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Rezensionen

Conny Frischauf

Conny Frischauf

Kenne Keine Töne

Kenne Keine Töne

»Kenne Keine Töne«: Was soll, was möchte uns ein Album dieses Titels sagen? Ist es eine Aufforderung oder eine Zustandsbeschreibung? Beides ist möglich, so wie ohnehin viele Interpretationen möglich sind auf jenem vielgestaltigen Album, das nach »Die Drift« das zweite Solowerk der Wiener Klangkünstlerin Conny Frischauf darstellt. Erneut bewegt sie sich darauf zwischen poppiger Leichtigkeit und elektronischer Experimentierlust. Stimmlich erinnern die Songs wiederholt an die Kölner Sängerin Stefanie Schrank, die kürzlich mit »Schlachtrufe BRD« eine neue EP veröffentlicht hat. Soundästhetisch hingegen geht Frischaufs Ansatz weit darüber hinaus und verweist in seiner Weitläufigkeit eher an Kraut- und Ambient-Pioniere der 1970er Jahre wie Cluster, Brian Eno oder Tangerine Dream. Töne, Geräusche, Laute und Stimmen bilden einen dichten Soundkosmos, der bei geschlossenen Augen einen wahnwitzigen Film hervorzurufen vermag. Das in der Mitte des Albums platzierte Stück »Zwei Minuten« darf mit seiner durchgehenden Stille hingegen als Hommage an John Cages bahnbrechendes Werk »4'33« aus dem Jahr 1952 verstanden werden und fügt sich nahtlos ein in »Kenne Keine Töne«. Luca Glenzer

Autobahns

Autobahns

First LP!

First LP!

Man sollte es von Zeit zu Zeit wiederholen: Punk ist dem Ursprung nach nicht bierselig, machistisch und ideologisch verbohrt. Vielmehr war seine Frühform im New Yorker Underground der mittleren 1970er Jahre oftmals weiblich, queer, verspielt und überaus weird. Weird ist auch der Punk des Leipziger Quintetts Autobahns, das viele der frühen Szeneideale verkörpert und seine Musik konsequenterweise als »Weird Punk« bezeichnet. Nun hat es seine erste LP veröffentlicht. Was aber ist so weird an der Musik? Zum Beispiel die Synthiesounds, die sich mitunter anhören, als habe Supermario höchst persönlich sie auf seinem 8-Bit-Synthie eingespielt. Das Tempo der Songs ist standesgemäß hoch angesiedelt. Einzig »Silver Trauma« und »Loss Of The Rights« bewegen sich im Mid-Tempo-Bereich. Letzteres ist mit vier Minuten Spielzeit zugleich der opulenteste Track des Albums. Der Rest überschreitet nur selten die symbolische Zwei-Minuten-Marke. Keine Frage: »First LP!« macht Spaß. Aber wie es sich für eine gute Punkplatte gehört, kann sie das irre hohe Niveau der schier irren Liveshows von Autobahns nicht halten. Gut so! Denn im Zweifel gehört Punk auf die Bühne, nicht auf den Plattenteller. Luca Glenzer

Die Verlierer

Die Verlierer

Notausgang

Notausgang

Bekümmert, aber niemals träge, so klingt auch die zweite Veröffentlichung der Gruppe Die Verlierer. Für ihren Sound rauschen die Gitarren, ächzen und träumen bisweilen. Die Drums brausen, preschen vorwärts, während der Bass rumort. Die Wut aus ihren Bäuchen fließt direkt in die Lyrics. So tropft der Frust aus den Zeilen des Songs »Notausgang«, wenn es lautstark heißt: »Die Spaltung vorangetrieben, durch Populisten und Kapital …«. Auch mit kraftvollen Parolen klagen sie an, wie im Song »Fick diese Stadt«: »… vertreibt die Menschen, die in ihr wohnen, und verkauft ihre Kultur«. Mal raunt der Gesang von Hannes Berwing (auch Teil der Gruppe Maske), mal erstarkt, mal beschwingt die charismatische Stimme von Oska Wald (auch Musiker der Band Chuckamuck) eindrucksvoll. Die Verlierer geben uns unweigerlich zu verstehen, wie ihre innere Unruhe klingt. Ob die Musiker eingängige Töne anschlagen, die sogleich dazu verleiten, ihre Parolen mitzusingen, oder mit geräuschvollen, experimentellen Klängen beeindrucken: Mit der aktuellen Veröffentlichung denken Die Verlierer ihr energisches Debüt aus dem Jahr 2023 weiter. Sie singen von Veränderung, sie sind laut und beweglich. Keine Frage, die fünfköpfige Band aus Berlin versteht sich auf Brachiales. Sie wuchten ihre Worte in die Welt und dem lauscht man nur zu gern! Claudia Helmert

