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Rezensionen

Joyce Carol Oates

Joyce Carol Oates

Babysitter. Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz. Hamburg: Ecco 2024. 623 S., 24 €

Joyce Carol Oates.

Norden der USA, weiße Oberschicht, Ende der Siebziger. Rollengemäße Ehe. Unschuldige Kinder. Philippina-Haushälterin. Ahnungslose Ehefrau, geschäftsuntüchtig, Opfer einer Vergewaltigung. Lügen zur Wahrung der Fassade. Erpressung. Suburbia kontaminiert von Sexualverbrechen. Mommys heile Welt zerfällt. Das unwahrscheinliche Happy End trotzdem zu erahnen. Nichts berührt das weiße Upperclass-Amerika. Weil Hannah, die weiße Ehefrau, die Affäre mit ihrem Vergewaltiger verheimlicht, wird ein unbescholtener Schwarzer von der Polizei als vermeintlicher Täter in Downtown Detroit erschossen. Das Stereotyp des afroamerikanischen Vergewaltigers weißer Frauen – bewaffnet, drogenabhängig – tut sein Übriges. Auch der Ehemann denkt so. Dem schwarzen Polizeiopfer gesteht Oates kaum mehr Sätze zu, als in dieser Rezension zu finden sind – eine Gestaltungsform, die in ihrer Realitätsnähe schwer zu ertragen ist. Derweil liefern die Kindsmorde eines rätselhaften Serienkillers, der »Babysitter« genannt wird, eine grausige Kulisse für das Mommy-Drama. Der Roman der aus einer Arbeiterfamilie stammenden Joyce Carol Oates entlarvt die Tragik einer Valium-Mommy aus den Suburbs ebenso wie die etablierten Frauenrollen und die Geschäfte der Oberklasse. Ohne Zweifel: ein Roman mit Präzision, Spannung und Sog. Dabei ist die US-Oberschicht eigentlich der geringste Teil der Welt und bietet wenig Projektionsfläche. Ob Oates eine andere Geschichte hätte erzählen können? Wenn ja, dann wahrscheinlich ebenso gekonnt. Fabian Schwitter

Lisa Weeda

Lisa Weeda

Tanz, tanz, Revolution. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Berlin: Kanon 2024. 176 S., 22 €

Lisa Weeda.

»Ihr braucht nicht zum Kämpfen kommen, (...) Spenden sind nicht nötig, und wir wollen auch keine Waffen. Ihr müsst nur für uns tanzen. Unseren traditionellen Tanz, den Svaboda Samoverzjenja«, sagt Anna in einem der Videos, die sie aus ihrem Dorf mitten im Krieg an ihre digitale Fangemeinde schickt. Die Videos sind ein Hype. Viele tanzten auch tatsächlich diesen rituellen Tanz, der die zu früh Verstorbenen aus dem Dazwischen zurück ins Leben holen kann, den Tanz gegen das Böse. Auch in ihrem zweiten Roman, dessen Titel das Computerspiel »Dance, dance, Revolution« zitiert, vermischt Lisa Weeda Fantastisches mit Realem, wühlt im Mythologischen und erzählt mit Wucht von Grauen und Gleichgültigkeit. Der Krieg in Besulia, einem kleinen, wenig bekannten Land, ist seit zweieinhalb Jahren vorbei, doch immer noch tauchen plötzlich Leichen der Kriegsopfer mitten in der heilen Welt auf, in Badezimmern, Betten, Büros der Start-ups, in Ateliers. Manche Menschen schaffen es, sie durch das Tanzen zum Leben zu erwecken. Doch die meisten werden vom Body-drop-off-Service abgeholt. Hier arbeitet auch Toni, deren Geschichte den Roman rahmt. Sie selbst kam vor vielen Jahren ebenfalls aus einem Kriegsgebiet, aus Upasi, einem Nachbarland von Besulia, und als Immer-noch-Fremde hat sie eben diesen wenig lukrativen Job. In den drei Kapiteln dazwischen reisen wir mit unterschiedlichen Protagonistinnen in der Zeit zurück, bis zum Ausbruch des Krieges. Die Orte sind fiktiv, die Parallelen eindeutig. Der Tanz ist die Bewegung, zu der alle in der Lage sind, die universelle Sprache der Körper. Tanzen heißt hinschauen und aufbegehren, solange wir tanzen, gibt es noch Hoffnung. Weeda ist auch diesmal ein Roman gelungen, der packt, aufrüttelt und lange nicht loslässt. Martina Lisa

Fine Gråbøl

Fine Gråbøl

Welches Königreich. Aus dem Dänischen von Hanna Granz. Hamburg: Ecco 2024. 173 S., 24 €

Fine Gråbøl.

