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Rezensionen

Various Artists

Various Artists

Jahtarian Dubbers Vol. 5

Jahtarian Dubbers Vol. 5

Mehr als eine Dekade brauchte es, bis sich die »Dubbers« von Jahtari, des in Connewitz residierenden, ansonsten aber weltweit agierenden wie wahrgenommenen Labels, zur fünften Runde versammelten. Wobei die zweiten zehn Jahre der Label-Existenz – deren XXer-B-Day-Party noch aussteht – nicht zuletzt eine Phase vermehrter Dub-Diversitäts-Suche waren. Nach Sound-Entgrenzung jenseits der zur Erfolgsformel gewordenen Trademark-Mixtur, die 8Bit-Trashigkeit mit Bass-Schwere verbinden konnte, verwiesen sei auf Waq Waq Kingdom, The Other Others, Cosmic Threat oder das letzte Tapes-Album. Nachdem also Erwartungen unterlaufen oder neue geschaffen wurden, scheint es nun mit Volume 5 umso leichter, an die Ursprünge anzuschließen. Nämlich, ohne sich einzwängen zu lassen. Wobei der beschwingte Electric-Reggae-Bogen von Teneriffa, Japan (im Nebenzimmer) oder Neuseeland über Frankreich, die Niederlande oder UK bis zurück nach Connewitz schlägt. In einer Selection mit Rewind-Effekt. Alexander Pehlemann

Various Artists

Various Artists

Free/Future/Music Volume 1

Free/Future/Music Volume 1

Zukunftsmusik? Hani Mojtahedy erinnert mit ihrem Track »Passaporte« an ihre Kindheitsträume von einem Pass, der damals einem Zukunftsversprechen auf Freiheit glich. Die im Iran geborene, kurdische Sängerin träumt dabei in traditionellen Melodien, die sich um hypnotische Rhythmen winden. Konturiert von Andi Tomas (Mouse on Mars) elektronischen Akzenten, erhebt sich aus der Musik Mojtahedys starkes Timbre, ihr energetisierender Gesang. Mit dem Track »General Assembly« zeigt sich eine ganz andere Kollaboration: The Space Lady – die in den Achtzigern ihren Namen erst wegen ihres Sounds und Looks vom Publikum zugeschrieben bekam – durchbricht mit ihren Worten und ihrem rauschvollen Klang einen gleichförmigen Dub. Jene Repetitive des Hamburger Trios Cloud Management sollen dabei gar nicht den Eindruck von Einfallslosigkeit aufkommen lassen, sondern schaffen vielmehr eine klare Fläche, auf der die Worte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte leuchten, die die US-amerikanische Künstlerin rezitiert. Und das sind nur zwei Beispiele für die Vielfalt, die das Leipziger Label Altin Village & Mine auf »Free/Future/Music« versammelt. Verbundene und befreundete Künstlerinnen und Künstler finden für den Sampler teilweise erstmals zueinander und zeigen, wie ihre Synergien nicht nur besondere Klänge schaffen, sondern auch ein Zeichen für Zusammenhalt und Solidarität in und durch die Musik sind. Die rhizomartigen Verbindungen, also Verflechtungen, reichen über Genres, Länder, Generationen und Künste hinaus – und sind erst der Anfang, auf den, laut Label, weitere Essays und künstlerische Interventionen folgen werden. Und das ist gut, denn diese Musik macht Lust auf mehr. Claudia Helmert