CHBB

CHBB

CHBB

CHBB

Ein klarer Fall von: endlich! Veröffentlicht ursprünglich 1981 in Eigenedition auf vier Kassetten mit je zwei Songs, limitiert auf fünfzig Stück, hatten die elektronischen Post-Punk-Sounds von CHBB geradezu mythischen Status. Bisher kursierten nur teure Bootlegs diverser Formate. Diese Lücke wird nun mehr als gefüllt, denn diverse Zusatzstücke überverdoppeln den Umfang. Den Nachruhm garantieren dabei zwei Faktoren. Einerseits die scharfkantige Grundcharakteristik eines brachialen Dystopie-Dance stark unterkühlter Attitüde, die am tiefen Horizont bereits Electric Body Music und Industrial-Techno aufflammen lässt. Andererseits die Personen: Denn CHBB steht für Chrislo Haas und Beate Bartel, die von DAF beziehungsweise Mania D. sowie den frühen Einstürzenden Neubauten kamen und ihr Material auf dem Weg zu Liaisons Dangereuses entwickelten. Dort, wo kurz darauf das Konzept um spanisch-französischen Gesang erweitert und so extrem erfolgreich wurde. Alexander Pehlemann

Damian Dalla Torre

Damian Dalla Torre

I Can Feel My Dreams

I Can Feel My Dreams

Mit »I Can Feel My Dreams« legt der in Leipzig beheimatete Multiinstrumentalist Damian Dalla Torre sein zweites Album vor. Während sein vor zwei Jahren erschienenes Debüt »Happy Floating« eine instrumentelle, mitunter opulent instrumentierte Avant-Pop-Platte war, schaltet Dalla Torre auf seinem neuen Werk einen Gang zurück. Beats sucht man darauf vergeblich, stattdessen dominieren sphärische, mitunter paralysierende Soundlandschaften den Klang der Platte, die von einer warmen, zumeist hoffnungsvollen Grundatmosphäre geprägt ist. Bei aller Komplexität von Stücken wie »Santi«, »Acryl« oder dem Titelstück zeugt »I Can Feel My Dreams« durch seine unprätentiöse, zugängliche Soundästhetik von großer künstlerischer Reife. Dass seine musikalischen Wurzeln im Jazz liegen, wird harmonisch dabei immer wieder deutlich. Zugleich weist das Album weit darüber hinaus. Den Großteil des Albums hat Dalla Torre – der bis 2018 in Wien und Leipzig studiert hat – während eines Aufenthaltes in Santiago de Chile komponiert. Mehrere der auf der Platte zu hörenden Instrumente spielte er dabei selbst ein – unter anderem Klarinette, Organelle, Tenorsaxofon und Querflöte. Hinzu kommen zahlreiche Gastauftritte anderer Musikerinnen und Musiker: Darunter befinden sich die italienische Bassistin Ruth Goller, der Sänger und Komponist Finn Ronsdorf, die österreichische Harfenistin Miriam Adefris und viele weitere. Nicht zuletzt ihr Zutun trägt dazu bei, dass »I Can Feel My Dreams« bis dato zu den spannendsten Ambient-Veröffentlichungen dieses Jahres gezählt werden kann. Luca Glenzer

