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Kultur

»Die Urgroßmutter trug Beinfesseln«

Wie kleidet man 100 Jahre Familiengeschichte ein? Ein Gespräch über die Kostümbildnersicht

  »Die Urgroßmutter trug Beinfesseln« | Wie kleidet man 100 Jahre Familiengeschichte ein? Ein Gespräch über die Kostümbildnersicht

Einen »Platz an der Sonne« für die Deutschen schaffen, das war erklärtes Ziel des Wilhelminismus. Dem deutschen Kolonialismus spürt die Performer-Gruppe As We Are anhand eigener Familiengeschichten nach. Wie die Stückentwicklung vor sich ging, erklärt die beteiligte Kostümbildnerin Rebecca Löffler.

kreuzer: Wieso können Sie so gut mit Textilien umgehen – immerhin sind Sie studierte Theaterwissenschaftlerin?

REBECCA LÖFFLER: Schon während meines Studiums bin ich im Theater mit der Arbeit der Kostümbildner in Kontakt gekommen. Sehr beeindruckt hat mich zum Beispiel Franz Lehr. An das Studium habe ich eine praktische Ausbildung angeschlossen. Mir liegen die gemischten Anforderungen, die die Arbeit als Kostümbildnerin mit sich bringt sehr. Künstlerischer Entwurf wechselt mit dramaturgischer Arbeit und intensive Lektüre mit Färben, Nähen, Bemalen und Patinieren.

kreuzer: Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen, wie haben Sie die Requisiten gefunden etc.?

LÖFFLER: Ausgangspunkt der Produktion sind die Erbstücke, mit denen Rebecca Egeling aufgewachsen ist. Holzskulptur, Tisch und silbernes Teeservice haben die Urgroßeltern aus China mitgebracht, als sie in Folge der Versailler Verträge ihr dortiges Heim aufgeben mussten. Als Kaufmann Anfang des 20. Jahrhunderts nach China aufgebrochen, hatte Werner Geim sich mit Firma, Haus und Familie in Tientsin eingerichtet. Auf alten Familienfotos sieht man die Gegenstände dort im Wohnzimmer stehen. Über die Generationen weitergegeben, begleiten sie die wechselvolle Familiengeschichte als hochgeschätzte Raritäten und Erinnerungsstücke. Aber ihre Wichtigkeit und vielleicht auch ihr materieller Wert gründen auf Erzählungen und Familienlegenden und sind insofern konstruiert und hinterfragungswürdig. Deswegen durfte sich in der Produktion auch der ein oder andere Gegenstand einschleichen, der seine Authentizität nur behauptet.

kreuzer: Wie entwarfen Sie die Kostüme – Recherche oder Inspiration?

LÖFFLER: Umfangreiche Recherche liegt nicht nur der Performance, sondern auch der Kostümbildentwicklung zugrunde. Familienfotos, Originalbriefe, Kostümhistorie, Landeskunde, Berichte zum Kolonialalltag und Interviews mit Familienangehörigen flossen ein. Wie sich die Bilder, Geschichten und Fakten zu textilen Körperumräumen verdichten, hat dann vielleicht etwas mit Inspiration zu tun. Hier ging es vor allem darum, die Kristallisationspunkte der Familiengeschichte auszumachen und für diese eine sinnliche Repräsentation zu finden; zum Beispiel für die sehnsuchtsvolle Erinnerung der Urgroßmutter an ihre Zeit in Worpswede.

kreuzer: Auf den Ankündigungsbildern sieht man eine Mischung aus kimonoartigem Überwurf und Caprihose: Was können Sie über die Formen verraten?

LÖFFLER: Rebecca Egeling arbeitet sich als Performerin durch 100 Jahre Familiengeschichte und zwei Länder, oder sollte ich sagen zwei Kontinente? Ich stellte mir die Aufgabe, ein Kostümbild zu schaffen, das sich sowohl im Heute als auch historisch verortet. Die knöchellange Hose, die sich zum Saum hin verjüngt, deutet die Form des Humpelrocks an. Diese Rockform war auch in den Kolonien, wo man besonderen Wert auf die neuste Pariser Mode legte, zur Zeit der Urgroßmutter ein Muss. Darunter wurden Beinfesseln getragen – die auch ihren Auftritt in der Inszenierung haben – um ein Einreißen des unheimlich engen Rocksaumes zu verhindern. Das brachte Einschränkungen mit sich. Bordsteinkantenabsenkungen wurden erwogen und Bahnfahren in diesem Kleidungsstück untersagt, um Unfälle zu vermeiden. Die bürgerliche Dame bewegte sich im Tippelschritt durch die Kolonie. Zur selben Zeit war das Abbinden der Füße zur Lotosform bei Chinesinnen immer noch Praxis. Hier begegnen sich zwei Kulturen plötzlich in einer Bewegungsqualität. Auch der schwere Mantel mit Samtbesatz changiert zwischen chinesischer Kostümhistorie und der Silhouette eines Poiret-Mantels der Zeit. Das Worpswedische floss in das türkisfarbene Kleid ein, das zugleich das Kleid der Holzfigurine reproduziert. Darum gruppieren sich kleinere Stücke wie der Kegelhut, welche mit Klischee und historischer Wirklichkeit spielen.

kreuzer: Hat die für Ihre Überlegungen eine Rolle gespielt?

LÖFFLER: Eine wichtige Rolle spielt die von Hannah Doerr eingebrachte Technik der Filmbildproduktion vor der Fotoleinwand. Sie ermöglicht es der Performerin, sich zum Beispiel im Wohnzimmer ihrer Urgroßeltern zu bewegen. Auf der Leinwand ist sie im Tientsin von 1910. Das stellt den Anspruch an die Kostüme, sich möglichst flexibel in die Bilder eintragen zu lassen und im nächsten Moment die ganz heutige Rebecca Egeling bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Materialmeer zu kleiden.


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