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Rezensionen

Patricia Kopatchinskaja, Thomas Kaufmann & Camerata Bern

Patricia Kopatchinskaja, Thomas Kaufmann & Camerata Bern

Exile

Exile

Mit ihrem neuen Album widmet sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja der Musik von Komponisten, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Bereits mit dem ersten Titel, der traditionellen Volksweise »Kugikly«, zeigt Kopatchinskaja Experimentierfreude. Gemeinsam mit der Camerata Bern und dem Cellisten Thomas Kaufmann gelingt es ihr, eine eindringliche Atmosphäre zu schaffen, die Schmerz und Einsamkeit des Exils in vielen Facetten erlebbar macht. Das Album entfaltet sich als vielschichtige Reise durch die Gefühlswelten von Komponisten wie Alfred Schnittke, Ivan Wyschnegradsky oder Eugène Ysaÿe. Kopatchinskajas Virtuosität erstrahlt besonders in Andrzej Panufniks Violinkonzert, das technische Brillanz mit emotionaler Tiefe verbindet. In drei Sätzen entfaltet sich die Geschichte des exilierten polnischen Komponisten, seine Suche nach einer neuen musikalischen Sprache und der damit verbundene Schmerz. Doch es sind nicht nur die virtuosen Momente, die »Exile« auszeichnen. Die intime Klangsprache der Werke, meisterhaft interpretiert, vermittelt die Zerrissenheit und Sehnsucht der Komponisten, deren Musik von ihrer entwurzelten Existenz geprägt ist. Für Kopatchinskaja selbst ist dieses Thema spürbar persönlich – besonders in der moldawischen Volksweise »Cucuşor cu pană sură«. »Exile« ist mehr als ein Album – es ist ein Plädoyer für Empathie und eine Hommage an die Kraft der Musik, Verlust und Hoffnung zugleich auszudrücken. Isabella Guzy

Damon Locks

Damon Locks

List of Demands

List of Demands

»The Doors are locked / Exits are blocked / We have found ourselves in an impossible Situation« – Die ersten Worte könnten eine direkte Reaktion auf die Wiederwahl Donald Trumps sein. Aber sie entstammen der Analyse einer gesellschaftlichen Situation, die schon länger schwelt und nach wie vor brennt – und das nicht nur in den USA. Damon Locks, Musiker, Dichter, Educator, trägt sie mit einer didaktischen Ruhe vor. Auch wenn die klugen Texte auf »List of Demands« finster sind, strahlen sie keine Hoffnungslosigkeit aus. »The People in Power are no longer controlling our Lives«, heißt es nur kurz darauf in einem Sample. Locks, der zunächst als Frontmann der legendären Punkband Trenchmouth shoutete, später als Leiter des Musikkollektivs Black Monument Ensemble in Erscheinung trat, aber auch mit inhaftierten Künstlern in seiner Heimatstadt Chicago arbeitete, vereint all das auf seinem ersten Soloalbum. Er loopt Jazzsamples, schneidet politische Reden dazwischen, mischt das mit Livemusik von seinem Weggefährten, dem Kornettisten Ben LaMar Gay, und anderen – und trägt dazu seine Spoken Words vor, die an die Beat-Poesie der Spätsechziger ebenso erinnern wie an die Reden der Black-Power-Aktivisten Stokely Carmichael und Angela Davis. Das wirkt hochgradig hypnotisch und sophisticated und trotzdem zugänglich und anschlussfähig, weit über die schwarze Community hinaus. Lars Tunçay

Rose City Band

Rose City Band

Sol y Sombra

Sol y Sombra

Wenn Sänger und Gitarrist Ripley Johnson nicht gerade als eine Hälfte des Projektes Moon Duo unterwegs ist, widmet er sich mit seinem anderen Projekt Rose City Band der psychedelischen Country-Musik. Längst befindet sich die Band mit dem floralen Namen wirklich knietief im Country. Und das nicht erst, seitdem Mitstreiter Barry Walker regelmäßig mit seinen Pedal-Steel-Soli für Entzücken sorgt. Chefkoch Johnson macht in Interviews keinen Hehl daraus, dass seine Stimmung und damit die Musik stark von den Jahreszeiten beeinflusst wird. Während etwa die ersten beiden Alben ausgewiesene Sommerplatten waren, geht es auf »Sol y Sombra« verhältnismäßig herbstlich-melancholisch zu. Das angenehm Velvet-Undergroundige »Wheels« und die fluffig im Mid-Tempo groovenden Stücke »Open Roads« und »Radio Song« bilden da erwähnenswerte Ausnahmen. Ansonsten sind die ausufernden Ausflüge, die ebenfalls reichlich Raum für Orgel- und Gitarren-Soli lassen, leicht düster, also mehr Sombra als Sol, was aber dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch tut. Schließlich gehört das Schattige ebenso zum Leben. Kay Engelhardt