Fine Gråbøl hinterfragt in ihrem Debütroman »Welches Königreich« ein staatliches Gesundheitssystem, das sich eine Schutzmauer aus Regeln, standardisierten Abläufen und Diagnosen errichtet hat. Es sind vor allem die Leerstellen in diesem Buch, die beim Lesen eine dumpfe Vorstellung davon vermitteln, wie es sich anfühlt, von einer psychischen Krankheit und einem dafür vorgesehenen Versorgungsapparat abhängig zu sein. Der Roman erschien 2021 auf Dänisch und liegt jetzt in deutscher Übersetzung von Hanna Granz vor. Im fünften Stock eines ehemaligen Pflegewohnheims leben fünf junge Erwachsene in einer betreuten Wohngemeinschaft wie in einem »Zuhause auf Probe«. Gemeinsam üben sie, Suppe zu kochen und sich auf einen eigenverantwortlichen Alltag vorzubereiten, der immer wieder in weite Ferne rückt, wenn es zu erneuten Krankenhauseinweisungen, Psychosen oder Gewaltausbrüchen kommt. Die intensive Wahrnehmung der Ich-Erzählerin von scheinbar belanglosen Gegenständen und zwischenmenschlichen Begegnungen verleiht dem Ort und den Menschen ihre Konturen: ein Stuhl, ein Bett, ein Spiegel, ein WG-Betreuer am Raucherbalkon, das Whiteboard in der Gemeinschaftsküche, die Wände eines Zimmers als schweigendes Publikum. Das Leben »auf der Fünf« wird von den psychischen Krankheiten und dem staatlichen System geprägt, das die Strauchelnden eigentlich auffangen soll. »Wieso fragt niemand nach dem Zusammenhang zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit?«, stellt die Autorin in den Raum. Die Lücken in Gråbøls Erzählung entwickeln sich durch ihre bewusste Positionierung zu tragenden Elementen. Auf starke sprachliche Bilder in kurzen, episodenartigen Kapiteln folgen Pausen, die es den Lesenden erlauben, das Leben »auf der Fünf« nachzuempfinden, anstatt lediglich wie Voyeure am Rand zu stehen. Hanna Schneck

Tauno Vahter

Tauno Vahter

Die 11 Fluchten des Madis Jefferson. Salzburg/Wien: Residenz 2024. 256 S., 25 €

Tauno Vahter.

machtAuch in Estland werden Schelmenromane geschrie-ben. Doch nicht jeder ist ein Cervantes. Diese dünne Weisheit belegt Tauno Vahter in seinem brä-sigen Roman, der laut Klappentext in Estland einen renommierten Preis bekam. Wir folgen der traurigen Lebensgeschichte des estnischen Matrosen Madis Jefferson, der im zarten Alter von acht Jahren erstmals aus seiner Heimat abhaut: weil ihn keiner lieb hat, der Landstrich öde ist und die Menschen gemein sind. Schnell wird er am Hafen geschnappt und wieder nach Hause geschickt. Dort erwartet ihn die sorgengeplagte Mutter. Nun heißt es für Madis, auf die nächste Gelegenheit zur Flucht zu warten. Zwölf Jahre nach der ersten Flucht schafft er es endlich per Schiff nach Afrika und über die Fremdenlegion bis in die USA. Anstatt dort ein halbwegs freies Leben mit seiner Geliebten zu führen, kehrt er aus jugendlichem Leichtsinn und erfüllt von der Botschaft des Kommunismus nach Estland zurück, wo er Partei-funktionär wird. Als die Deutschen die Sowjetunion überfallen, flieht er mit den sowjetischen Besatzern nach Osten. Plötzlich beginnt ihn unterwegs das Gewissen zu plagen, er bricht mit den Kommunisten, erfindet eine amerikanische Identität und versucht die nächsten 45 Jahre, in die USA zu flüchten. Gulag, Psychiatrie, Sibirien, Lubjanka, Arbeitsplatzbindung, dem armen Madis und uns geduldigen Lesern bleibt in der Folge kein Klischee und kein Fettnäpfchen erspart. Verpackt in eine öde Sprache, ist dieser gedrechselte Roman weder schelmisch noch hinreißend. Frank Willmann

