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Politik

Ins Erinnern kommen

Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen vorgestellt, das 2025 in Chemnitz eröffnen soll

  Ins Erinnern kommen | Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen vorgestellt, das 2025 in Chemnitz eröffnen soll  Foto: Basti Winter

Eine Menschentraube schiebt sich zwischen Leuchtröhren, Teppichböden, und abgehängten Decken durch enge Kellerflure: Was an diesem Dienstag in Chemnitz wie die Ortsbegehung eines baufälligen Bürgeramts aussieht, ist in Wirklichkeit die Vorstellung des »Pilotvorhabens für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen«. Eröffnen soll das Zentrum im Rahmen des Auftritts der Stadt Chemnitz als europäische Kulturhauptstadt 2025 – mit einer Ausstellung, einem Gedenkort, einem Archiv sowie Bildungs- und Vermittlungsangeboten zum Thema NSU-Komplex.

Die Veranstaltung jetzt am Dienstag beginnt mit der Audio-Botschaft von Gamze Kubaşık, der Tochter des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık, in der sie für eine stärkere Auseinandersetzung und bessere Aufarbeitung des NSU in Chemnitz appelliert. Die Stadt ist eng mit der Geschichte des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verbunden, der zwischen 2000 und 2007 deutschlandweit zehn rechtsextremistische Morde verübte, davon neun an Menschen mit migrantischem Hintergrund. Neben Kubaşık ermordete der NSU Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. In Chemnitz und später in Zwickau konnten die drei Haupttäter Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ab 1998 unter falschem Namen untertauchen – nicht zuletzt dank zahlreicher Helfershelfer und einer ausgeprägten Neonazi-Szene vor Ort. Bis heute sind viele Fragen noch ungeklärt, etwa nach der Auswahl der Opfer, des Umfelds der Terroristen sowie Fragen des multiplen Versagens der ermittelnden Behörden – diese hatten die Opfer und deren Umfeld zuerst selbst verdächtigt. Zschäpe wurde 2018 zu lebenslanger Haft veurteilt und sitzt seit 2019 in der Justivollzugsanstalt Chemnitz.

Konzeption in enger Absprache mit Betroffenen

Das Dokumentationszentrum in Chemnitz sei daher ein wichtiger Schritt im Prozess der Aufarbeitung, erklären sowohl die sächsische Justizministerin Katja Meier (Grüne) als auch die Staatssekretärin Juliane Seifert vom SPD-geführten Bundesinnenministerium. Das Ziel der Errichtung eines Dokumentationszentrums zum Thema NSU-Komplex war bereits im sächsischen Koalitionsvertrag 2019 verankert worden und die finanziellen Mittel für das Zentrum in Chemnitz werden weitestgehend vom sächsischen Justizministerium bereitgestellt. Welche Rolle das Chemnitzer Dokumentationszentrum in der Aufarbeitung des multiplen Staatsversagens im Zusammenhang mit dem NSU spielen wird oder überhaupt spielen kann, lässt sich weder dem Rohbau des Gebäudes noch den Worten der an diesem Tag Anwesenden entnehmen.

Die inhaltliche Arbeit vor Ort wird jedenfalls durch ein Konsortium aus drei zivilgesellschaftlichen Vereinen geleistet, die sich dem NSU in Sachsen schon seit Jahren widmen – und damit die nötige Vorarbeit für das Dokumentationszentrum geleistet haben, wie Justizministerin Meier betont. Dass die Standortwahl für das Dokumentationszentrum auf Chemnitz fiel, ist auch Ergebnis einer im Frühjahr 2023 veröffentlichten »Machbarkeitsstudie für die Errichtung eines Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex in Südwestsachsen« des RAA Sachsen, einer Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt. Der Verein wird das Zentrum zusammen mit der Initiative Offene Gesellschaft sowie dem in Chemnitz ansässigen Verein ASA-FF betreiben, der bereits das Projekt »Offener Prozess« kuratiert. Dieses Projekt umfasst Bildungsangebote und eine Ausstellung zum Thema NSU-Komplex, die in das neue Dokumentationszentrum integriert werden soll. Die Ausstellung betrachte die Taten des NSU nicht isoliert, sondern anhand der gesellschaftlichen Umstände, die sie ermöglichten, erklärt Lydia Lierke vom ASA-FF. Zudem ginge es um eine dezidierte Einbeziehung der Perspektive von Menschen mit migrantischem Hintergrund. Khaldun Al Saadi von der Initiative Offene Gesellschaft, die die Gesamtsteuerung übernimmt, sagt beim Pressetermin, dass das Dokumentationszentrum überhaupt nur in enger Absprache mit den Betroffenen umgesetzt werden könne. Die beteiligten Organisatoren betonten am Dienstag insgesamt das hohe Anforderungsprofil des Dokumentationszentrums, das die Aspekte des Gedenkens, der Aufarbeitung, Dokumentation und Archivierung vereinen sowie einen Ort der Vermittlung und Bildungsarbeit darstellen solle.

Zukunft des Zentrums ungewiss

Der Zusatz »Pilotvorhaben« im offiziellen Titel des Zentrums rührt im Übrigen daher, dass es neben der landesweiten Initiative für ein Dokumentationszentrum noch ein parallel laufendes Verfahren auf Bundesebene gibt, das ebenfalls ein NSU-Dokumentationszentrum vorsieht. Hierzu veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) kürzlich eine eigene Studie, in der sie unter anderem eine öffentliche Stiftung als Träger und eine dezentrale Verbundstruktur mit einem Hauptort vorschlug. Das Vorhaben in Chemnitz liefere demnach wichtige Impulse für das Bundesprojekt, sagte der Präsident der Bundeszentrale, Thomas Krüger, der am Dienstag ebenfalls vor Ort war. Dass das NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz den Zuschlag als Hauptort der bundesweiten Initiative bekommt ist allerdings jetzt schon ausgeschlossen, denn die Betroffenen des NSU-Terrors haben sich in der BpB-Studie aufgrund der für sie empfundenen akuten Bedrohungslage für migrantische Menschen und der schlechten Verkehrsanbindung gegen einen Standort in Sachsen ausgesprochen. Zumindest ein Teil der bundesweiten Verbundstruktur zu werden, sei durchaus Teil der langfristigen Planung über das Jahr der Kulturhauptstadt 2025 hinaus, erklärte der Mitorganisator Al Saadi. Auf die Frage nach der Finanzierungsperspektive nach 2025 wich Justizministerin Meier aus und verwies auf die anstehenden Landtagswahlen im September. Ob die aktuelle Regierung aus CDU, Grünen und SPD weiter regiert, ist angesichts der aktuellen Umfragewerte unklar. Somit bleibt ungewiss, ob und wie es mit dem Dokumentationszentrum in Chemnitz nach 2025 weitergehen wird.


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