Dennis Bovell

Dennis Bovell

Sufferer Sounds

Sufferer Sounds

Dennis Bovell, geboren auf Barbados und aufgewachsen in London, hat eine unglaubliche Bandbreite als Produzent aufzuweisen: vom experimentellen dubby Post-Punk mit The Slits, The Pop Group, Saâda Bonaire oder gen Gitarrenpop schwenkend mit Orange Juice, über den Afro-Funk von Fela Kuti bis zu jenem klassischen UK-Reggae der Jahre 1976–80, inklusive des ach so süßen Bovell-Gezüchts namens »Lover’s Rock«. Genau diese Periode deckt auch die wunderbar groovende Sammlung »Sufferer Sounds« ab. Der Titel verweist dabei auf das Jah Sufferer Sound System, mit dem er jener aufgewühlten Tage (Punk-Durchbruch, National-Front-Aufschwung, Notting Hill Carnival Riots) aktiv war und nicht zuletzt eine direkt auf den Dancefloor zielende Teststation für die eigenen Produkte hatte. Sei es für seine Bands Matumbi, African Stone, Young Lions und die Linton Kwesi Johnson begleitende Dub Band oder mit dubwise federnden Riddims für Janet Kay, Pebbles, Dennis Curtis oder Errol Campbell. Killer-Selection, wie Soundbwoys sagen würden. Alexander Pehlemann

Memory Pearl

Memory Pearl

Cosmic-Astral

Cosmic-Astral

»Man kann es sich wie eine Weltraumreise vorstellen, bei der dich jedes Stück weiter aus dir selbst heraus und tiefer in eine kosmische Sphäre trägt« – so Moshe Fisher-Rozenberg aka Memory Pearl über »Cosmic-Astral«, sein neues Album. Für die Reise in das innere Universum bedient sich der Multiinstrumentalist und Produzent, der auch als Psychotherapeut tätig ist, eines Musikprogramms aus den siebziger Jahren. Die von ihm neu interpretierte Musik wurde damals von Psychotherapeuten in Kombination mit LSD eingesetzt. Die bewusstseinserweiternde Substanz sollte nicht nur bei der Sinnsuche unterstützen, Patientinnen und Patienten könnten, laut dem in den Sechzigern und Siebzigern wirkenden Psychologen Timothy Leary, im Rausch auch Konditionierungen überwinden. Weitaus interessanter als für Medizinerinnen und Mediziner war die heilende Wirkung der Droge jedoch für Künstlerinnen und Künstler, so auch für Fisher-Rozenberg. »Cosmic-Astral« klingt – ohne LSD (die Autorin verzichtet auf eine vergleichende Analyse) – unweigerlich trippig: Gediegen verschmelzen die Synthesizerklänge mit Improvisationen von beispielsweise Joseph Shabason am Saxofon, Moritz Fasbender am Klavier oder Alex O’Hanley an der Gitarre. Und formen immer neue kaleidoskopische Klanggefilde. Jene sind vergleichbar mit dem Sound von Tangerine Dream in den Neunzigern und entfalten mindestens innere Ruhe und Entspannung. In diesem Zustand lohnt es sich, das Album alsbald erneut zu starten, um in der Wiederholung immer neue Facetten der Musik und vielleicht auch im inneren Universum zu entdecken. Claudia Helmert