Judith Koelemeijer

Judith Koelemeijer

Mit dem ganzen Herzen. Das furchtlose Leben der Etty Hillesum. 1914–1943. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. München: C. H. Beck 2024. 607 S., 34 €

Judith Koelemeijer.

Nach der Publikation von Etty Hillesums Tagebüchern (s. logbuch 03/24) ist auch ihre Biografie erschienen: Hillesum war Zeitzeugin der Nazi-Diktatur in den Niederlanden. Das Buch ist nicht chronologisch, sondern thematisch strukturiert, mit Informationen zu ihren Freunden, Juden und Nicht-Juden, und prägenden Einflüssen. Wenn die Fakten fehlen, schildert die Autorin ihre Recherchen, Vermutungen und Schlussfolgerungen, und so ist die Biografie auch ein Forschungs- und Geschichtsbuch. Hillesums Familie waren keine orthodoxen Juden, aber sie wuchs als »jüdisches Mädchen« auf und fand durch ihre Erfahrungen zu ihrer jüdischen Identität. Sie beschreibt ihre Stimmungen, Ängste und Hoffnungen – »Das wird schon nicht so schlimm« – in ihrem engsten Freundeskreis. Eine innere Ruhe gibt ihr die Verpflichtung, ihren Landsleuten beizustehen auf ihrem Weg in die Lager und letzten Endes in die Gaskammern. Auch sie selbst muss im September 1943 mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in einen Transport nach Auschwitz. Das Rote Kreuz nennt den 30. November 1943 als ihr Todesdatum. Ihre Freunde versuchten immer wieder, sie zum Untertauchen im Netzwerk des Widerstands zu bewegen – was sie stets ablehnte. Denn sie sah sich selbst als Teil der jüdischen Geschichte und leitete daraus ihre Pflicht zur »Basisarbeit« ab, als das »denkende Herz der Baracke«. Hillesums Traum war, dass die Menschen nach dem Horror des Nationalsozialismus »aus dem Schlamm kämen, als eine bessere, liebevollere Art Menschen«. Sie wollte eine »kleine Stimme« sein, die sich gegen Hass und Pauschalurteile auflehnt. Ihr letztes Lebenszeichen ist eine Karte, die sie aus dem Güterwagen des Transports nach Auschwitz warf und die gefunden und auf die Post gebracht wurde. Joachim Schwend

Thomas Kunst

Thomas Kunst

Thomas Kunst.