Haim

Haim

I quit

I quit

»Das war’s. Ich bin dann mal weg.« – Die drei Schwestern von Haim sagen auf ihrem vierten Album: »I quit«. Es gehört schoneiniges dazu, um sich so zu verabschieden: Mut zum Beispiel. Oder Wut. Und Abenteuerlust und Selbstbewusstsein. Genau darum geht es auch auf »I quit«. Es ist kein Abschiedsalbum und auch kein Tritt in den Hintern der Musikindustrie. Es ist eine Ode ans Sich-Durchbeißen und an den Mittelfinger. Und gegen wen hebt man diesen? Gegen alles, was einem nicht passt und was nervt, das Patriarchat beispielsweise. Oder gegen die eigene Unsicherheit und gegen das, was andere über einen denken. So feiert die Single »Relationships« die Freiheit, die eine Trennung auch bedeuten kann. Danielle am Schlagzeug setzt den treibenden Beat und steht damit für die Energie, die die neue Beziehungslosigkeit freisetzt. Noch mehr Kraft steckt aber in »Down to be wrong«. Auch dieser Song feiert die Unabhängigkeit. Er ist der Soundtrack zum Alles-hinter-sich-lassen-und-Abhauen. Dabei schwingt in Zeilen wie »I’m on the next Flight and you can’t talk me out of it« kein bisschen Wehmut oder Zögern mit. Im Gegenteil: Danielle Haims Gesang ist nicht nur gradlinig-kraftvoll wie nur was – in der Melodie schwingt auch eine Leichtigkeit mit, als würde sie vom Flug in den Urlaub singen. Während »Relationships« eher electro-poppig und mit Dance-Appeal daherkommt, wirkt »Down to be wrong« durch den unmittelbaren Gesang fast schon roh und kraftvoll. An anderer Stelle verzichten Danielle und Rostam Batmanglij bei der Produktion auf Synthies und Spielereien und lassen einen eher folkigen Popsound stehen. Damit gelingt Haim ein wunderbar abwechslungsreiches Pop-Album. Die Schwestern zeigen auf »I quit«, auf wie viele Arten Pop Kraft und Energie freisetzen kann. Kerstin Petermann

Etienne de Crécy

Etienne de Crécy

Warm up

Warm up

Neue Musik gab es in den vergangenen zwei Dekaden ja durchaus von Etienne de Crécy. Neben der Reihe »Superdiscount« waren das vor allem Singles und EPs. Sein letztes »reguläres« Studioalbum war sein Debüt »Tempovision« im Jahr 2000. Mit »Warm up« kommt nun also ein neues Werk vom Mitbegründer des French Touch und gleichzeitig die Weiterentwicklung seines Sounds. Der erste von zahlreichen Gästen auf dem Album ist Alexis Taylor von Hot Chip. Der schwedische Singer-Songwriter Peter von Poehl ist auf dem poppigen »Brass Band« zu hören. Der britische Hip-Hop-Künstler Master Peace rappt mit Frank Leone. Olivia Merilahti von The Dø ist mit dabei, Kero Kero Bonito, eine britische Indie-Band, und Damon Albarn auf dem wundervollen Closer »Rising Soul«. Etienne de Crécy legte die Tracks als Instrumentals an und schickte sie an die Künstlerinnen und Künstler, die ihre Texte und Vocals beisteuerten. Sie haben aber hörbar auch eigene Soundideen mit hineingebracht und dem Ganzen so ihren eigenen Touch verliehen. »World away« könnte auch ein Hot-Chip-Track sein. »Rising Soul« mischt die melancholische, verschrobene Note von Damon Albarn mit dem Elektrosound von Crécy. So ist die Handschrift der Gäste bei jedem der elf Stücke zu spüren. Das geht erstaunlich gut zusammen. Etienne de Crécy zielt hier nicht wie in der Vergangenheit auf den Dancefloor. »Warm up« ist entspannter, chilliger und von der Pandemie beeinflusst, als wir uns den House eher ins Haus holten. Lars Tunçay

Ezra Furman

Ezra Furman

Goodbye small Head

Goodbye small Head

Eine angenehme Begleiterscheinung des Daseins als Musikjournalist ist es, viele Konzerte besuchen zu können. Dies wiederum ist mit der weniger angenehmen Begleiterscheinung verbunden, dass das Gros der besuchten Konzerte im Angesicht der schieren Quantität in der Erinnerung schon nach kurzer Zeit zu einem unentwirrbaren, mittelmäßig guten großen Ganzen verkommt. Anders aber ist das bei Ezra-Furman-Konzerten. Woran das liegt, ist schwer zu sagen. Vielleicht daran, dass man als Zuschauer das Gefühl hat, in die inneren Abgründe der US-amerikanischen Musikerin zu blicken. Was man dabei zu sehen bekommt, ist eine in dieser Intensität selten erfahrene Mixtur aus roher Punk-Energie und tief empfundener Verletzlichkeit. Diese beiden Parameter sind auch auf den ersten neun Alben maßgeblich – ebenso wie auf dem nun just erschienenen »Goodbye small Head«, das mitunter so klingt, als hätten sich The Stooges, MGMT und Joni Mitchell zu einem gemeinsamen Jam getroffen. Schwer zu sagen, wie man das nennen soll. Furman schlägt »orchestrales Emo-Prog-Rock-Album mit Samples« vor, nicht unpassend, vielleicht aber ein bisschen sperrig. Ganz anders als Songs wie »Sudden Storm«, »Jump out« oder »Veil Song«, die sich spätestens nach dem zweiten Hören in die Hirnrinde fräsen. Bleibt nur zu hoffen, dass Furmans bisherigem Tourneeplan demnächst noch ein paar Deutschland-Termine folgen. Luca Glenzer