Rolf Blumig

Rolf Blumig

Alles hat seine Zeit

Alles hat seine Zeit

Eines ist offensichtlich: Rolf Blumig hat viele Ideen. Seit seinem Debüt »Liebe lohnt sich« (2021) bringt die Leipziger Kunstfigur fast jährlich neue Alben heraus – jedes ein einzigartiges, schräges Universum. Mit »Alles hat seine Zeit« zieht er nun die Zügel an: weniger verspielt und weniger sonnig als das dritte Album »Zirkus Blumig«, dafür düsterer und mit mehr sexy Stoner- und Krautrock-Einschlag. Blumigs viertes Album umfasst sieben Songs und bleibt seiner Handschrift treu: Die Arrangements sind komplex, die Gitarren dröhnen, die Rhythmen sind verschachtelt und die Texte voller bissigem Humor. Während die letzten beiden Alben noch von Hoffnung und Tropicalia durchzogen waren, wirkt »Alles hat seine Zeit« introvertierter und schwerer. Mit seinem schlageresken Charme knüpft es stärker ans Debütalbum an. Aber jetzt mal ehrlich: Trotz der Kohärenz des neuen Albums vermissen wir die wahnsinnige, heitere Verspieltheit der letzten beiden Platten! Gut, es sind eben harte Zeiten und nicht mehr die Siebziger, die »Zirkus Blumig« nachzubilden versuchte. Es ist Musik, passend zu einer Gegenwart, die uns mit ihren Kriegen, der omnipräsenten Trump-Show und dem Aufstieg der AfD zunehmend verstört. Trotz allem: Daumen hoch. »Alles hat seine Zeit« ist das Baby eines talentierten Musikers – irgendwo zwischen der Virtuosität von Frank Zappa oder Helge Schneider und der Rätselhaftigkeit von Alf. Aber bloß nicht zu sehr was drauf einbilden, Rolfie! Libia Caballero Bastidas

Joya Marleen

Joya Marleen

The Wind is picking up

The Wind is picking up

Irgendwo zwischen gefühlvollen Lovesongs, Heartbreak-Balladen und Pophymnen über den Mut, die eigenen Ängste zu überwinden, trifft Joya Marleen mit ihrem Debütalbum »The Wind is picking up« den Nerv ihrer Generation. Mit gerade einmal 21 Jahren erreichte die Schweizerin als erste weibliche Solokünstlerin die Nummer 1 der Schweizer Airplay-Charts. Nicht nur das spricht für ihr Ausnahmetalent: Joya Marleen beeindruckt mit einer unverwechselbaren Stimme, schreibt ihre Songs selbst und beherrscht nebenbei auch noch Gitarre, Bass, Schlagzeug und Klavier. Musikalisch treffen in ihrem Album folkige Gitarren auf tanzbare Rhythmen und eine emotionsgeladene Wärme im Gesang. Dabei geht es, wie so oft, um die Liebe: »I think I’m in Love« fängt im Beat das euphorische Herzklopfen der Verliebten ein und sogar der Weltuntergang in »End of the World« ist erträglich, solange man ihn nur gemeinsam durchsteht. Das Album kratzt jedoch nicht nur an der Oberfläche: In Songs wie »Difficult« und »Fire« thematisiert die Künstlerin Selbstzweifel, Ängste und den Wunsch, diese zu überstehen, nicht ohne sich selbst ein Versprechen zu geben: »There’s gonna be a better Day. You’re gonna make it out the Rain.« Aktuell ist Marleen in der Schweiz auf Tour, nach Leipzig kommt sie im Herbst. Celina Riedl

Susanne Fröhlich

Susanne Fröhlich

Ukai – 迂回

Ukai – 迂回

Mit »Ukai – 迂回« entführt die Blockflötistin Susanne Fröhlich in eine Klangwelt abseits vertrauter Pfade. Die Verbindung von traditionellen japanischen Klängen und zeitgenössischen Kompositionen von Markus Zahnhausen, Chaya Czernowin, Gerriet Krishna Sharma, Sarah Nemtsov und der Interpretin selbst lassen die Blockflöte in einem unbekannten Licht erstrahlen. Gleich die ersten Stücke machen deutlich: Diese CD ist nichts für den beiläufigen Musikgenuss, sie fordert Neugier und Offenheit. Fröhlich präsentiert nicht nur ihre beeindruckende Virtuosität, sondern auch ihre intensive Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Instrumentenfamilie der Blockflöte. Hier zeigt sich, wie die moderne Weiterentwicklung des Instruments neue Klangspektren eröffnet, die weit über traditionelle Vorstellungen hinausgehen. In den Kompositionen, darunter mehrere Welt-Ersteinspielungen, verschmelzen schwebende, meditative Passagen mit experimentellen Klangfarben, die die expressive Bandbreite der Blockflöte in den Mittelpunkt rücken. Dabei überrascht das Instrument mit einem erstaunlichen Tonspektrum, klingt mal traditionell warm und hölzern, dann zischend, derb oder ungewohnt laut, lässt in ungeahnten Höhen aufhorchen, während staccatoartige Passagen seine rhythmische Präzision betonen. »Ukai – 迂回« präsentiert ein oft unterschätztes Instrument als eigenständige, faszinierende Klangwelt – und beeindruckt dabei nachhaltig. Isabella Guzy