Weil er sie so liebt, oder weil unser Planet nur mit Katzenhilfe zu verstehen ist, lässt Thomas Kunst die Katze bereits im Titel aus dem Sack. Dahinter finden sich: Langgedichte, Sonette, Tanka und Kurzgedichte, und am Ende jedes Kapitels steht ein Brief an seine Katze. »WÜ ist mehr als nur eine Katze. WÜ ist Abholdienst von der Garage und abendliches Seelenheil. WÜ ist Bewegungsmelder und das erste Wesen, das mich morgens vor der Schlafzimmertür schon erwartet. WÜ ist eine Russisch-Blau. WÜ ist auch Wüste mit Wünschen.« Lyriker haben es heute nicht leicht, ihre Kunst an die Leserschaft zu bringen. Weil sie kaum noch jemand liest, sind Gedichtbände kleine geheime Feste der Sprache. Auch Thomas Kunst bietet ein Feuerwerk an Ideen, verwunschenen Sätzen und dick aufgetragenen Lebensweisheiten. Oft liefert er gleich einen handlichen Presslufthammer dazu, mit dem er in der nächsten Zeile wütend seine imaginären Lyrik-Bauten wieder einreißt. Leben heißt Fechten, Dichten heißt zuweilen, dem Elend der Welt die Harke zu zeigen, oder eben den Hammer. Mit codierten Aufträgen wie: »Meine Mama machte sich früher nichts aus ihren Haustürschlüsseln.« schickt Kunst uns nach Mecklenburg, um »einen Knoten in eine eng gewickelte Spirale aus Runddraht zu machen«. Wie schön, rufe ich aus und verkünde staunend Kunstens Kunst: »Die Elstern sind nur Elstern auf dem Feld. Ich habe mich an einem Reh verbrannt / Und sieze keinen Pinguin im Nebel.« Ansehnlicher geht’s nicht: Elstern, ein Reh und Pinguine im Nebel. Und das Ganze komplett ohne zu siezen! Wer sich auf WÜ einlässt, bekommt tausendfachen Lohn in guten Worten aus Thomas Kunsts bizarrer Sprachwelt ausgezahlt. Frank Willmann

Saša Stanišić

Saša Stanišić

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. München: Luchterhand 2024. 256 S., 24 €

Saša Stanišić.

Zwölf Kurzgeschichten sind es diesmal geworden und teilweise kann »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« als Fortsetzung von Stanišić’ erstem Erzählband »Fallensteller« von 2016 gelesen werden. Georg Horvath taucht zum Beispiel wieder auf, vor acht Jahren noch verstimmt auf Geschäftsreise unterwegs, jetzt verstimmt in seine Familienangelegenheiten verwickelt. Der Grund ist so banal wie nachvollziehbar: Er kann nie gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory gewinnen. Daraus ergibt sich eine Reflexion über seine Ehe, seinen Job und schließlich darüber, wie man im Leben glücklich wird. Wie immer gelingt Stanišić durch seine Alltagssprache, seinen Witz und seine Fähigkeit, die Gedanken seiner Figuren immer wieder springen zu lassen und dabei verständlich zu bleiben, ein großes Lesevergnügen. Ebenfalls wieder dabei ist Mo, ebenfalls acht Jahre älter, aber kein Stück erwachsener. In seinen Geschichten werden Stanišić’ Themen deutlich: Freundschaft, Solidarität und die Frage, wie eigentlich eine gute Geschichte erzählt wird. Mos Freunde wollen gar nicht wissen, ob er heute wirklich mit dem Panzer zum Doppelkopfspielen gekommen ist, ihr Vertrauen in seine Geschichten sind ihr Freundschaftsbeweis. Zusammen mit der titelgebenden Witwe Gisel, hin- und hergerissen zwischen Einsamkeit und sozialen Ängsten und der Figur des Autors selbst – der seinen eigenen Schreibprozess in den Texten reflektiert, dass Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihre Freude daran haben dürften –, wird ein Staniversum geschaffen, das in jeder Geschichte neue Perspektiven auf das Leben aufzeigt. Und dabei glänzend unterhält. Alexander Böhle

Rüdiger Safranski

Rüdiger Safranski

Kafk a. Um sein Leben schreiben. München: Hanser 2024. 256 S., 26 €

Rüdiger Safranski.