Aaron Frazer

Aaron Frazer

Into The Blue

Into The Blue

Frazers Solo-Debüt »Introducing« von 2021 war eines der besten Neo-Soul-Alben der letzten Jahre und setzte einen sehr hohen Standard in dem Genre. Produziert vom umtriebigen Black-Keys-Mastermind und ausgewiesenen Soul-Experten Dan Auerbach war und ist es ein ausgefeiltes, verspieltes und überaus rundes Meisterwerk. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an den Nachfolger »Into The Blue«. Stimmlich kann Frazer Vorbildern wie Curtis Mayfield und Sam Cooke erneut locker das Wasser reichen und weiß am Mikrofon zu überzeugen. Leider übertreibt er es diesmal mit dem Genre-Surfen. Nach dem Hören des Albums steht Ratlosigkeit: War das ein Italo-Western-Soundtrack? Oder ein Hip-Hop-Album? Oder hat der Autor versehentlich einen Mainstream-Radiosender eingeschaltet? Eigentlich wäre all das, außer dem Letztgenannten, überhaupt kein Problem. In diesem Fall wirken die Songs leider häufig richtungslos und lassen die Pointiertheit des Debüts vermissen. Es bleibt das ungute Gefühl, dass Frazer mit dieser Platte etwas zu bedürftig nach dem ganz großen Publikum schielt. Eine Handvoll Lichtblicke wie der Titeltrack und »Easy To Love« entschädigen die Hörerin und den Hörer dennoch. Und lassen auf das nächste Album hoffen. Kay Engelhardt

Big Special

Big Special

Postindustrial Hometown Blues

Postindustrial Hometown Blues

Wir leben in einem Zeitalter der großen Depression – persönlich, sozial und generationsübergreifend. So bezeichnet es Joe Hicklin und er hat allen Grund dazu. Nicht nur, weil er mit seinen eigenen Dämonen ringt, sondern weil er es im Black Country tut. Die Gegend rund um Birmingham ist geprägt von der Kohle- und Stahlindustrie, die ihr den Namen verlieh. Der rußgefärbte Himmel ließ schon vor 200 Jahren kaum Platz zum Träumen. Im Post-Brexit-Britannien und mit dem Niedergang der Industrie ist der Horizont noch ein wenig schwärzer geworden. Sänger Hicklin und Schlagzeuger Callum Moloney fühlen sich der Arbeiterklasse verbunden. Als Big Special rotzen sie den Frust der Menschen in die Welt. Die stilistischen Grenzen sind dabei fließend. »Postindustrial Hometown Blues« bezeichnet die Band treffend ihren Sound. Mal erinnert das an das amerikanische Duo Black Keys, mal grenzt es an den Rap von Mike Skinner aka The Streets, ebenfalls ein Brummie, wie die Einwohner Birminghams traditionell genannt werden. Zur druckvollen Kombination aus Schlagzeug und Sprechgesang gesellen sich Gitarre und Keyboard. Der Sound von Big Special klingt roh und reduziert, aber stets aufregend. Das Debütalbum versammelt etliche Singles und EPs, die im Zeitraum eines Jahres erschienen sind, klingt divers, aber dennoch unverkennbar. Eine fulminante Feel-Bad-Platte einer chronisch schlecht gelaunten Band, von der man sich nur allzu gerne anschnauzen lässt. Lars Tunçay

Christian FP Kram

Christian FP Kram

Verso l’interno – Klavierwerke

Verso l’interno – Klavierwerke

Düster ziehen die ersten Anschläge der »Impressions« – eingespielt von Pianistin und kreuzer-Redakteurin Anja Kleinmichel – in die neue Veröffentlichung »Verso l’interno« aus sieben Klavierwerken von Christian FP Kram. Den ersten Tönen wohnt eine bisweilen unheimliche und stets vereinnahmende Energie inne, die in ruhigen Momenten dazu einlädt, zu sinnieren, zu schwelgen, zu träumen. Die Welthaltigkeit, die Kram in seine Musik verwebt, zeigt sich deutlich in den beiden Stücken »Pace!« und »Adesso« aus dem Jahr 2014. Jene fügen sich nahtlos aneinander und fordern, übersetzt man die Titel, zu sofortigem Frieden auf. Die Melodien der beiden Soloklavierstücke (eingespielt von Max Ernst) erklingen auf einem scheinbar fernen, anfangs am Klavierkorpus geklopften Rhythmus, der eine vereinnahmende Weite suggeriert. Der Rhythmus gleicht Morsezeichen, die die emphatischen Stücktitel einmal mehr vermitteln. In anfänglich fragilen Höhen flirren, säuseln die Töne, die Melodie erstarkt zum Schluss. So hallt die Wucht, das Drängen des titelgebenden Imperativs wider. Das Album versammelt Kompositionen aus den Jahren 1995 bis 2015 und ist damit nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Schaffen des Wahlleipzigers, das neben etlichen Klavierwerken auch szenische und orchestrale Stücke wie Ensemble-, Chor- und Kammermusik umfasst. Ob in zarten, fragilen Momenten, wie etwa in »Deux poèmes – in memoriam Alexander Skrjabin« (2015), eingespielt von Alexander Meinel, oder mit stürmischen Impulsen wie den Akkordkaskaden im letzten Teil der »Three Postludes« (1995): Krams Klavierstücke klingen nach Musik gewordenen Introspektionen. Sie zeichnen eine düstere Stimmung, die selten verloren, weltabgewandt, sondern zumeist erzählerisch, nachdenklich tönt – und dem lauscht man gern und fasziniert. Claudia Helmert

