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Stadtleben

Heimliche Hauptstadt

Die Schreberbewegung feiert 160. Geburtstag - ihren Ursprung hat sie in Leipzig

  Heimliche Hauptstadt | Die Schreberbewegung feiert 160. Geburtstag - ihren Ursprung hat sie in Leipzig  Foto: Niklas Pfeiffer

Wer dem Leipziger EM-Trubel diesen Sommer entfliehen möchte, der findet nur ein paar Hundert Meter vom Zentralstadion eine grüne Oase der Ruhe: Den Kleingartenverein »Dr. Schreber«, der nicht nur zu den idyllischsten Kleingärten Leipzigs zählt, sondern auch der erste Schrebergartenverein aller Zeiten ist. Unter dem Dach seines im Fachwerkstil erbauten Vereinshauses ist das deutsche Kleingärtnermuseum zuhause. Zwischen mit Petersilie und Lauchzwiebeln bepflanzten Hochbeeten, einem Insektenhotel und einer roten Gartenlaube sitzen hier am vergangenen Samstag 50 Gartenfreundinnen und -freunde zusammen, um 160 Jahre Schreberbewegung genau dort zu feiern, wo sie 1864 ihren Ursprung hatte.

Der Namensgeber des Schrebergartens, der Leipziger Orthopäde Moritz Schreber, ist der Star des Tages. Er setzte sich im 19. Jahrhundert für die Gesundheit von Kindern ein, entwickelte Turnprogramme und forderte Turnunterricht unabhängig vom Geschlecht. Immer wieder wurde ihm allerdings vorgeworfen, gewaltvolle Erziehungsmethoden propagiert zu haben. Burkhard Kirchberg, der zum Wirken Schrebers promovierte, weist diesen Vorwurf entschieden zurück: Er habe in seiner Forschung keine Hinweise dafür gefunden, dass Schreber sich solcher Methoden bedient habe. Auch aus heutiger Sicht sei er »sehr fortschrittlich für seine Zeit« gewesen.

Dass der Schrebergarten heute nach ihm benannt ist, verdankt er einem Leipziger Schulleiter, der wenige Jahre nach Schrebers Tod den »Schreberverein« gründete, um Kindern in Leipzig eine Freifläche zum Spielen und Turnen zu bieten, ganz nach den Vorstellungen des Orthopäden. Gärten seien erst später hinzugekommen, um das Angebot zu finanzieren, erklärt Alexandra Uhlisch vom deutschen Kleingärtnermuseum. Damit war der Schrebergarten ursprünglich ein ganz anderes Konzept als der Kleingarten, der etwa ein halbes Jahrhundert früher entstand, und vor allem dem Gemüseanbau und der Versorgung mit Nahrungsmitteln diente. Heute sind Klein- und Schrebergärten ein und dasselbe.

Leipzig hat nicht nur den ältesten Schrebergartenverein Deutschlands, sondern auch sehr viele Kleingärten: 39.000 Stück. Nur Berlin hat mehr Parzellen, was Leipzig den Beinamen »heimliche Hauptstadt der Kleingärten« beschert hat. Und es sieht nicht so aus, als würden es bald weniger werden. »Unter jungen Leuten sind Kleingärten wieder sehr gefragt«, sagt Museumsleiterin Caterina Paetzelt. Besonders während der Pandemie habe es einen richtigen Kleingarten-Hype gegeben, doch das Interesse sei auch anhaltend hoch. Sie vermutet, dass es mit dem Zeitgeist zu tun hat: »Es gibt eine Gegenbewegung zum unbegrenzten Konsum, ein verändertes Urlaubsverhalten – man fliegt nicht mehr überall hin, nur weil man kann.« Der Kleingarten biete eine Möglichkeit, sich vor Ort im Grünen zu erholen und in Kontakt mit der Natur zu kommen.

Bei solider Nachfrage ist das Angebot an Kleingärten in Teilen Deutschlands in Gefahr: Immer wieder fällt in Vorträgen das Wort »Verdrängungsdruck«. Vor allem in Städten mit knapper Baufläche gibt es öfter Kleingärten, die Bauvorhaben weichen müssen. Im Kampf um den Erhalt der Anlagen haben die Gartenfreunde aber zwei wichtige Argumente: Einerseits können Kleingärten Städte kühlen und bei der Anpassung an den Klimawandel helfen. Andererseits können sie wichtige Beiträge zur Artenvielfalt leisten – wenn die Gärten naturnah bewirtschaftet werden. Das ist aber alles andere als der Standard in deutschen Kleingartenanlagen. Manche Kleingärtner würden einen naturnahen Ansatz ablehnen, kritisiert Dirk Sielmann, Präsident des Bundesverbands der Kleingartenvereine Deutschlands: »Einige stellen sich unter einem naturnahen Garten einen verwilderten Garten vor.« Dass ökologisch nicht gleich verwildert heißt und der Naturschutz im Vordergrund stehen soll, das sei noch nicht überall angekommen. »Da müssen noch viele Blockaden in den Köpfen gelöst werden«, räumt Sielmann ein. Doch diese Blockaden scheint es an diesem Tag im Publikum nicht zu geben: Denn kein Thema ist wichtiger als Ringelnattern, Holzbienen und Igel. Nicht Ordnung, sondern Ökologie steht im Vordergrund.

Museumsleiterin Paetzelt ist zufrieden mit der Festveranstaltung: »Wir wissen, dass das kein Massenevent ist. Aber so haben wir auch geplant und wir sind zufrieden damit, wie viele gekommen sind.« Besonders wichtig sei gewesen, die Geschichte von Moritz Schreber geradezurücken und ihn zu rehabilitieren. Wie sie einen Kleingartenskeptiker vom Kleingartenmuseum überzeugen würde? »Niemand muss sich für Kleingärten interessieren und schon gar nicht für ihre Geschichte. Aber es ist immer gut, über den eigenen Horizont zu blicken. Auch wenn der am eigenen Zaun endet.«


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