Kürzlich erst sinnierte Alexandra Moe in The Atlantic darüber, dass wir alle falsch lesen würden. Um den Kern eines Werkes zu erkennen, sollten wir laut (vor)lesen. Das meinte auch Sven Regener im österreichischen Standard, als er über Kafka sprach (dessen Werke er eingelesen hat). Erst beim lauten Lesen erschließe sich der mehrdimensionale Kafka und dies bestärke »den Eigensinn« des Lesers. Ganz still und leise rezipiert hingegen der Germanist Rüdiger Safranski den Prager Autor. Eingangs steht hier Kafkas Diktum: »Ich […] bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.« Der Satz wird zum Kanon des Buches, in dem Safranski versucht, dem Autor beim Schreiben zuzuschauen. Kafka erlaubte dies aber nur während seiner Jugend und auf dem Totenbett. Die Zeit dazwischen ist der Deutungshoheit wie Überzeugungsarbeit des Deuters überlassen. Safranski scheint angesteckt zu sein von der Ekstase, die Kafka beim Schreiben empfand, und versucht, dessen Leben poetologisch zu ergründen. Seine Gegner sind die vielen Lesarten, unter denen Kafka »fast zu verschwinden« drohe. Im Ergebnis schaltet Safranski in den ihm vertrauten Modus des Biografen und gräbt bekannte Geschichten aus der Perspektive der literarischen Existenz seines Studiensubjekts aus – eine Perspektive, aus der Kafka eher zu einem von Roland Barthes’ »Papierwesen« wird. Als solches ist er dann Katalysator für wiederholte Auslegungen des literarischen Vermächtnisses. So kann Safranski den Kafka-Biografen Reiner Stach oder Klaus Wagenbach nur in seiner leicht zugänglichen wie stark gerafften Schreibweise etwas entgegensetzen. Die hier erschlossenen Lebenssituationen passen sich am Ende in die von Kafka einmal selbst gezogene Bilanz ein: »Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben.« Marcel Hartwig

Cecilia Rabess

Cecilia Rabess

Alles gut. Aus dem amerikanischen Englisch von Simone Jakob. Köln: Bastei Lübbe 2024. 432 S., 23,99 €

Cecilia Rabess.

Jess – Schwarz, untere Mittelschicht – und ihr Studienkollege Josh – weiß, wohlhabend – zeigen deutlich ihre gegenseitige Abneigung, als sie sich auf dem College in New York zyum ersten Mal treffen. Nach ihrem Abschluss in Mathematik arbeitet Jess bei der Bank Goldman Sachs als Analystin und trifft dort erneut auf Josh. Er wechselt bald zu einer anderen Firma, wird Trader und verdient viel Geld. Er wirbt sie ab für sein Team und obwohl sie sehr gute Arbeit leistet, wird sie entlassen – sie passe nicht in die Firmenkultur, sei zu sehr »auf Krawall gebürstet«. Auf Joshs Wunsch zieht sie bei ihm ein, aus Freundschaft wird Liebe. Dann findet Jess ihren Traumjob bei einem sozialkritischen Non-Profit-Nachrichtenmagazin. Ihre Artikel stoßen in Joshs konservativen und turbokapitalistischen Kreisen zunehmend auf Widerstand und der schwelende Konflikt zwischen ihnen eskaliert; sie verlässt Josh. Neben der romantischen Liebesgeschichte im Stil einer Telenovela hat der Roman auch eine politische Ebene. Die Handlung beginnt 2008 mit der Wahl von Barack Obama und endet 2016 mit der Wahl von Donald Trump – und führt in die tief gespaltenen Vereinigten Staaten mit erzkonservativen Republikanern, liberalen Demokraten, Rassismus und »Black Lives Matter«. Rabess, die als Data Scientist bei Google gearbeitet hat und Associate bei Goldman Sachs war, verbindet in ihrem Debüt Gesellschaftskritik mit einer manchmal ins Sentimentale abgleitenden Liebesgeschichte – und das in teilweise deftiger Sprache. Ihre nuancierten Beobachtungen zweier Menschen, die ihre Beziehung zwischen kontrastierenden Überzeugungen, Alltagsrassismus und politischen Spannungen zu erhalten versuchen, führen allerdings zu lohnenswerten Fragen über unsere Gegenwart. Joachim Schwend

Tobias Elsässer

Tobias Elsässer

Mute. Wer bist du ohne Erinnerung? München: Hanser 2024. 304 S., 17 €, ab 14 Jahren

Tobias Elsässer.