Prince Istari Meets Erik Satie

Prince Istari Meets Erik Satie

Inna Heavy Dub Encounter

Inna Heavy Dub Encounter

Elektronische Klassik-Adaptionen sind nicht neu, erinnert sei an die Recomposed-Serie oder gar Wendy Carlos. Sogar Satie in Dub gab es schon, von Mark Stewart & The Maffia, 1987. Aber Prince Istari – das Dub-Alter Ego von Istari Lasterfahrer – griff wohl ohne Kenntnis jener Version zur gleichen Methode. Nämlich, bedächtig rollenden, extrem skelettierten Dub ohne viel Effekt-Dramatik mit Saties Hits zu koppeln, den Gnossiennes und Gymnopédies, seinem »Best-of der 1880er und 1890er Jahre«. Deren melancholische Einfach- und leichte Durchhörbarkeit markierte den Weg zur Möbelmusik. Ambient-Klänge also, wie aus einem RFT-Soundsystem sinkend, installiert in der rumänischen Pressholz-Schrankwand im sozialistischen Plattenbau. Imaginiert allerdings in Hamburg, wobei die bildungs- wie antibürgerliche Annäherung im Finale konkreter wird, bricht da doch punky Breakcore durch, während die Istari-Mutter am Klavier sitzt, die den kleinen Prinzen früh und nachhallend infizierte. Alexander Pehlemann

Prince Istari

Prince Istari

Meets Erik Satie

Meets Erik Satie

Elektronische Klassik-Adaptionen sind nicht neu, erinnert sei an die Recomposed-Serie oder gar Wendy Carlos. Sogar Satie in Dub gab es schon, von Mark Stewart & The Maffia, 1987. Aber Prince Istari – das Dub-Alter Ego von Istari Lasterfahrer – griff wohl ohne Kenntnis jener Version zur gleichen Methode. Nämlich, bedächtig rollenden, extrem skelettierten Dub ohne viel Effekt-Dramatik mit Saties Hits zu koppeln, den Gnossiennes und Gymnopédies, seinem »Best-of der 1880er und 1890er Jahre«. Deren melancholische Einfach- und leichte Durchhörbarkeit markierte den Weg zur Möbelmusik. Ambient-Klänge also, wie aus einem RFT-Soundsystem sinkend, installiert in der rumänischen Pressholz-Schrankwand im sozialistischen Plattenbau. Imaginiert allerdings in Hamburg, wobei die bildungs- wie antibürgerliche Annäherung im Finale konkreter wird, bricht da doch punky Breakcore durch, während die Istari-Mutter am Klavier sitzt, die den kleinen Prinzen früh und nachhallend infizierte. Alexander Pehlemann

