen die Menschenwürde sahen. Sogar der damalige Bundesinnenminister – wir erinnern uns: Horst Seehofer – gab an, Anzeige gegen Yaghoobifarah stellen zu wollen. Tatsächlich entschied der Presserat, dass die Kolumne nicht zu rügen sei: Es wurde kein Polizist namentlich oder persönlich diffamiert und als Teil der Exekutive müsse sich die Polizei in diesem Zusammenhang auch scharfe Kritik gefallen lassen. Der Text sei außerdem klar als Satire erkennbar. Dieser Fall zeigt, dass der Presserat nicht aus einem Gefühl oder auf Zuruf handelt, sondern strenge Kriterien hat, nach denen Rügen verteilt werden. 

Ja, der Pressekodex ist kein rechtlich bindendes Regelwerk, seine Übergabe an den Bundespräsidenten im Jahr 1973 markierte aber einen Meilenstein in der Selbstregulierung der Presse. Der Presserat als unabhängige Kontrollinstanz ist Ansprechpartner für jeden Leser und jede Leserin, wenn es um die Wahrung ethischer Standards in der Berichterstattung deutscher Medien geht. Trotz gelegentlicher Kritik und Diskussionen um Anpassungen bleibt der Pressekodex ein bedeutendes Instrument für die journalistische Ethik und Selbstkontrolle. 

 


Der Pressekodex und 2023 ausgesprochene Rügen des Deutschen Presserats 

(Angaben vom Presserat, Stand: 8.11.2023) 

Ziffer 1: Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde – 10 Rügen 

Ziffer 2: Sorgfalt – 18 Rügen 

Ziffer 3: Richtigstellung – keine Rüge 

Ziffer 4: Grenzen der Recherche – keine Rüge 

Ziffer 5: Berufsgeheimnis – 1 Rüge 

Ziffer 6: Trennung von Tätigkeiten – 2 Rügen 

Ziffer 7: Trennung von Werbung und Redaktion – 7 Rügen 

Ziffer 8: Schutz der Persönlichkeit – 15 Rügen 

Ziffer 9: Schutz der Ehre – 2 Rügen 

Ziffer 10: Religion, Weltanschauung, Sitte 

Ziffer 11: Sensationsberichterstattung, Jugendschutz – 12 Rügen 

Ziffer 12: Diskriminierungen – 1 Rüge 

Ziffer 13: Unschuldsvermutung: 4 Rügen 

Ziffer 14: Medizin-Berichterstattung – keine Rüge  

Ziffer 15: Vergünstigungen – keine Rüge 

Ziffer 16: Rügenveröffentlichung – keine Rüge 


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