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Bildungslücke: Folge 2 – Gert Neumann: »Elf Uhr« (1981)

Bildungslücke: Folge 2 – Gert Neumann: »Elf Uhr« (1981)

Bildungslücke: Folge 2 – Gert Neumann: »Elf Uhr« (1981). 428 S.

Jeden Vormittag unterbricht der junge Mann seine Arbeit im Kaufhaus, um ein paar »rettende Sätze« in sein Notizheft zu schreiben. Er verzieht sich in die Personalgaststätte, ein wenig frequentiertes Treppenhaus oder den nahe gelegenen Park und notiert seine Erlebnisse und Gedanken, nicht selten unterbrochen von Kollegen oder Passanten, die sich von dieser Geste gestört fühlen: »Meester, schreib deine Mämoaren woandersch; das geht einem ja auf den Keks!«, ruft ihm einmal eine Kellnerin zu. Der junge Mann ist der Schriftsteller Gert Neumann (Jahrgang 1942), der 1969 vom Institut für Literatur »Johannes R. Becher« exmatrikuliert und aus der SED ausgeschlossen worden war und sein Geld seitdem als Bühnenhandwerker, Kesselreiniger und schließlich als Betriebsschlosser im Leipziger Kaufhaus »konsument« verdiente. In den Aufzeichnungen, die er 1977 und 1978 dort anfertigte, dokumentiert er den Alltag in der »Blechbüchse« mit einem Blick zwischen Empathie und Ekel. Szene für Szene entsteht ein subjektives, eindrückliches Gemälde der zwangskollektivierten Arbeitsumgebung: die anzüglichen Witze der Küchenfrauen; die Handwerker im Pausenraum, die »ihren Alkohol wie eine Handlung trinken«; die Verkäuferinnen, die die Menschenmassen nur mit bloßer Körperkraft von den Ständern mit den ersehnten polnischen Jeanshosen trennen können. Das eigentliche Thema ist jedoch der Widerstand, der im Schreiben selbst liegt: Neumanns Notate sind ein poetisches Programm zur »Verweigerung einer allgemein bestätigten Wirklichkeit«. Der Schriftsteller bringt die Literatur mit einer Vehemenz zur Verteidigung der Menschenwürde in Stellung, die in ihrer Kompromisslosigkeit auch heute noch verblüfft, ja fast erschreckt: »Der Sog der Poesie ist das einzige, moderne, Argument gegen die, tödliche, Gegenwartsgrammatik der Diktatur.« Und so ist »Elf Uhr« nicht nur ein Kaufhausroman und ein Schreibexperiment, sondern vor allem ein schonungsloses, allumfassendes Bekenntnis dazu, was Literatur zu leisten imstande ist. Clara Ehrenwerth


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