DIIV

DIIV

Frog in boiling Water

Frog in boiling Water

Das Drama gehört zur Geschichte von DIIV. Die New Yorker mussten in der Vergangenheit schon einige Krisen durchstehen. Bassist Ruben Perez flog wegen rassistischer Pöbeleien aus der Band; Sänger Zachary Cole Smith entwickelte eine branchenübliche Heroinsucht; nach ihrem gefeierten 2019er Album »Deceiver« standen sie ohne Label da; die Pandemie machte das Touren unmöglich – Bands haben sich schon aus weniger gravierenden Gründen aufgelöst. Vier Jahre brauchten DIIV für ihr viertes Album, das sie an die Grenzen des Bandgefüges trieb. Sie investierten alles in das nun fertige Werk, setzten ihre Freundschaft und ihre Zukunft aufs Spiel. Es ist bemerkenswert, wie kohärent der Sound ist, trotz der individuellen Probleme, die im Aufnahmeprozess offen zutage traten. Im Proberaum werden sie zum Kollektiv. Bei all den privaten Problemen und gegenwärtigen Krisen in der Welt finden DIIV Rettung darin, auf den Quadratmeter zu ihren Füßen zu starren und den Rest auszublenden. »Frog in boiling Water« ist Shoegaze in Reinform – mächtig und intim, düster und erhaben, psychedelisch und hypnotisch. Die Gitarrenwände laden dazu ein, sich an sie zu lehnen und für einen Moment den Rest der Welt auszublenden. Cole Smith’ Gesang ist gleichermaßen klagend und umarmend, der Titel des Albums ein zynischer Kommentar zur Lage der Welt. Lars Tunçay

TOTL XS. CTRL

TOTL XS. CTRL

Baptist

Baptist

Think About Mutation (TAM) sind Legende. Deren Erbe zu pflegen, nicht totzureiten, daran machten sich TOTL XS. CTRL um Mastermind Adler seit 2015. Als das Wort Crossover noch nicht erfunden war, mischten die Leipziger TAM in den frühen neunziger Jahren Metal mit Techno; was Bands wie Rammstein später abkupferten. Das ist auch das Grundkonzept bei »Baptist« – nur viel feiner und komplexer. Vier musikalisch sehr unterschiedliche Nummern vereint die Platte, während es inhaltlich um menschliche Urängste geht. Gleich im ersten Song gibt es eine Überraschung mit dem Gast-Sprechsänger Rummelsnuff. Fast zum hübschen Krächzen setzt er an, als er sich über den teilweise nach Southern-Stoner klingenden Gitarrenteppich erhebt, um die Stimme dann in väterlichen Bass zu senken. Mit elektronischem Echoausloten geht »Isolation« los, in das schwirrende Saitenanschläge und das Howling von Stewa dringen. Gemütlich schwingt »Liebe« los, das nach 90 Sekunden in treibende Raserei übergeht, die so hübsch nach groovigem Neunziger-Metal-Techno klingt und direkt an TAM erinnert. In jedem Song sind zusätzlich Schnipsel aus Noise, Acid, verzerrte Samples und vieles mehr verbaut und feingeschliffen. Beim Schleifehören lässt sich immer Neues entdecken. Tobias Prüwer

Alan Vega

Alan Vega

Insurrection

Insurrection

»Dream Baby Dream« – bis heute klingen jene Zeilen in den Ohren Tausender frischverliebter Nihilisten. Sie stammen aus dem gleichnamigen Song des US-amerikanischen Duos Suicide aus dem Jahr 1977. Sänger Alan Vega und sein kongenialer Partner Martin Rev dekonstruierten darin schon Punk, als dieser gerade erst im Begriff war, sich herauszubilden. Ab den frühen achtziger Jahren war Vega darüber hinaus als Solomusiker tätig: 15 Alben folgten im Laufe der Jahre. Und selbst sein Tod im Jahr 2017 konnte seinem Schaffensdrang offenbar kein Ende setzen: Denn mit »It« und »Mutator« folgten zwei starke, bis dahin unveröffentlichte Werke aus seinem Nachlass. Mit »Insurrection« ist nun das dritte posthum veröffentlichte Album Vegas erschienen. Aufgenommen hatte er es bereits in den späten Neunzigern. Ähnlich wie auf »Mutator« klingt er auch darauf über weite Strecken so, als hätte der tote Elvis Presley im Jahr 1982 spontan mit der australischen Noise-Rock-Combo The Birthday Party im Proberaum von Kraftwerk gejammt. Will heißen: »Insurrection« vereint Schöngeistigkeit und Destruktionskraft, ganz so, als ob es sich dabei um eine geradezu naheliegende Melange handelte. Man muss es sich leisten können, so starke Songs wie »Crash«, »Invasion« oder »Cyanide Soul« über 20 Jahre in den Archiven verstauben zu lassen. Alan Vega konnte das. Luca Glenzer