Drangsal

Drangsal

Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen

Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen

Die Asche lügt nicht. Sie erinnert nur an das, was war, was brannte und erlosch. Daraus formt Max Gruber alias Drangsal sein viertes Album und sein neues Projekt. Drangsal ist tot – es lebe Drangsal. Nach dem persönlichen und künstlerischen Kollaps in Folge des 2021er-Albums »Exit Strategy« hat Gruber sein bisheriges Soloschaffen abgewickelt und Drangsal als Kollektiv wiederbelebt. Mit Lukas Korn und Marvin Holley an Grubers Seite ist ein Album entstanden, das sich nicht auf alten Stärken ausruht: »Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen« trägt einen Titel, der so sperrig ist wie die Songs darauf. Statt des finsteren Synth-Pops der frühen Jahre dominieren nun warme analoge Klänge: Akustikgitarren, Streicher, Holzbläser und viel Raum. Titel wie »Ich hab von der Musik geträumt« oder »Inkomplett« spielen mit Reduktion und Intimität, lassen Dissonanzen und Fragmente zu. Die Arrangements wirken teils unaufgeräumt, was Max Riegers Produktion und dem Credo »so wenig wie möglich, so viel wie nötig« geschuldet ist. Das Album driftet aber nie ins Beliebige ab, dafür sind die beteiligten Musiker zu achtsam und Grubers Texte zu präzise in ihrem Blick auf Grenzen und Brüche. Inhaltlich folgt die LP den Rändern der Selbstauflösung: Identitätsverlust, Angststarre, Kontrollverzicht – aber da ist auch das vage Versprechen, dass Kunst tröstet. Laura Gerlach

Blond

Blond

Ich träum doch nur von Liebe

Ich träum doch nur von Liebe

Blond haben es drauf, den aktuellen feministischen Diskurs in humorvollen Party-Bangern zu verhandeln, wie sie schon auf ihren beiden Alben »Martini Sprite« und »Perlen« gezeigt haben. Auf »Ich träum doch nur von Liebe« perfektionieren die drei aus Chemnitz das Ganze noch einmal. So geht es in »Ich wär so gern gelenkiger« nicht nur darum, wie absurd lange es gedauert hat, bis die Wissenschaft die Klitoris entdeckte, sondern auch um den Wunsch, sie gerne selbst lecken zu können. Auch »So hot« erzählt nicht einfach nur von sexueller Lust, sondern von den Gefahren des Datings, in die sich junge Frauen begeben, wenn sie mit Männern mitgehen. In »Bare Minimum« singt Bassist und Keyboarder Johann Bonitz erstmals einen ganzen Song, der sich darüber lustig macht, dass bei Männern schon die kleinste Geste reicht, damit sie als geiler Ally abgefeiert werden. Kapitalismuskritik haut die Band als Ode ans Klauen an der SB-Kasse heraus, unterlegt mit Bumm-Bumm-Beats. Die bewegendsten Songs sind »Fliederbusch« über das eigene Versagen in einer guten Freundschaft und »16 Jahr, blondes Haar«, der endlich mal klarmacht, dass es nicht okay ist, als älterer Typ Teenagerinnen abzuschleppen. Bei Blond klingt das alles selbstverständlich, logisch und macht trotzdem jede Menge Spaß. Große Popsongs mit großen Rock-Gesten – nicht nur für Blondinators. Juliane Streich

C.A.R.

C.A.R.