Tobias Elsässer erzählt von einer starken Familie, die für ihr Recht auf ein Leben in Freiheit kämpft. Aus Sicht der ältesten Tochter Espe werden Themen wie Adoption, Traumaerfahrung und Jugendpsychologie behandelt. Espe ist sechzehn Jahre alt und lebt mit ihren Adoptiveltern und drei Geschwistern in Deutschland. Wobei – so genau weiß man ihr Alter gar nicht, denn Espe kam als Flüchtlingskind stark unterernährt und ohne Papiere aus Mexiko in ein Waisenhaus in den USA. Die traumatischen Dinge, die sie und ihre Geschwister erlebt haben, werden nur in Bruchstücken geschildert. Doch das Lückenhafte ihrer Geschichte wirkt authentisch, schließlich geht es unter anderem um das Vergessen von schweren Schicksalsschlägen und um das Weiterleben danach. Die Lektüre ist herausfordernd, mit der Altersempfehlung ab 14 Jahren sollte vorsichtig umgegangen werden. Die Erzählung setzt sich aus Tagebucheinträgen zusammen, die Espe während ihrer psychotherapeutischen Behandlung aufschreibt. Darauf beziehen sich auch die fünf Teile, in die das Buch gegliedert ist: »Intuition«, »Sehen«, »Hören«, »Riechen« und »Fühlen« beschreiben psychologische Prozesse des Erinnerns. Jedem dieser Elemente fügt der Autor einleitend eine Definition bei, die auf unbewusste Wahrnehmungen, synästhetische Eindrücke und taktile Illusionen hinweist. Die Geschichte zeigt, wie stark die frühkindliche Prägung die psychische Entwicklung beeinflusst. Hormonelle Veränderungen in der Pubertät wirken dann als Verstärker und manchmal hilft nur noch ein Haustier. Und erst am Ende wird klar, wie das Buch zu seinem Titel kommt. Elena Schneck

Thomas Lehr

Thomas Lehr

Kafkas Schere. Zehn Etüden. Göttingen: Wallstein 2024. 79 S., 18 €

Thomas Lehr.

Franz Kafka ist ein gefährlicher Einfluss, und ein verlockender. Gerade seine kurzen Texte laden ein zum Imitat. Sie bewegen sich zwischen Parabel, Bericht, Albtraum und Groteske und sind meist ziemlich komisch. Oft kommen sie einfach daher, graben sich dann aber plötzlich – manchmal in einem einzigen Halbsatz – in ungeahnte Tiefen. Und eben da liegt das Problem: Sound und Setting lassen sich nachahmen, bei der Tiefe wird’s schwierig. Thomas Lehr, Jahrgang 1957, hat sich einen Namen gemacht mit anspruchsvollen, dickbauchigen Romanen. Nun erprobt er in »Kafkas Schere« die kleine Form. Gedacht ist das (im Kafka-Jahr) als Variation und Hommage, als Ergänzung des großen Vorbilds. Da Lehr sich in Kafkas Werk auskennt und gekonnt mit dessen Motiven spielt, ist das Resultat solide. Gleichzeitig erschöpfen sich die Miniaturen leicht in ihren Anspielungen. Das beginnt schon im ersten Text des Bandes. Darin sprechen Kopflose, sie werden von Hunden durch eine Art Hölle gejagt. Einmal heißt es: »Wer schickte die Hunde? Die Frage bohrte in uns wie ein Messer in den Rippen.« Die Hinrichtungsszene aus Kafkas »Der Process« klingt an, und doch: Isoliert betrachtet ist das Bild von der bohrenden Frage abgedroschen. Kafka wäre das nicht passiert. Das Wiedererkennen beim Lesen macht Spaß: Ach stimmt, bei Kafka gibt es auch so eine Stelle. Lehrs Stil ist anders als das nüchterne, beinahe verarmte Pragerdeutsch Kafkas. Trotzdem findet er auch eindrückliche Bilder. In einem besonders gelungenen Text kriechen Künstler eidechsengleich eine gewaltige Wand hinauf und stürzen vor den Augen ihrer Zuschauer in die Tiefe und ins Vergessen. Könnte das von Kafka sein? Vielleicht. Maurus Jacobs

Michel Houellebecq/Louis Paillard

Michel Houellebecq/Louis Paillard

Karte und Gebiet. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Köln: Dumont 2023. 160 S., 32 €

Michel Houellebecq/Louis Paillard.