Kitty Solaris

Kitty Solaris

James Bond

James Bond

Wo immer James Bond auftaucht, ist Krieg und Auseinandersetzung irgendwie auch schon da. Für ein friedvolles Miteinander steht er jedenfalls nicht unbedingt. Und trotzdem benennt die Berliner Indie-Singer/Songwriterin Kitty Solaris ihr aktuelles Album nach dem Geheimagenten und verhandelt unter dieser Überschrift das Thema Frieden. Und ihr James Bond weiß genau, wie es geht: Mit bezaubernder Leichtigkeit singt er (beziehungsweise: Kitty Solaris), dass das ja wohl keine Art sei zu kommunizieren und man doch bitte mal die Waffen niederlegen solle. In verschiedenen Facetten taucht dieses Ideal des Friedens in den neun Songs des Albums auf. Dabei hinterfragt Kitty Solaris auch naives Wunschdenken oder die harmoniesüchtige Einstellung der Beatniks. Frieden um des lieben Friedens willen als Nicht-Lösung. Dann sucht sie aber auch wieder verzweifelt nach einer Lösung, falls es mit James Bonds Kuscheldiplomatie doch nicht klappen sollte: Aya-huasca könnte vielleicht helfen, ein Sud aus einem Kaffeestrauchgewächs, der in Mittel- und Südamerika als Droge in religiösen Zeremonien verwendet wird. Aber sind Menschen nur friedvoll und verträglich, wenn sie benebelt sind, und im nüchternen Zustand nicht zu ertragen? Wieder einmal wirft uns Kitty Solaris einige Fragen und Songzeilen zum Nachdenken vor die Füße. Dies aber auch mit so leichten Rhythmen und Melodien, dass diese Füße eben auch tanzen können. Immer ist es Pop, etwas anderes erlaubt ihr leichter Gesang gar nicht. Daneben gibt sie den neun Songs aber sehr individuelle Noten von Dream-Pop bis Dance. Besonders zeigt sich das beim Robert-Palmer-Cover »Johnny and Mary«, das durch Vocoder und Hall nicht nur überrascht, sondern Marys Suche nach innerem Frieden atmet. So, wie Kitty Solaris mit lässigen Melodien und Rhythmen des Drumcomputers ernste Themen verhandelt, hat sie vielleicht doch etwas von James Bond, der sich beim Retten der Welt auch selten überanstrengt. Kerstin Petermann

Arroganz

Arroganz

Quintessenz

Quintessenz

»Poser, lasst die Finger von diesem Material! « – Ohne freche Schnauze geht’s nicht bei Arroganz. Tatsächlich hört sich das Death-Black-Metal-Sandwich des Cottbuser Trios gewohnt kompromisslos an. »Quintessenz« meidet das Gefällige, will kein kleinster gemeinsamer Nenner sein. Die gutturalen Entäußerungen des Frontmanns haben klare Vorbilder im Schwarzmetal. Der Gitarrenhimmel hängt tief, tempomäßig liegen die Songs vor allem im Mittelfeld. Im Eröffnungssong schälen sich aus nebligem Doom-Geschleppe Death-Klänge heraus. Heftiger und schneller sind die Deathund Thrash-Anleihen bei »Dungeon Soul« und »Deadened Rawness of Life«. Dazwischen ist das düster-atmosphärische »The Devil and my Companion« als Puffer geschaltet. Mit »Guardian of old Scars« folgt Black-Metal-Gitarrensägen, das von geradlinigem Schlagzeugtreiben begleitet wird. Blast- und D-Beats sind gut über die Platte verteilt, Keif-Gesang hält die Elemente zusammen. Inhaltlich geht es vor allem um innere Dämonen und das Seelenleben – ganz ohne satanisches Gehabe. Das sprengt keine Ketten, sondern zwingt solche auf. Die ausgefeilten Kompositionen nehmen die Hörenden in Beschlag. Merkwürdigerweise wirken die Songs trotz dosierter Schnörkelei kompakt. »Quintessenz« ist kein peitschender Nackenbrecher, sondern stimmungsvolle Dampfmaschine. Tobias Prüwer

Various Artists

Various Artists

Der Text ist meine Party (Die Hamburger Schule 1989–2000)

Der Text ist meine Party (Die Hamburger Schule 1989–2000)