Valonia

Valonia

Dichte Wälder, Felsformationen, ausgedehnte Küsten und endlose Steppen: Mit »Valonia« entwirft das Kölner Quartett C.A.R. einladende, ausgedehnte Klanglandschaften. In zehn Postkarten gleiten sie durch diese pittoreske Szenerie hinein in futuristische Soundscapes. Die Musik lebt dabei vom Kollektivgedanken. So stößt die in Berlin lebende Griechin Evi Filippou mit Marimba und Vibrafon zur Reisegesellschaft und die belarussische Künstlerin Oxana Omelchuk lässt ihr Theremin vibrieren und analoge Synthesizer über den Sound der Band schweben. Am Ende singt der aus Istanbul stammende Elif Dikeç sogar von Gärten und Geistern. Dazu gesellen sich Saxofon, Wurlitzer, Bass und ein treibendes Schlagzeug. Wie auf den früheren Alben der Band ist der Krautrock von Neu! und Can hier Ausgangspunkt, driftet auf dem siebten Album aber verstärkt in Richtung Jazz. Das erinnert mal an die Berliner Formation Contriva, mal an den Space-Pop der Franzosen Air oder an Jason Swinscoes Cinematic Orchestra, hier und da gar an Christian Bruhns legendären Soundtrack zur Serie »Captain Future«. Dazwischen schälen sich Popminiaturen aus den Synth-Arpeggios über treibende Beats, wie etwa im Highlight des Albums, dem infektiösen »Debo-See«. Jedes der vier Bandmitglieder steuert dazu Klangideen bei, die das Album in musikalische Nebenstraßen führen. Ein nie vorhersehbarer, versatiler Trip, von dem man im höchsten Maße bereichert heimkehrt. Lars Tunçay

Lael Neale

Lael Neale

Altogether Stranger

Altogether Stranger

»Altogether Stranger« ist das mittlerweile vierte Album der aus Virginia stammenden Künstlerin Lael Neale, die seit über einer Dekade in Los Angeles ihre Wahlheimat gefunden hat. Trotz einer Laufzeit von nur 32 Minuten bieten die neun Stücke eine erstaunliche musikalische Vielfalt, die von Garage-Rock bis hin zu reduzierten Omnichord-Meditationen reicht. Das geniale Instrument Omnichord kennen wir bereits von ihrem ersten Sub-Pop-Album »Acquainted with Night« von 2021, ein echtes Lo-Fi-Kleinod. »Altogether Stranger« kommt vergleichsweise üppig produziert daher und ist musikalisch wesentlich heterogener. Ihre derzeitige Lesart von Drone-Pop bewegt sich zielsicher zwischen Kraftwerk und The Velvet Underground. Die neue LP ist obendrein ein eindrucksvolles Zeugnis ihrer Verbindung zu L.A. – die Stadt fungiert nicht nur als Kulisse, sondern geradezu als lebendiger Charakter, der das gesamte Album durchdringt. Das allem zugrunde liegende Thema ist die Entfremdung des großstädtischen Menschen. Der außerirdische Charakter wird durch Neales glasklare Stimme und die atmosphärischen Klanglandschaften des Produzenten Guy Blakeslee verstärkt. Selten hat das Gefühl der urbanen Einsamkeit so viel Spaß gemacht. Kay Engelhardt

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen

Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen

Egg Benedict

Egg Benedict

Hamburg, Münster, Köln, Hannover, Dortmund, Göttingen, Stuttgart, Mainz, Karlsruhe, München, Nürnberg, Flensburg, Bremen und sogar noch mal Hamburg und Berlin. Geht’s noch? Kann mal bitte jemand die Gentlemen-Spieler aus Hamburg nach Leipzig booken? Denn natürlich ist deren neues Album doch vor allem Grund, diese Band mal wieder live zu erleben, die so dermaßen unprätentiös und so dermaßen vergnügt auf der Bühne steht, dass einem nicht mal im Traum ein Wort wie »unprätentiös« einfallen würde. Eher so was wie »erfrischend hemdsärmelig«. Unvergessen, wie Carsten Friedrich, der große ehrliche Mann vor Jahren in der Ilse verkündete, die Band sei im ICE angereist und habe Nicnacs an Bord gekauft »wie Stars«. Ohne die Liga der gewöhnlichen Gentlemen gäbe es auch keinen kreuzer-Sportsong des Monats. Sie sehen schon: im Grunde genommen fünf von fünf Schiffchen der Herzen. Und natürlich hat auch die neue Platte Titel, wie sie nur diese Band schreiben kann: »Ist Gunther da?« und »Paare vorm Kino« zum Beispiel, viel mehr aber noch »Hedy Lamarrs siebter Mann«, der sich um jene Schauspielerin dreht, die – 1914 in Wien geboren – im Zweiten Weltkrieg für die Alliierten eine Funkfernsteuerung für Torpedos erfand und sechsmal verheiratet war. Dass so jemand Stoff für einen Popsong ist, weiß man nur in dieser Liga – Grüße an Werner Enke. Aber trotzdem: Früher war mehr Lametta. Benjamin Heine

