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Politik

Brandt oder Kretschmer, Hauptsache Sozialdemokratie

Sachsens Ministerpräsident verteidigt die SPD auf kritisierter Buchvorstellung

  Brandt oder Kretschmer, Hauptsache Sozialdemokratie | Sachsens Ministerpräsident verteidigt die SPD auf kritisierter Buchvorstellung  Foto: Pawel Sosnowski

Es dauerte dann doch etwas länger, bis Michael Kretschmer (CDU) am Donnerstagabend auf der Bühne im Zeitgeschichtlichen Forum Platz nahm. Brigitte Seebacher, Historikerin und Witwe von Ex-Bundeskanzler Willy Brandt, war von der der Sächsischen Staatskanzlei eingeladen worden, um ihr Buch »Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied« zusammen mit dem Ministerpräsidenten vorzustellen. Eine Stunde referierte Seebacher über ihren diagnostizierten Niedergang der Sozialdemokratie, jetzt sollte diksutiert werden – zusammen mit Kretschmer, einem Christdemokraten.

An dieser Konstellation hatte sich im Vorfeld seitens der sächsischen SPD Kritik entladen. Frank Richter, SPD-Landtagsabgeordneter, warf der Staatskanzlei auf seiner Homepage vor, Geschichte aus ihrer Perspektive erklären zu wollen. In der Ankündigung der Staatskanzlei war zu lesen, dass die von der westdeutschen SPD initiierte Entspannungspolitik mit dem SED-Regime und das Festhalten an der Deutschen Teilung in den Umbrüchen der 90er Jahre hinderlich gewesen sei. »Mag sein, dass Frau Seebacher das so sieht. Andere sehen das anders«, schreibt Richter, der mit vielen anderen aus der SPD am Donnerstagabend im Saal saß.

Addala kritisiert Verstoß gegen Neutralitätsgebot, Kretschmer widerspricht

So etwa Youssef Addala, Mitglied des Landesvorstands der SPD Sachsen. Es sei sehr befremdlich, dass er sich von CDUler Kretschmer erklären lassen müsse, was die Sozialdemokratie sei, »ohne, dass hier ein Sozialdemokrat auf dem Podium steht«, sagte Addala, nachdem die Runde für Fragen aus dem Publikum geöffnet worden war. Addala sieht das politische Neutralitätsgebot verletzt, dass verhindern soll, dass Staatsorgane in den politischen Wettbewerb eingreifen, etwa um einseitig Wahlkampf zu betreiben. Die SPD habe im Gegensatz zur CDU nicht die Möglichkeit, mit Geldern der Staatskanzlei eine solche Veranstaltung zu organisieren, sagte Addala. »Das ist ziemlich kleines Karo«, entgegnete Kretschmer, der seine Teilnahme an der Veranstaltung mit der Bewunderung für Seebacher begründete. »Ich mache daraus keine Parteiveranstaltung.« 

Kretschmer kündigte an, an weiteren Veranstaltungen dieser Art teilnehmen zu wollen. So sei vor dem Europawahlkampf im kommenden Jahr eine Diskussion mit dem schottischen Historiker Neil MacGregor zum Zusammenhalt in Europa geplant. »Da wird es hoffentlich auch jemanden geben, der sagt: ›Bitteschön, das ist ja jetzt hier Wahlkampf, das dürft ihr nicht machen!‹, und dann ist die Bude auch wieder voll«, sagte Kretschmer mit Genugtuung angesichts des mit etwa 100 Zuschauenden gut gefüllten Saals. Die Aufregung um die Veranstaltung im Vorfeld hatte wohl einige zum Besuch veranlasst, darunter viele Sozialdemokraten.

Seebacher und Kretschmer loben Agenda 2010

Seine wenigen Redebeiträge nutzt Kretschmer an diesem Abend tatsächlich nicht für einen Angriff auf die SPD, im Gegenteil. Seebachers Kritik, die in die SPD gestoßene 68er-Bewegung habe die Ideale der Arbeiterklasse verraten, da erstere nie eine Kelle in der Hand gehalten habe, entschärft Kretschmer. Die SPD erlebe nicht ihr Ende, sondern Veränderung, sagt Kretschmer und setzt eine Spitze in Richtung seines anderen Koalitionspartners: »Was die SPD heute noch ausmacht – anders als die Grünen – ist, dass sie eine Volkspartei sein will. Dass sie keine Klientelpartei ist.« 
Einig sind sich Seebacher und Kretschmer hingegen bei der Bewertung der Agenda 2010: Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) habe mit seinem sozialpolitischen Reformprogramm der Arbeit ihren Wert zurückgeben wollen, sagt Seebacher. In der anschließenden Diskussion wiedersprechen mehrere Menschen im Publikum an den Standmikrofonen im Saal entschieden. Viele von ihnen sehen in den als Hartz-Reformen bekanntgewordenen Gesetzesänderungen nach den Maßstäben des »Fördern und Forderns« den eigentlichen Grund für die Krise der Sozialdemokratie. Kretschmer hingegen pflichtet Seebacher bei, Schröder hätte Erfolg mit seinen Reformen Erfolg gehabt, wäre er noch ein, zwei Jahre länger Bundeskanzler gewesen. 

Kretschmer hatte in den letzten Monaten immer wieder betont, er wolle nach der kommenden Landtagswahl am 1. September 2024 in einer Zweierkoalition mit den Sozialdemokraten regieren, lobte bei Sandra Maischberger Kanzler Olaf Scholz. Als Moderator Andreas Platthaus (Frankfurter Allgemeine Zeitung) im Zeitgeschichtlichen Forum Seebacher fragt, warum Scholz in ihrem 700-Seiten-Wälzer keine Rolle spiele, antwortet die Historikerin: »Wer will denn ein Buch über Olaf Scholz schreiben?« – Während unter den Menschen im Saal Gelächter aufbrandet, schüttelt Kretschmer den Kopf, blickt auf seine Krawatte und lässt die Steilvorlage unkommentiert.
 


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