Popkornzone

Popkornzone

Polyacryl

Polyacryl

Wie ein harter Kern brodelt der Bass, schrammelt die Gitarre, scheppert das Schlagzeug. Im hitzigen Zusammenspiel schwillt der Sound der Band an, um – puff! – schließlich in ganz individuellen Formen zu kulminieren. So macht die Punk-Gruppe Popkornzone ihrem Namen alle Ehre. Am Bandnamen nicht unschuldig sind sicher die Popkornbrüder, Milan und Ferdinand Dölberg, die außerhalb der Band bildende Künstler und Filmemacher sind. Die erste EP der Berliner erschien 2022. Von dieser wärmen sie den DIY-Spirit nun wieder auf, der viel wuchtiger durch die sieben Tracks von »Polyacryl« heizt. So raunt der Sänger Ferdinand Dölberg am Ende des Tracks »Stal-no« treffend: »Na, es wird immer unrhythmischer.« Der rotzige und trotzige Gesang wildert, die Riffs treiben. Ein Gespür dafür, wie es sich anfühlt, »schlecht geträumt« zu haben, vermitteln sich auftürmende Klangcollagen. Die zumeist deutschen Lyrics gleichen in ihrer Impulsivität der Musik: Schlagartig reihen sich Eindrücke aneinander, wie etwa davon, an der Kasse in der Schlange zu stehen, mal ruft die Gruppe mit wunderbar Dada-haften Slogans wie »Perücken verzücken« zum gemeinsamen Grölen auf. Die allesamt kurzen Tracks setzen schnelle Schnitte zwischen die unterschiedlichen Stimmungen der Songs und bestärken nur die Wucht, die der Musik innewohnt. Tolle Energien setzt die Popkornzone frei. Claudia Helmert

Von Spar / Eiko Ishibashi / Joe Talia / Tatsuhisa Yamamoto

Von Spar / Eiko Ishibashi / Joe Talia / Tatsuhisa Yamamoto

Album I & II

Album I & II

Die japanische Experimentalmusikerin Eiko Ishibashi, die in der Vergangenheit vielfach mit Jim O’Rourke zusammenarbeitete, wurde international bekannt durch ihre Soundtracks für die Filme von Oscarpreisträger Ryusuke Hamaguchi, »Evil does not exist« und vor allem »Drive my Car«. 2019 stand sie beim Kölner Week-End-Fest gemeinsam mit den Schlagzeugern Tatsuhisa Yamamoto und Joe Talia auf der Bühne, die für ihr improvisiertes Spiel in der Tokioter Musikszene geschätzt werden. Bei diesem Gastspiel kam es zum Treffen mit den Musikern der Kölner Von Spar, die sich eher als offenes Musikkollektiv verstehen denn als Band. Dieses Zusammentreffen mündete in ihrer Zusammenarbeit an Von Spars letztem Studioalbum »Under Pressure«. Es entstand eine Freundschaft und der Wunsch einer ausgedehnten Session, die jetzt auf zwei Alben Raum findet. Ishibashis experimenteller Ansatz mischt sich darauf mit Von Spars Liebe zu Can, die sie 2013 bereits mit Stephen Malkmus und ihrer gemeinsamen Interpretation von »Ege Bamyasi« unter Beweis stellten. Album I und mehr noch Teil II sind offene Räume für Improvisation, in denen sich mal mehr, mal weniger Songstrukturen entdecken lassen. Von den treibenden Kraut-Grooves, jazzigen Bassläufen, schwebenden Gitarrenstrichen und sanften Synths geht aber stets eine hypnotische Faszination aus. Atmosphärische Soundscapes für aufgeschlossene Ohren. Lars Tunçay

