Meine Lehre aus dem 89/90-Ende-Aus-Neu? Kontra zu sein, wenn das große Gemeinschaftsgefühl angesprochen wird. Und darum habe ich auch ein Problem, 3. Generation Ost sein zu sollen.
»ATA, Fit, Spee, RFT / und Boxerjeans, auf die ich steh’.« Sollte ich meine DDR-Erinnerung auf einen Satz münzen – und darum geht es hier ja gewissermaßen –, es wäre diese Schleimkeim-Songtextzeile. Splitter der Alltagserfahrung benennt sie und natürlich war es der Alltag, der mir im Gedächtnis ist, denke ich (Jahrgang 1977) an meine Kindheit und das beginnende Heranwachsen in der Deutschen Demokratischen Republik, bevor die BRD kam.
Dazu gehörten eben auch das Pionierhalstuch erst in Blau, dann in Rot, der erste Mai und der Republikgeburtstag, Zelten in Tschechien, wo mir in den Achtzigern die ersten fremden, arroganten Wessis begegneten, erste Liebe und allerlei Unsinn anstellen. In dieser Hinsicht werden wir alle, die zwischen 1975 und 1985 auf der hiesigen Seite des Eisernen Vorhangs geboren wurden, ähnliche und ganz andere Erfahrungen gemacht haben. Wir Zonenkinder haben den Umbruch und die 89-Zäsur relativ bewusst miterlebt, aber hat uns das so gravierend geprägt, dass wir zu einer exklusiven Gruppe wurden? Wie viele Gemeinsamkeiten verbindet über diese Erfahrung hinaus eigentlich die so genannte 3. Generation Ost? Gibt es noch diese Unterschiede oder ist das jetzt nach den berühmten »20 Jahren nach Mauerfall« alles passé?
Kulturschock: »Star Wars«, NES und Neonazis
Das sollen Soziologen en detail beantworten. Die These, dass es mindestens noch mal so eine Zeit dauert, bis Unterschiede einigermaßen nivelliert werden, halte ich für plausibel. Immerhin wachsen noch die heute Geborenen in Ost wie West mit verschiedenen Familiengeschichten auf, werden Erinnerungen der Großeltern etc. an ein verschwimmendes »Damals« weitergegeben. Solche orale Geschichtsschreibung hat eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Aber dieses Feld sollen andere beackern.
Im Erleben der Wende liegt sicherlich ein großer Unterschied der damals ganz Jungen in West und Ost. Während man sie in der DDR doch großteils als Aufbruch und Freiheitsgewinn wahrnahm, war er vielen BRD-Jugendlichen recht egal. Warum auch nicht? Was hatten beide Länder eigentlich noch miteinander zu schaffen, außer der gemeinsamen Sprache und ein paar Jahrhunderten territorial zersplitterter Geschichte, über die man das Wort »Deutsches Reich« kleisterte, um einen Zusammenhang zu fingieren? Jaja, Kultur und so. Mein’ Goethe lob ich mir...
Die Wende und ich? Sie war für mich Kulturschock und kulturelle Bereicherung zugleich. Im Sommer 1990 verbrachte ich ein paar Wochen bei Verwandten im Taunus und lernte alle Essentials der Kinderkulturindustrie im Schnelldurchlauf kennen. Doch zwischen Begeisterung für »Star Wars«, NES (Nintendo Entertainment System) und »Drei Fragezeichen« schoben sich auch Obdachlose und Bettler. Alice Cooper und Roxette waren ja schön und gut, aber das konnte nicht das Ende der Geschichte sein, keimte in mir der Gedanke, ohne Fukuyama zu kennen, als ich den ersten Ostermarsch besuchte. Bald schon passte deren Motto »Schwerter zu Pflugscharen« nicht mehr, als die Nazis begannen, sich nicht nur am Erfurter Anger in Hunderterstärke breit zu machen. Ich weiß, die gab’s auch vorher, jetzt aber traten sie ganz öffentlich auf und die damals Aufwachsenden zerfielen vereinfacht gesagt in Jäger und Gejagte. (Wobei die Rollen manchmal wechselten.) Dieses Erleben recht dauerhafter Unsicherheit durch das Regime des Faust- und Stiefelrechts, das die Eltern nicht so richtig verstanden, dürfte viele geprägt haben – irgendwie. Aber haben alle die gleichen Schlüsse gezogen?