Billy Nomates

Billy Nomates

Metalhorse

Metalhorse

Schon mal im Spiegelkabinett verloren gegangen? Dutzende Spiegel, die alle ein anderes Bild von dir zeigen? Und: »If they can see us, that’s the Test.« So singt Tor Maries aka Billy Nomates in »The Test«, der ersten Single ihres dritten Albums »Metalhorse«. Denn vor irgendeinen Test stellt uns das Leben doch jeden Tag: Komm ich finanziell klar? Erfülle ich die Anforderungen des Alltags? Verstehe ich mich mit den Leuten? Und darin liegt vielleicht der schwerste Test: Wenn ich mich anderen so zeige, wie ich wirklich bin und sie mich so sehen, wie ich wirklich bin – akzeptieren sie mich? Mögen sie mich? Jetzt singt Billy Nomates aber nicht nur von Beziehungen und persönlichen Dilemmas. In den elf Songs thematisiert sie das globale Chaos in der Welt, Krisen und Unsicherheit im Allgemeinen. Wie ein Wirbelsturm toben die Nachrichten um sie herum, ziehen sie hinein und werden zum Teil ihres Lebens. Und wenn sie versucht, herauszukommen, stößt sie nur auf verzerrte Fratzen ihrer selbst. Wie im Spiegelkabinett. »Metalhorse« ist ihr neuer Versuch, dem zu entkommen: Billy Nomates tanzt mit dem Sturm. Mit kräftigen Melodien und explodierenden Klavierarrangements wirft sie sich in den Sturm. Sie kämpft nicht mehr gegen ihn, sondern mit ihm. Was auf ihren ersten beiden Alben »Billy Nomates« und »Cacti« noch rau und nach Punk klingt, ist jetzt getragen von Soul und Blues. Ihre Kraft steckt sie nun in Harmonien und Melodien. Das Album ist nicht mehr geprägt von collagenhaft arrangierten Drums und Sprechgesang, es wird gehalten von Bass und Schlagzeug der Band, mit der Nomates erstmals aufgenommen hat. So zeigt sich die Musikerin aus Bristol nicht nur als die hochemotionale und engagierte Künstlerin, als die sie sich schon auf den ersten beiden Alben offenbarte, sondern auch als technisch und musikalisch versierte Sängerin. Kerstin Petermann

Anika

Anika

Abyss

Abyss

Knapp 50 Jahre ist es mittlerweile her, dass David Bowie sich in den Berliner Hansa Studios niederließ und dort mit seinen beiden Alben »Heroes« und »Low« eine abermalige musikalische Neuausrichtung vollzog. In ebenjene »heiligen Hallen« hat sich vor Kurzem auch Annika Henderson aka Anika eingefunden, und auch sie unterstreicht mit dem nun veröffentlichten Album »Abyss« ihren Ruf als Pop-Chamäleon. Waren ihre beiden vorangegangenen Alben von elektronisch-folkloristischem Dark-Noir-Pop (»Anika«) und Trip-Hop-lastigen, flächigen Klanglandschaften (»Changes«) geprägt, setzt sie diesmal auf ein Konzept, das selbst Bowie 1976 als ganz schön retro empfunden hätte: Denn Synthesizer sucht man dieses Mal vergeblich, stattdessen dominieren verzerrte Gitarren, straighte Drums und abgründig wummernde Bässe das Geschehen. Einzig Anikas charakteristische, zumeist mehr sprechende als singende Alt-Stimme erinnert vage an ihren Backkatalog. So frönt sie in Songs wie »Hearsay«, »Walk away« oder »Oxygen« einem Sound, der mal an Sonic Youth und mal an The Breeders erinnert. Das ist einerseits natürlich alles andere als neu, andererseits aber trotzdem verdammt aufregend. Luca Glenzer