Eins gleich vorab für alle Zuspätgeborenen und Szeneunkundigen: Die Hamburger Schule ist keine irre Facebook-Sekte, zumindest war sie das nicht immer. Nachdem eine zweiteilige NDR-Dokumentation in ebenjenem sozialen Netzwerk Anfang Juni in erhitzten Diskussionen voller Kränkung, Neid und Missgunst der damals Beteiligten gipfelte, konnte dieser Eindruck ja entstehen. Parallel zur Dokumentation und zum Buch »Der Text ist meine Party« ist auch eine Compilation erschienen, die in Erinnerung ruft, dass es in der Hamburger Musikszene der späten achtziger und frühen neunziger Jahre tatsächlich einen musikalischen Zusammenhang gab, der innerhalb weniger Jahre mit Bands wie Kolossale Jugend, Blumfeld, Die Sterne, Die Braut Haut Ins Auge oder Tocotronic substanziell Neues hervorgebracht hat. Das verbindende Element dieser musikalisch letztlich doch sehr unterschiedlichen Bands lag dabei weniger in einem kohärenten Stil als vielmehr in der Art und Weise, wie getextet wurde: nämlich (überwiegend) auf Deutsch, aber ohne den patriotisch konnotierten Jetzthaben-wir-uns-endlich-von-den-Fesselndes-Zweiten-Weltkrieges-befreit-Dünkel von Protagonisten wie Kunze, Grönemeyer & Co. Dafür verkopft, alltagsnah, gebrochen, gewitzt und stets – ganz wichtig! – mit klarer Haltung. All das und noch viel mehr bildet diese tolle Compilation ab, auf der neben den weiter oben genannten Bands auch etwas abseits des üblichen Kanons stehende Acts wie Stella, Die Fünf Freunde oder Concord vertreten sind. Luca Glenzer

Ensemble Nobiles & Ensemble Leipziger Salon

Ensemble Nobiles & Ensemble Leipziger Salon

Es rappelt im Salon

Es rappelt im Salon

Neben den Comedian Harmonists gab es im Zeitalter der charmanten Schlager der zwanziger und dreißiger Jahre auch andere Ensembles, die Bühne, Radio und Schallplatte eroberten. Doch die Kardosch Sänger, die Melody Gents und andere sind heute in Vergessenheit geraten. Das Leipziger Ensemble Nobiles und das Ensemble Leipziger Salon haben nun ein wirklich unterhaltsames Doppelalbum veröffentlicht, zu dem der Rundfunkjournalist Claus Fischer interessante Einführungen in dieses Kapitel Zeitgeschichte und Tondokumente aus seiner Schellackplattensammlung beigesteuert hat. »Es rappelt im Salon« dokumentiert diese versunkene Welt einerseits in kommentierten Originalaufnahmen und lässt auf der zweiten CD die alten Hits wieder auferstehen. Da wird in »Ich möchte heiraten« Mendelssohns Hochzeitsmarsch eingebaut und auch sonst lustvoll-witzig hineinarrangiert. An der Seite der ehemaligen Thomaner des Ensemble Nobiles sind bei dieser Neueinspielung die Musikerinnen und Musiker des Ensembles Leipziger Salon zu hören. Das Ergebnis ist eine nostalgische Zeitreise, voll beschwingter Leichtigkeit, Charme und Eleganz. Nobiles intonieren astrein und artikulieren verständlich bis ins Detail, so dass man den amüsanten Geschichtenliedern ganz entspannt folgen kann, während die historischen Aufnahmen teilweise nur rudimentär zu verstehen sind. Dafür bestaunt man dort auch heute noch die speziell historische Mischung aus Zack, Leichtigkeit und Vitalität. Anja Kleinmichel