Mit »Karte und Gebiet« landete der große französische Provokateur Michel Houellebecq 2010 einen Bestseller, gewann die Herzen vieler mitteleuropäischer Leser und Leserinnen – und heimste den wichtigsten französischen Buchpreis ein, den Prix Goncourt. Nun ist eine geniale Graphic Novel von Louis Paillard erschienen, die kühnste Comicträume wahr werden lässt. Mit feinem Schwung erschuf der Pariser Architekt ein aufregendes Buch voll detailreicher Illustrationen über zwei französische Künstlersubjekte beim fröhlichen Tanz am Abgrund. Als der fast vergessene Maler Jed dem Schriftsteller Michel Houellebecq begegnet, wendet sich Jeds halblausiges Schicksal: Es wird aufregend, wild – und nicht unblutig. Einer der beiden bleibt auf der Strecke in Houellebecqs mit Abstand lustigstem Buch, das die Kunst, die Liebe, Väter und das Geld verhandelt und solche Perlen enthält wie: »Du hast ja Popper und seine Theorie der Falsifizierbarkeit nicht gelesen. Macht nichts, Schatz, wir essen jetzt den Kabeljau.« Viele hielten Houellebecq schon immer für einen großen Witzbold. In »Karte und Gebiet« zeigt er, wie sehr er über sich selbst lachen kann. Und wer wusste bis dato, dass des Meisters Liebe allen Tieren der Welt galt, besonders dem superschlauen Schwein? Fazit: Die Graphic Novel schafft es in zarter Radikalität, den Aberwitz des Romans noch zu steigern. Frank Willmann

Tara C. Meister

Tara C. Meister

Proben. Salzburg/Wien: Residenz 2024. 256 S., 24 €

Tara C. Meister.

Caro und Johanna sind enge Freundinnen. Während die Naturwissenschaftlerin Caro im Labor versucht, den Fehler in ihrer Versuchsanordnung zu finden, inszeniert Johanna ein Theaterstück über eine Frau, die unbemerkt verschwindet. Das Stück und der Probenprozess bilden eine Art Metaerzählung, denn auch Johanna hat große Verluste erlitten und fürchtet nun, selbst zu verschwinden. Vom Bewerbungswochenende für ein Regiestudium kehrt sie ohne Studienplatz, dafür aber schwanger zurück. Sie will das Kind behalten, sich selbst aber auch, ein Dilemma. Und da auch Caro Johanna behalten will, in einem ziemlich wörtlichen Sinne, entscheiden sich die beiden Freundinnen, gemeinsam Eltern zu werden, jenseits der gängigen Formen. Ganz klar wird nicht, was die Freundinnen zueinander hinzieht, wobei vielleicht gerade darin, dass man den »Grund« der Zuneigung nicht erfassen kann, das Wesen von Freundschaft liegt. Die beiden haben sich in einer recht klassischen Rollenverteilung eingefunden, in der Caro kümmert und rettet und Johanna ihre teils übergriffige Fürsorge eher passiv über sich ergehen lässt. Hin und wieder will man sie schütteln, alle beide, und ihnen raten, die Dinge doch einfach mal auszusprechen. Dann wäre allerdings das Buch schnell zu Ende, das nicht zuletzt davon lebt, dass hier zwei ambivalente Figuren mit- und gegeneinander um Nähe und Autonomie, Differenz und Verbindlichkeit ringen − und zwar mal nicht auf Grundlage erotischer Liebe, wo solcherlei sonst oft verhandelt wird. Die Kraft dieses Romans liegt nicht nur in klugen Dialogen und genauen Beschreibungen, sondern vor allem darin, dass die beiden Figuren in ihrer ganzen Schwierigkeit und Schwäche gezeigt und dennoch getragen werden, voneinander und von der Erzählung, trotz aller Fragilität. Anna Kow

Darja Serenko

Darja Serenko

Mädchen & Institutionen – Geschichten aus dem Totalitarismus. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Berlin: Suhrkamp 2023. 192 S., 23 €

Darja Serenko.