Das Kinn

Das Kinn

Ruinenkampf

Ruinenkampf

»Toben Piel geht gern auf Friedhöfe. Orte der Ruhe und Idylle.« – Mit diesen Worten beginnt der Pressetext zu Piels aka Das Kinn erstem Studio-Album »Ruinenkampf«. Allerdings: Nach Ruhe und Idylle klingt hier erst mal gar nichts. Wer sich vorher schon mit dem Schaffen des Ein-Mann-Elektro-Punk-Projekts beschäftigt hat, wird kaum überrascht sein. Schon auf den früheren EPs hat Piel den düsteren Post-Punk und maschinellen Synthie-Sound der Achtziger übernommen und daraus seine eigenen übersteuerten, verschobenen und äußerst faszinierenden Soundlandschaften gebaut. Daran anschließend klingt nun auch »Ruinenkampf«, als hätten sich DAF mit Steroiden vollgepumpt und ihre Musik an der Hantelbank komponiert. Oder als hätten Kraftwerk ihr Debüt-Album im Schützengraben unter feindlichem Beschuss aufgenommen. Das Ganze hat etwas sehr Brachiales und Martialisches, nicht zuletzt wegen Piels bissigem und parolenhaftem Sprechgesang. Mit Textfetzen, die bestens in expressionistischen Gedichtbänden stehen könnten, aber genauso gut in unsere aktuellen zwanziger Jahre passen: »Bizeps Trizeps, alle rüsten auf« oder »Volk, Scheiße, Erlösung«. Das könnte nun Gefahr laufen, voreilig als stumpfe Aggro-Elektronik oder plumper Testosteron-Post-Punk abgetan zu werden – was dem Album allerdings Unrecht tun würde. Denn trotz allem sind die Stücke sehr durchdacht arrangierte, zuweilen filigran gearbeitete Klangkunstwerke, mit verspielten Synthies, komplexen Drum-Machine-Beats und – wie im als Verschnaufpause äußerst wichtigen Stück »Souterrain« – sogar mit romantischen Saxofon-Melodien. Und die verbreiten dann zumindest kurz doch noch so was wie Ruhe und Idyll. Yannic Köhler

Viagra Boys

Viagra Boys

Viagr aboys

Viagr aboys

Spätestens jetzt, mit dem Release des Albums »Viagr aboys«, wird klar, dass die Viagra Boys nicht in irgendeinem unterirdischen Musik-Laboratorium in Stockholm sitzen und akribisch ihre künftigen Konzeptalben gestalten. Nach der Veröffentlichung von »Cave World« im Jahr 2022 murmelten nämlich diverse arbeitslose Repräsentantinnen und Repräsentanten des Musiknerdtums, dass dies den Ton für ihre kommenden Alben setzen würde. ABER NEIN, NICHTS DAVON – ganz im Gegenteil. Auf dem vierten Album der Boys geht es nicht mehr um die Weltansicht von Querdenkern wie zuletzt, sondern um den Dosenbier-Humor von Sebastian Murphy: voller Frühstückszigaretten, Hunde-Anthropomorphismen, Leichenromantik und der Sorge um die Erhaltung der Gesundheit bei so viel Party. Etwas nach innen gerichtet? Total! Und zwar sowohl psychisch als auch physisch. Keine Metapher der Welt wird das je besser einfangen als die Tatsache, dass der Leadsänger gleich im Gesangsstrom des Openers »Man made of Meat« aufstößt – und dann einfach souverän weitermacht. Eine Tat, die laut Youtube-Fans Geschichte schreibt und offensichtlich nach Punk schreit. Punk als Attitüde wohnt dem Ganzen sowieso inne und macht es, kombiniert mit new-waveesken Harmonien, Dub-Grooves, Upbeats, einer ordentlichen Portion Rock’n’Roll, Electronica, Indie und Blues zu einem vielfältigen Album. Das Ding bangt so hart und auf so vielen Ebenen, dass man beim Hören auf alles kommt: Tanzen, Weinen und sogar Schreien (aber nur, wenn man’s echt ernst meint). Libia Caballero Bastidas

Mitra Kotte

Mitra Kotte

Herstory (A Century of inspiring female Composers)

Herstory (A Century of inspiring female Composers)

Durchlässigkeit, Klarheit und Virtuosität kennzeichnen das Spiel der österreichischen Pianistin Mitra Kotte, die insbesondere für die Interpretation klassischer Werke bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Auf »Herstory« präsentiert sie nun Werke von Komponistinnen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In diesem Querschnitt durch eine weibliche Musikgeschichte entwickeln die vorgestellten Werke verschiedener Komponistinnen-Generationen, ausgehend vom virtuosen Salonstück bis hin zu spätromantischer und moderner Tonsprache, immer mehr Individualität und gewinnen zunehmend an Interessantheit. Während die Stücke von Louise Farrenc (1804–75) und Emilie Mayer (1812–83) noch recht unterkühlt und korrekt, ganz im klassischen Duktus eingespielt sind, atmen bereits die ersten Töne von Marie Jaëlls (1846–1925) Impromptu und später auch Cecile Chaminades (1857–1944) Sonate mehr Freiheit. Hier erhält man eine Ahnung von Mitra Kottes Gestaltungsvermögen, auch wenn alles immer noch recht gezügelt und in geordneten Bahnen läuft, was manchmal mehr Überschwang oder Beweglichkeit im Tempo vertragen könnte. Die auf Übertransparenz ausgerichtete Aufnahmetechnik kommt einem spätromantischen Klangbild nicht entgegen, das mehr Klangmischung und Flächigkeit vertragen würde. Sofort in den Bann zieht Kotte mit dem eindrucksvoll dunkel schreitenden Beginn von Nadia Boulangers (1887–1979) »Vers la Vie nouvelle« aus dem Jahr 1918. Zu den ausgesprochen interessanten Kompositionen gehören insbesondere Vítězslava Kaprálovás (1915–40) »April Preludes op.13« und die maschinenhafte Toccata von Maria Hofer (1894–1977) aus dem Jahr 1947. Anja Kleinmichel