Flora Hibberd

Flora Hibberd

Swirl

Swirl

Zu unserem Glück motivierten die Londonerin Flora Hibberd ihre Pariser Kunstfreundinnen und -freunde dazu, ihrem feinen Gespür für musikalische Ideen nachzugehen und Ausdruck zu verleihen. Zu ihren unüberhörbaren Vorbildern zählen Cat Power, Leonard Cohen und Aldous Harding. Ihre eigene Klangwelt bewegt sich passenderweise irgendwo zwischen Indie-Folk und entspanntem Jazz-Pop. Über ihre Arbeit sagt die Musikerin: »Es ist nicht leicht zu erklären, wie Songwriting überhaupt funktioniert. Nicht, weil es sonderlich schwierig oder geheimnisvoll ist. Aber die einzelnen Schritte zum fertigen Song sind nebulös und können sehr intuitiv sein. Man braucht schon ein wenig Vertrauen, dass einen der Song an die Hand nimmt.« An jenem Vertrauen fehlt es der Britin nicht. Dementsprechend kommt ihr Debüt-Album auch ätherisch, verspielt und homogen daher. Seinem Namen macht es alle Ehre, ist dabei aber ein sehr sanfter Strudel. Die außerirdische Stimme Hibberds nimmt uns sofort gefangen und trägt uns durch dieses zurückgelehnte Album. Kay Engelhardt

Chris Imler

Chris Imler

The Internet will break my Heart

The Internet will break my Heart

Über das Internet zu sprechen oder zu singen, ist so 2008. Könnte man meinen. Ähnlich wie die Zweigeschlechtlichkeit im Jahr 1950 ist es heute eine allgemeingültige, vollkommen alternativlos erscheinende Tatsache. Den Berliner Underground-Papst Chris Imler hält das indes nicht davon ab, es dennoch thematisch ins Zentrum seines neuen Albums zu stellen. Vielleicht auch deshalb, weil er – Jahrgang 1959 – zu jener seltener werdenden Spezies gehört, die das Prä-Internet-Zeitalter noch bewusst miterlebt hat. In den frühen achtziger Jahren war er Teil der virulenten Westberliner Post-Punk-Szene. Solokünstler wurde er erst in den frühen 2010er Jahren – also in einem Alter, in dem viele Subkulturschaffende längst die Beine hochlegen. Seitdem hat Imler sich mit zahlreichen legendären Auftritten sowie drei Alben eine kleine, dafür aber höchst eingeschworene Fanschar erspielt. Die wird, so kann man annehmen, auch mit dem neuen, hier vorliegenden Album wachsen. Denn erneut versteht Imler es, mit Songs wie dem Titeltrack, »Un solo Corpo« oder »Me Porn, you Porn« einen höchst eigenwilligen Mix aus analogen und elektronischen Klängen zu kreieren, der soundästhetisch irgendwo zwischen DAF, Suicide und Alien Sex Fiend einzuordnen ist. Zwar erreicht auch »The Internet will break my Heart« nicht die Intensität von Imlers irren Liveshows – doch an dieser Messlatte kann man auch nur scheitern. Luca Glenzer

Tocotronic

Tocotronic

Golden Years

Golden Years

Wer nach 32 Jahren Bandgeschichte das 14. Album veröffentlicht, hat es sich zweifellos verdient, dieses »Golden Years« zu nennen – Sentimentalitätsüberschussgefahr hin oder her. Die Ex-Hamburger und seit Kurzem – ca. 25 Jahren – in Berlin ansässige Band Tocotronic hat sich das jedenfalls nicht nehmen lassen und setzt nach »Die Unendlichkeit« und »Nie wieder Krieg« erneut aufs bewährte Pathos. Bereits der vorab ausgekoppelte Uptempo-Track »Denn sie wissen, was sie tun« machte dabei deutlich, dass die Band um Sänger und Frontmann Dirk von Lowtzow sich wie bereits auf den drei vorangegangenen Alben von allzu kryptischen lyrischen Pirouetten verabschiedet hat. Oder anders gesagt: »Eins zu eins ist jetzt vorbei« ist längst vorbei. Anno 2025 heißt es in Richtung AfD, FPÖ & Co: »Diese Menschen sind gefährlich, denn sie wissen, was sie tun« und »Darum muss man sie bekämpfen, denn sie werden zahlreicher.« Ja, das kommt mitunter grenzwertig plakativ daher, aber ist trotz alledem immer noch verdammt catchy! Mit »Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal« und »Jeden Tag ein neuer Song« gibt es dieses Mal bloß zwei Songs, die auch nach mehrmaligem Hören nicht so recht zünden wollen. Dem gegenüber stehen mehrere starke wie der Opener »Der Tod ist nur ein Traum«, der Titeltrack oder »Vergiss die Finsternis«. Und mit »Bleib am Leben« präsentieren Tocotronic gar einen waschechten Überhit, der angesichts der politisch-gesellschaftlichen Krisenlage gerade zur rechten Zeit erscheint. Zugleich unterstreicht der Song mit seinen hüsker-düesken Noise-Gitarren- Kaskaden zum vorerst letzten Mal den kaum ersetzbaren musikalischen Mehrwert des langjährigen Lead-Gitarristen Rick McPhail, der nach Beendigung der Albumaufnahmen seinen Ausstieg aus der Band verkündet hat. Luca Glenzer