Fat White Family

Fat White Family

Forgiveness is yours

Forgiveness is yours

Die Zeiten, in denen man mit so ollen Sachen wie Sex, Drugs und Rock’n’Roll noch groß provozieren konnte, sind ja eigentlich vorbei. Der Band Fat White Family gelingt es aber trotzdem immer wieder. In den 13 Jahren ihres Bestehens haben sich die Briten dabei eine Art eigenen düster-ekstatischen Rockmythos geschaffen, der sehr wenig mit Glamour zu tun hat und viel mit Destruktivität, Selbsterniedrigung und dem Hang zum Verstörenden. Das wird in Interviews und Pressestatements dann auch viel und gerne zur Schau gestellt. Und so verwundert es kaum, dass auch das neue Album »Forgiveness is yours« mal wieder in einem Strudel aus Psychosen, Drogenmissbrauch und Angst vor dem Sozialamt entstanden sein soll. Anhören tut man es der Platte nicht unbedingt, jedenfalls nicht sofort. Wie schon das letzte Album »Serfs up!« kommt auch sie weitestgehend ohne den psychedelischen Noise-Rock früherer Tage aus. Stattdessen gibt es angenehm eklektische Pop-Perlen – samt heimeligen Flötenklängen, tanzbaren Disco-Grooves und opulenten Streicheinlagen: catchy, funky und sexy! So richtig gemütlich machen kann man es sich dann aber doch nicht. In gewohnter Manier werden die Arrangements immer dann zersägt, wenn es gerade zu nett wird. Und auch textlich holt Sänger Lias Saoudi alles raus, was an existenziellen Abgründen gerade so vorhanden ist. Von Begegnungen mit John Lennons Geist auf Ketamin bis zur extrem eindrücklichen Schilderung der traumatischen Beschneidung seines Bruders. So viel Beklemmung so wohlklingend und aufregend zu verpacken, ist dann schon ein Kunststück. Yannic Köhler

Goat Girl

Goat Girl

Below the Waste

Below the Waste

Dass der Goat-Girl-Sound von »Below the Waste« noch dröhnender als die raue Debüt-Perle von 2018 des Post-Punk-Trios aus Brixton klingt, hätte wohl niemand erwartet. Zumindest nicht, nachdem Holly Mullineaux neue Bassistin der Band wurde und ihre Sammlung hochwertiger Synthesizer vorstellte. Mit diesen hatten sie nämlich auf dem zweiten Album »On all fours« (2021) einen Kompromiss zwischen pavementesken, verzerrten Gitarrenwänden, Indie-Disko, Synthie-Pop, Noise-Rock, clubbigen Soundlandschaften und dem Gesang von Clottie Cream geschlossen. Eine ganz schöne Up-Tempo-Geschichte also, von der nun auf »Below the Waste« keine Spur mehr ist. Die dritte Platte der Londoner behält zwar die Synthesizer, das Folk-Artige und No-Wavige, ist aber träumerischer, obskurer, voller Blasinstrumente, Streicher und von repetitiven Harmonien durchdrungen. Dieser Rekurs auf Strukturen der minimalistischen Musik ist ein Trend in der gegenwärtigen britischen Post-Punk-Szene, auch auf den letzten Alben von Squid, Black Midi und Maruja zu hören. Da wundert es nicht, dass John »Spud« Murphy von Black Midi das Album mitproduzierte. Das Ergebnis überzeugt. Libia Caballero

Marina Allen

Marina Allen

Eight pointed Star

Eight pointed Star

Marina Allen aus Los Angeles ist mit »Or Else« im Jahr 2022 ein waschechter kleiner Indie-Hit gelungen: Ausgestattet mit tollem Text, vorgetragen mit wahnsinnig präzisem, ausdrucksstarkem Gesang und geerdet durch grandioses Songwriting. Und das nahezu unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Wäre derselbe Song Anfang der Siebziger herausgekommen, hätte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens die amerikanischen Charts erobert. Im Hier und Jetzt wird es jedoch immer schwieriger herauszustechen. Dabei besitzt Allen, die aus New Jersey stammt und die es mit zehn Jahren nach Kalifornien verschlug, eine unverkennbare Stimme. Ohne Probleme kann sie es mit großen Vorbildern wie Carole King und Karen Carpenter aufnehmen. Auf ihren ersten beiden Alben präsentierte sich Allen der Melancholie sehr zugeneigt. Diese weicht auf ihrem dritten Longplayer »Eight pointed Star« einer weitaus hoffnungsvolleren, stellenweise gar unbeschwerten Stimmung. Die neun aktuellen Stücke klingen erstmals nach Bandgefüge und weniger nach Singer/Songwriterin am Piano mit gelegentlicher musikalischer Unterstützung, was Allens Soundkosmos öffnet und den Songs guttut. »Swinging Doors« etwa hört sich fast schon so überschwänglich und jangly an wie die Lemonheads. Ganz großes Kino! Kay Engelhardt