Horsegirl

Horsegirl

Phonetics on and on

Phonetics on and on

Vergleichsweise kurz währte die allgemeine Begeisterung um Noise-Pop-Bands wie The Breeders, Pixies oder Pavement, die aus den späten Achtzigern in die frühen neunziger Jahre hinüberschwappte. Dass diese Phase der Musikgeschichte dennoch ihre Spuren hinterlassen hat, ist insbesondere in den vergangenen Jahren wieder deutlich spürbar gewesen: Neben Bands wie Soccer Mommy, Snail Mail oder Slow Pulp ist das US-amerikanische Trio Horsegirl ein gutes Beispiel dafür. Dass die drei nach ihrer Gründung 2019 zunächst Songs ihrer Lieblingsband Sonic Youth coverten, hört man insbesondere ihrem 2022 erschienen Debüt »Versions of Modern Performance« an. Nun, knapp drei Jahre und einen Umzug von Chicago nach New York City später, folgt mit »Phonetics on and on« das Zweitwerk des Trios. Doch anders als beim Vorgänger standen dieses Mal eher Bands wie Yo La Tengo oder Stereolab Pate. Das macht sich insbesondere an der stärkeren Präsenz cleaner Gitarren bemerkbar. Dadurch wird offenbar, was man auf dem Debüt bereits in Ansätzen erahnen konnte: Nämlich, dass die Songs von Horsegirl im Kern astreine, bewusst verhinderte Folknummern sind. Stücke wie »In Twos«, »Well I know you’re shy« oder »Switch over« hört man dabei nicht deshalb so gerne, weil man sie so oder so ähnlich vorher noch nie gehört hätte – das Gegenteil ist der Fall. Was der Band aber tatsächlich gelingt – und dahingehend war der mediale Hype um Horsegirl vor drei Jahren nicht unberechtigt –, sind Songs, die sich bereits nach einmaligem Hören tief in die Gehörgänge einnisten. Das allein ist eine Qualität, die nur selten erreicht wird. Einen Preis für das innovativste Album des Jahres wird die Band damit zwar nicht einfahren. Doch einen für das beste vielleicht schon. Luca Glenzer

Σtella

Σtella

Adagio

Adagio

Hinter Σtella verbirgt sich Stella Chronopoulou. Der Projektname wird ungeachtet des griechischen Sigmas genau wie der bürgerliche Vorname der Künstlerin ausgesprochen. Zu ihrer griechischen Heimat hat sie ein ambivalentes Verhältnis. Und weil es abgesehen von rar gesäten Ausnahmen nur sehr wenige muttersprachliche Export-Schlager aus dem Mittelmeer-Land gibt, war Chronopoulou früh klar, in englischer Sprache zu texten, um auch international gehört zu werden. Auf ihrem insgesamt fünften Album – dem zweiten auf dem namhaften Sub-Pop-Label – singt Σtella nun dennoch erstmals zwei Lieder in ihrer Muttersprache. Ähnlich wie das letztes Album »Up and away« klingt »Adagio« schwer nach Urlaub. Chronopoulou mixt versiert 80s-Synth-Pop mit Tropicália und Yé-Yé und teleportiert uns entspannt an den Strand. Obendrein findet sich mit »Can I say« auf »Adagio« eine als Liebeslied getarnte, äußerst charmante Ode an das gestohlene Fahrrad der Musikerin. Fans von Nouvelle Vague und The Saxophones sollten hier hellhörig werden. Kay Engelhardt