Sinem

Sinem

Köşk

Köşk

Was haben Anadolu Pop und Post Punk gemein? Wenn es nach der Münchner Sängerin Sinem Arslan Ströbel geht: ziemlich viel. In ihrem neuen Musikprojekt namens Sinem verbindet sie das Schwelgerische mit dem Kantigen und damit das Beste und Interessanteste aus beiden Welten. Damit vollbringt sie zugleich das Kunststück, dem längst ausgereizten Nach-Punk das erste Mal seit viel zu langer Zeit so etwas wie Innovationskraft zu entlocken. Dabei war das zunächst gar nicht ihr Ziel: Denn ursprünglich wollte Arslan Ströbel vor gut einem Jahr bloß ein paar Türkpop-Smash-Hits für den runden Geburtstag der Oma einstudieren. Nach einem gemeinsamen Jam mit ihrem Mitbewohner, dem Drummer Tom Wu, war dann aber schnell die Idee für ein gemeinsames Musikprojekt geboren. Dass nun, knapp 15 Monate später, bereits das Debütalbum mit dem Titel »Köşk« in den Startlöchern steht, ist genauso sensationell wie die acht Songs, die sich darauf befinden. Mitunter klingen sie, als wäre Cem Karaca eine musikalische Liaison mit Siouxsie Sioux eingegangen – und Sinem Arslan Ströbel ihres Werkes Kind. Luca Glenzer

Eva Klesse Quartett

Eva Klesse Quartett

Stimmen

Stimmen

Die Welt ist laut. So laut, dass leise Stimmen darin zumeist kein Gehör finden und somit untergehen. Anders ist das auf dem neuen Album »Stimmen« des Eva Klesse Quartetts, das sich zum Ziel setzt, das Volumen des Leisen und Unscheinbaren zu erhöhen. Die darauf enthaltenen 13 Stücke drehen sich in drei Kapiteln um Geschichten, die von gesellschaftlichen Umbrüchen, von Widerstand, Träumen und gescheiterten Utopien handeln. Dafür hat die Schlagzeugerin und Bandleaderin ihre Band mit Evgeny Ring (Saxofon), Philip Frischkorn (Piano) und Marc Muellbauer (Bass) um die Gäste Michael Schiefel (Stimme), Zuza Jasinska (Stimme) und Philipp Rumsch (Sound-Design, Electronics) erweitert – und mit ihnen auf Texte von Carolin Emcke, Ellen Hellwig, Yulia Tsvetkova und anderen zurückgegriffen. Diese werden zumeist in Spoken-Word-Manier von Klesse selbst vorgetragen. Musikalisch aufgelockert wird das Album durch wiederholte chorale Passagen sowie charakteristische, aber nie überbordend wirkende Solopassagen. Im Laufe des Albums entwickeln die Stücke so einen Sog, der gleichermaßen beruhigend wie begeisternd wirkt und dem man sich kaum zu entziehen vermag. »Es ist alles geliehen – aus Büchern, aus Erzählungen, aus der Geschichte«, heißt es im eröffnenden »Equatation (Intro)«. Das stimmt! Doch am Ende des Albums transzendieren sich die geliehenen Einzelstimmen, so dass sie nicht mehr separiert voneinander stehen, sondern ein neues, großes Ganzes ergeben. Luca Glenzer