Da wo man singt, hört man noch Unterschiede
An den Liedern hört man es ihnen noch an, ob die Wiege in Ost oder West stand. So scheidet sich auf Geburtstagspartys klar: Wer »Weil heute dein Geburtstag ist« anstimmt, ist aus der DDR, wie der Westmarker ging, habe ich vergessen. Aber das kann ja nicht reichen, um ein Kollektiv zu formen, eine ganze Generation daraus zu machen. Sind es die neonfarbenen Schnürsenkel, die Ende der Achtziger auch im Osten – über die Ungarische Volksrepublik und die ČSSR – unter Jugendlichen Mode wurden? Dass ich nicht Russland sage, wenn die Sowjetunion gemeint ist? Das wird die Umbruchserfahrung nicht leisten können, obwohl die damit gemachten Erlebnisse auch der zusammenbrechenden Elternbiografien nicht zu verachten sind. Auch sie macht mich nicht zum Kollektivmenschen, der einer – ohnehin unterbestimmten – Generation qua Biografie angehören muss.
»Helmut, nimm uns an die Hand, zeig' uns den Weg ins Wirtschaftswunderland«, das fand ich von Beginn an scheiße, wer konnte nur den Schmarrn von blühenden Landschaften glauben? Faire Leistungsgesellschaft statt Gleichmacherei? Was will man uns denn noch erzählen? Was ist mit Ehrensold oder Managergehältern, einer Kaste, die unter sich ist, da war Wandlitz ein Witz, ja: armselig dagegen. Wer anderen einen Glauben gräbt, fällt selbst hinein. Heute ist es eine Ostdeutsche, die eine angeblich ideologielose Politik vertritt, als ob sie es – auch als ehemalige FDJ-Referentin – nicht besser wüsste. Wenn ich eins gelernt habe, dann diesem Wir, das Individuen übergestülpt wird, mit einem energischen Unwillen zu begegnen. In der DDR-Endphase fing dieses unbestimmte Grummeln in den Tiefen meiner Thälmannpionierseele an, später dann wurde ich zu einem Volk gemacht, zum Papst, zum Sommermärchen...
Geldwerte Volksbewegung
Nicht wenige dieser so genannten Generation immerhin bringen das damalige Gefühl zum Ausdruck, dass in dieser Zeit vieles, ganz kurz sogar: alles möglich war. Für Leipziger Beispiele lese man nur die entsprechenden Kapitel aus »Haare auf Krawall«. Hausbesetzungen, Freiräume erstreiten, aber auch verteidigen gegen Nazis und den Staat, gehören zu dieser Erfahrung. Und dann musste man zusehen, wie allmählich dieser Freiraum immer weniger wurde. Wie mehr und mehr Objekte geräumt wurden. Dann sogar, da bekam ich aber schon in Leipzig die Streitereien um die Punkerwiese am Markt mit, dass in der Erfurter Innenstadt ein komplettes Alkoholverbot außerhalb von Volksfesten verhängt wurde, um die Touristen nicht zu stören. Ein Platz meiner auch alkoholisierten Adoleszenz, die Wiese hinter der Krämerbrücke, war verwaist worden.