Captain Planet

Captain Planet

Reste

Reste

Mit dem Album »Come on, Cat« haben Captain Planet 2023 das erste Mal seit 2016 wieder von sich hören lassen. Am 25. April folgt nun via Zeitstrafe die EP »Reste«. Benannt wurde sie so, weil darauf Überbleibsel der Aufnahmesessions zum letzten Album Platz finden. Gitarrist Benni Sturm erklärt, das sei »ein bunter, kleiner Haufen von Sachen, die noch mal gesagt werden mussten. Dass das jetzt nicht alles total gut gelaunt ist, war ja abzusehen«. Am 7. März erschien mit »Staub« bereits die erste Auskopplung – und die vermittelt einen soliden Eindruck davon, was auf »Reste« zu erwarten ist: Emo-Punk voller Zeilen, die mitgeschrien werden wollen. Beispiel: »Ist es nicht komisch / Dass du jetzt brennst? / Ist es nicht komisch / Wer kann so schlafen?« Jan Arne von Twisterns Stimme scheint ständig kurz davor, sich zu überschlagen. Dazu eine kratzig-schrammelige Instrumentierung – melodisch, aber nicht beliebig. Damit erfinden sich Captain Planet nicht neu, aber warum sollten sie das nach über 20 Jahren Bandgeschichte mit unzähligen loyalen Fans auch müssen? Vinyl-Fans können sich auf eine bunte, einseitig bespielte 12“ aus recyceltem Material freuen – jede davon ein Unikat. Laura Gerlach

Görda

Görda

Schattengewächs

Schattengewächs

»Schattengewächs« heißt die zweite EP der beiden Leipziger Musikerinnen und langjährigen Freundinnen Annelie Weißel und Sophia Günst, die als Band Görda heißen. Die fünf Lieder handeln unter anderem von Depressionen, den Tücken zwischenmenschlicher Kommunikation und der Akzeptanz des Wandels im Leben: So verhandelt »Innen ist dicht« die Überforderung des Individuums mit der Gesellschaft und ihren Erwartungen. »Oh Boy« spielt hingegen als cleverer Perspektivwechsel mit den Phrasen und sexistischen Sprüchen, die sich Frauen im Nachtleben anhören müssen. Textlich assoziiert das Ohr direkt Judith Holofernes und Kleingeldprinzessin, die Reime wabern zuweilen wie im Rap und finden an teils unerwarteten Stellen zueinander – Sprachaffinität wird bei Görda großgeschrieben. Zwischen den Strophen ergießt sich die Musik, die zum Flanieren durch den sonnenbeschienenen Kiez ebenso einlädt wie zum entrückten Tanzen, zuweilen aus einem akustischen Füllhorn. Der Stimme gelingt es bei aller Akkuratesse und Ausdrucksstärke allerdings selten, ihren Coolnessfilter runterzuregeln und so fehlt leider hier und da die letzte emotionale Verbundenheit. Insgesamt sind die Musik und die Stimme meist leichter und beschwingter als die besungenen Themen, von denen überraschend viele in fünf Songs passen, ohne dabei zu erschlagen oder beliebig zu werden. Guter Beginn für die nächste Frühlingsplaylist. Martin Burkert

Squid

Squid

Cowards

Cowards

Der Stachel eines Skorpions in den Fingern einer Frau ziert das Cover von »Cowards« – und diese Platte sticht. Auf seinem dritten Album öffnet das wütende Quintett aus Brighton seinen Sound. Das vielzitierte Label Post-Punk greift hier zu kurz. Squid sind mit ihrem Ansatz näher an Black Country, New Road als an Fontaines D.C. Auch, weil Squid als Kollektiv arbeiten. Cello, Kornett, Trompete und Cembalo stehen im freien Zusammenspiel mit dissonanten Gitarrenlinien. Das grenzt mitunter an Progressive Rock, auch Jazz-Einflüsse kommen auf »Cowards« zur Geltung. Dazu croont Sänger und Schlagzeuger Ollie Judge alkoholgeschwängerte Texte über Mord und Apathie. »Ein großer Teil des Albums handelt von der Idee, schlafwandlerisch in einer Welt der Selbstgefälligkeit zu leben«, sagt Judge. »Cowards« ist abgründig und fordert die Zuhörenden. Die Auseinandersetzung mit den neun Mörderballaden ist aber mehr als bereichernd. Den bereits vor dem Release des 2023er Albums »O Monolith« entstandenen Songs verlieh die Band bei der anschließenden Promotour den letzten Schliff. Tortoise-Mastermind John McEntire mischte die Aufnahmen schließlich in Seattle ab. Herausgekommen ist ein höchst spannendes, wegweisendes Album für die exzellente Liveband, das sie im April endlich auf die Bühne bringt. Lars Tunçay