Chartreux

Chartreux

Fatigue

Fatigue

Eingängige Hardcore-Punk-Melodeien, eine Spur Postcore: Der Skateboard-Slam ist hier so unvermeidbar wie überzeugend. Nur kommen Chartreux nicht aus den USA, sondern aus Leipzig. Sound und Kompositionen sind für eine hiesige Garagenpunk-Band ungewöhnlich, gerade in ihrer Genreklarheit. Dass die elf Songs in knapp zwanzig Minuten durchgespielt sind, lässt reines Hardcore-Geballer erwarten. Doch ist die Platte in Tempo und Melodie ab-wechslungsreich gestaltet. Reichlich Hör- und Spielerfahrung klingen hier heraus, die nach dem Prinzip do it yourself die gemeinsamen Kompositionen antrieben. Zumindest scheint die Platte vor allem im Proben- und Jamprozess entstanden zu sein. Ermüdung ( »Fatique«) stellt sich auch beim Schleifenhören nicht ein – auch wenn die Cover-Katze so guckt. Im Gegenteil animiert die Musik zum Mitwippen, zur flotten Fahrradfahrt oder dosierten Roundhouse-Kicks. Diese vier mittelalten Männer will man unbedingt mal hier live sehen. Wenn im Zoro oder im Schuppen das Kondenswasser zu ihrer Musik von der Decke tropft, katapultiert das Erlebnis zurück in die Hochphasen westlicher Garagenpunk-Musik mit weißem Mittelklassetouch. Tobias Prüwer

Sofie Royer

Sofie Royer

Young-Girl forever

Young-Girl forever

Ein eindrucksvolles Popgewand zeigt Sofie Royer, indem sie eingängige wie leichtfüßige Synthesizermelodien verwebt. Die wieder in Wien lebende Künstlerin scheint sich dabei vom Leuchten der achtziger Jahre inspirieren zu lassen, lässt aber auch ihr Interesse an der melancholischen Stimmung von Chansons anklingen. Jene akzentuiert sie mit druckvollen Gitarrensoli, wie etwa im Song »Lights out Baby, Entropy!«, oder verzerrt ihre Stimme entlang der Melodie im Song »Saturdee Nite«. Überhaupt wirkt ihr Pop erst so eindrucksvoll durch die warme Klangfarbe ihrer Stimme. Und mit jener singt sie im Track »Young-Girl (Illusion)«: »Don’t mess with a Girl that wears a Rabbit Fur« und »Left in what could have been nice at first but was just another Illusion«. Sie enthüllt mit starken Symbolen und Bildern Song für Song ihre (selbst-)kritische Haltung zu populärer Musik. Zu ihren französischen, englischen und deutschen Texten inspirierten sie zum einen Interviews mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder, wesentlicher aber noch die Schrift »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens«. Letztere veröffentlichte Tiqqun, ein französisches Kollektiv aus Autorinnen und Autoren, die in der gleichnamigen philosophischen Zeitung über Antikapitalismus, Situationismus und Feminismus schreiben – Themen, die auch Royer faszinieren. So spielt »Young-Girl forever« mit Rollenvorstellungen, Konsum und Kunst, klingt vielseitig und bleibt trotz der großen Themen herrlich tanzbar. Claudia Helmert

Roger Robinson

Roger Robinson

Heavy Vibes

Heavy Vibes

Vollendung einer Werk-Trinität. Das bestens bezeichnete »Heavy Vibes« ist das dritte Jahtari-Album des T.-S.-Eliot-Preisträgers Roger Robinson, dessen Selbstbezeichnung »British resident with a Trini sensibility« lautet. Der im UK geborene Sohn von Immigranten aus Trinidad wuchs dann wiederum dort auf und lebt heute teils auch da. Der Bogen wird also von der Karibik über London geschlagen, konkret das subkulturell mythisch aufgeladene Brixton, nach: Connewitz. Denn dort residiert Disrupt, in dessen Homestudio die minimalistisch rollenden Riddims mit Dunkelstimmen-Poesie bestückt wurden. Diese changieren zwischen post-karibischem Sozialkommentar in der Tradition der kämpferischen Dub-Poetry eines Linton Kwesi Johnson und abstrakteren Gefühlsbildern, wie sie Robinson auch in Kooperation mit Kevin »The Bug« Martin bei King Midas Sound performt. Die mit Dub-Effekten verzierten Schwerlast-Vibe-Transporter stammen auf diesem Album allerdings nicht allein aus reiner Disrupt-Produktion, sondern von der weltweiten Jahtari-Family, von Tapes, Naram, Jura Soundsystem, Maffi und Bo Marley. Dadurch bleibt das Geschehen stets abwechslungsreich. Das Cover jedoch kommt direkt aus der Familie, nämlich von Kiki Hitomi im Nachbarzimmer, die wiederum in der Frühphase bei King Midas Sound mitwirkte. Kleine große Welt und gute schwere Vibes! Alexander Pehlemann