Ich höre immer vom Autoritätsverlust: Ja, wenn das ein Mitnahmeeffekt der 3. Generation Ost sein soll, begrüße ich das. Falls man etwas als prägende Erfahrung mitnehmen kann, dann war es das Ersterben eines Aufbruchs, das Münden von revolutionären Momenten in eine geldwerte Vorteilsbewegung und den Gleichschritt des einen Volkes. Ein Vertreter der älteren Generation, Peter Konwitschny, beschrieb es so: »Ich hatte geglaubt, es ging um Befreiung, Menschlichkeit und Revolution, doch stattdessen ging es um die Westmark.«
Statt Einheit: Widerstreit
Befreiend war das ganz langsame Ende der endlosen Ära Kohl eher nicht. Während der Osten nun wirtschaftlich offensichtlich in die Knie ging, gab im neuen Fach Wirtschaft und Recht für den neuen Staatsbürger die ehemalige Werken-Lehrerin ihr im Weiterbildungs-Schnellkurs aufgeschnapptes Wissen über die soziale Marktwirtschaft zum Besten. Klar gab es dem Namen zum Trotz keine demokratischen Formen in der DDR. Aber der »Goldene Westen« sollte plötzlich der Himmel auf Erden sein? Diese, man wird es später zum Mantra »Alternativlosigkeit« schmieden, Konsequenz sah ich nicht ein. Und während man mir – zu Recht – erklärte, dass die DDR autoritär und nationalistisch war, beschränkte man das Asylrecht stark, nahm uns die Häuser, schützte die Nazis. Mit denen wurde ich dann auch gern von den neuen christlichen Landesvätern in einen Topf geworfen, weil auch ich am kollektiven Töpfchensitzen beteiligt war und als Atheist ohnehin nur braunen Geistes sein konnte.
Wie unter dem Thüringer Verfassungsschutzpräsident Helmut Roewer jede auf ein Stückchen Emanzipation ausgerichtete Jugendbewegung zum Extremismusgespenst gemacht wurde, während zumindest der »Thüringer Heimatschutz« – die Keimzelle des »Nationalsozialistische Untergrunds« – schon damals als gefährlich hätte bekannt sein müssen, aber ignoriert wurde, wird gerade öffentlich seziert. Dass nun gerade diese Nazis laut einigen Erklärungen der journalistischen Verfechter der 3. Generation dieser nicht angehören sollen, stört mich am meisten an diesem Konzept. Erstens ist ein Generationsbegriff kein Ehrentitel, sondern bestenfalls eine recht adäquate Beschreibung. Wenn wir verschweigen, dass die Nazis unter uns – ich nutze das Kollektivwort mal vorsichtig – waren und sind, dass nicht nur Nazis, sondern auch anderes unangenehmes Gelichter, das sich in der »Mitte« verbirgt, ebenso Teil dieser Generation sind, dann hätte diese den anderen eines voraus: Einsicht. Mit dieser könnte ein Aufklärungs- und Veränderungsprozess begingen. Das Beschwören des kollektiven Ost-»Wir« bringt keinen Deut weiter. Die Wende hat die Mehrheit dieser Generation toleranter gemacht und nach Emanzipation abzielend? Dafür hätte ich gern Beweise.
Sicherlich haben viele mit dem Umbruch eine gewisse Abgeklärtheit eher als ihre Altersgenossen im Westen mitbekommen. Dort zog die Krise, das eiskalte Lüftchen am identitären Gesäß, schließlich erst später ein. Wenn ich mein Gefühl Ost beschreiben soll, dann, dass man alle Hoffnung fahren lassen kann und dennoch mit einem entschlossenen »Trotz alledem« etwas reißen zu sein könnte. Dass und wie Ideologien funktionieren, gerade wenn sie sich selbst als ideologielose Position formulieren wie die angebliche Leistungsgesellschaft, hätten man auch mitnehmen können aus dem Schwund der Mauer. Und: Dass Dissens und nicht Konsens die demokratische Quintessenz bildet. Der auf Dauer gestellte Widerstreit, das meine ich gelernt zu haben aus den Brüchen im Lebenslauf, dem Systemabsturz und der Neuinstallation. Der Appell ans Wir-Gefühl und die Schicksalsgemeinschaft ist mir zuwider, da bin ich nicht nur Skeptiker. Mir muss auch niemand erst »Empöre Dich!« zurufen, diese Grundstimmung hält seit damals in mir an – 3. Generation Ost hin oder her.
Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Texten, in denen sich kreuzer-Autoren – angeregt vom Buch »Dritte Generation Ost« – auf Spurensuche nach einem Label für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jungen Vorwendegeneration begeben.