Fritzi Ernst

Fritzi Ernst

Jo-Jo

Jo-Jo

Songs über Körperflüssigkeiten, Depressionen und Heartbreak, dazu Humor zwischen Pausenhof und Eck-Kneipe: Mit dieser Mischung erscheinen Schnipo Schranke 2014 auf der Bildfläche. Damit können sich damals – von Feuilleton bis WG-Party – erstaunlich viele Menschen anfreunden (bis auf die Welt natürlich, die hier gleich den popmusikalischen »Ekel-Feminismus« aufziehen sieht). Das alles währt allerdings nur kurz: 2019 ist Schluss und beide Hälften des Duos machen seitdem mit eigenen Projekten weiter. Daniela Reis mit Partner Ente als das Synthpop-Duo Ducks on Drugs und Fritzi Ernst halt einfach als Fritzi Ernst. Die schließt 2021 mit ihrem Solo-Debüt »Keine Termine« dann auch an den bekannten Schnipo-Style an, macht allerdings ihre eigene Version daraus. Körperflüssigkeiten spielen keine so große Rolle mehr, Depressionen und Versagensängste sind aber weiterhin zentrale Themen. Vor allem wird Ernst zur Advokatin des Unperfekten und der Erschöpfung, zelebriert die Lust am Keine-Lust-Haben. Das alles wird nun auch auf »Jo-Jo« weitergeführt. Allerdings ist das zweite Album deutlich optimistischer und wird vom Label als »more lighthearted« angekündigt. Auch das Themenspektrum ist um einige neue Aspekte erweitert: Etwa wird die Trennung von Schnipo Schranke reflektiert und mit »Märchen« gibt es sogar so etwas wie einen handfesten Love-Song. Ansonsten findet man aber auch hier wieder radikal simples Songwriting und Fritzis naiv-unprätentiöse bis stellenweise infantilen Lyrics (etwa, wenn sie von ihren »Freundis« singt, die ihr helfen, oder Textzeilen wie »Upsi Upsi Ups« zum Besten gibt). In den besten Momenten entwickelt das einen ganz eigenen, interessanten Charme, gerät dann aber doch häufig in arg seichtes Fahrwasser und bleibt leider hinter dem äußerst vielversprechenden Vorgänger zurück. Yannic Köhler

Michael Kiwanuka

Michael Kiwanuka

Small Changes

Small Changes

Es sind die kleinen Veränderungen, die Michael Kiwanukas viertes Album so wertvoll machen. Klar, das ist immer noch unverkennbar Kiwanuka, aber der Sound ist reduzierter, zurückhaltender, nicht so groß inszeniert. Seine Stimme wird nicht überlagert, sein Charakter nicht überwältigt vom eigenen Sound. Fünf Jahre Zeit hat sich der Londoner für den Nachfolger vom mit dem Mercury-Prize gekrönten »Kiwanuka« gelassen. Er musste seine eigene Stimme wiederfinden, sagt der 37-Jährige, die Motivation und Inspiration, Musik zu machen. Das Ergebnis wirkt fast beiläufig, dabei aber brillant. Die Melodien saugen sich fest in der Erinnerung, die Stimme ist makellos, die Musik sehr groovebetont. Für den richtigen Klang haben wieder Danger Mouse und Inflo als Produzenten gesorgt, mit denen Kiwanuka seit seinem zweiten Album »Love & Hate« von 2016 zusammenarbeitet. Wobei diesmal die Waage eher in Richtung Inflo tendiert, bei dessen Projekt Sault Kiwanuka mitwirkt. Weniger pompöse Streicher-Arrangements, dafür mehr intime akustische Instrumentierung tun diesem Album und diesem Künstler gut. Vor allem, wenn Legenden wie Bassist Pino Palladino beteiligt sind, der schon mit vielen Größen, darunter Beyoncé und Adele, Elton John und Eric Clapton, zusammenarbeitete. Palladinos Basslauf bestimmt nicht zuletzt »Rest of me«, den besten Song des Albums, der an Seal erinnert, in seiner besten Phase wohlgemerkt. Kein Wunder, teilen er und Kiwanuka doch die Liebe für den Northern Soul der Sechziger. Lars Tunçay