Viele ärgern sich dieser Tage über das Verhalten eines gewissen Machthabers in der östlichsten Gegend Europas – oder beschäftigen sich aus Resignation absichtlich nicht damit. Insofern können Bücher wie »Mädchen & Institutionen« zur literarischen Völkerverständigung beitragen. Der Text ist ungewöhnlicherweise in Wir-Form geschrieben. Doch das Pronomen hat in der russischen Literatur längst eine totalitarismuskritische Tradition. In Serenkos Ausgestaltung trägt es den Namen »Mädchen«. Ebenjenes Kollektiv hat eine liebevoll-ironische Haltung gegenüber seiner Arbeit in den staatlichen Institutionen: Es veranstaltet Festivals, die es gar nicht gibt, es zaubert Summen aus dem Nichts hervor und lässt sie bei Bedarf wieder verschwinden, es denunziert und lässt sich denunzieren, es tröstet und es trinkt. Schon auf Seite 71 endet dieser ebenso entlarvende wie poetische Text. Die Erzählerin erläutert ihre Textrehaftecherche und erzählt, dass ihr eigenes Angestelltenverhältnis bei den Institutionen ihres Landes endete, als sie wegen »Extremismus« inhaftiert wurde. Es folgt ein Zyklus namens »Ich wünsche Asche meinem Haus«: Diese Textstücke – manchmal Verse – sind primär aus der Ich-Perspektive geschrieben. Das zentrale Narrativ bildet der 15-tägige Gefängnisaufenthalt des Ichs, doch die Komposition unterschiedlicher Zeitformen und Orte wirkt impulsiv und brüchig. Gewalt, auch passive, so verstehen wir, ist tägliche Praxis innerhalb der totalitären Gesellschaft. Immerhin meldet sich aus diesen Aufzeichnungen, gerade weil sie so persönlich wirken, eine Stimme der Humanität. Juliane Zöllner

Haruki Murakami

Haruki Murakami

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln: Dumont 2024. 640 S., 34 €

Haruki Murakami.

Der wohl bekannteste lebende japanische Autor hat die Isolation, Ungewissheit und Ängste der Corona-Pandemie genutzt, um eine frühe Erzählung neu zu bearbeiten und deren Handlung zu erweitern. »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« nimmt dabei zahlreiche Motive des 1985 erschienenen Romans »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt« auf, um sie in anderen Zusammenhängen neu zu erzählen. Angelegt als Triptychon einer unschuldigen Teenager-Liebe, bei der die Geliebte eines Tages spurlos verschwindet, der übersinnlichen Begegnungen desselben Erzählers als Bibliothekar mittleren Alters in einer abgelegenen Provinzstadt und seiner finalen Rückblende in die geheimnisvolle Stadt, führt Murakamis magischer Realismus an einsame Orte, in rätselhafte Parallelwelten und zu lebensfernen Charakteren. Das anhaltende Gefühl der Leere nach dem abrupten Verlust der Geliebten zieht sich dabei ebenso durch den Roman wie die Suche nach dem Ort der inneren Ruhe auf einer anderen Seite, zu der man vielleicht durch Bibliotheken gelangen kann. Ob die künstlerische Bearbeitung dieser nicht gerade neuen Themen gelungen ist? Nun, die Handlung läuft sicher an der einen oder anderen Stelle Gefahr, ins Kitschige abzudriften, und beim flott wegzulesenden Stil stellt sich durch zu viele, teilweise sperrige und erzähltechnisch eher unlogische Einschübe eine gewisse Ambivalenz im Narrativen ein. Thorsten Bürgermann

Melanie Katz (Hg.)

Melanie Katz (Hg.)

Die einsamen Begräbnisse. Poetische Nachrufe auf vergessene Leben. Zürich: Limmat 2023. 216 S., 28 €

Melanie Katz (Hg.).

Einsame Begräbnisse sind nicht die Regel, doch kommen sie immer wieder vor, und durch gesellschaftliche Prozesse wie Individualisierung und Anonymisierung wird ihre Zahl wahrscheinlich auch in Zukunft noch weiter ansteigen«, heißt es im Vorwort zu diesem Buchprojekt. Das Dichterinnen-Projekt »Das Einsame Begräbnis«, 2001 in den Niederlanden gestartet, gibt es mittlerweile auch in Belgien und in der Schweiz. Dort hat es die deutsch-schweizerische Dichterin Melanie Katz ins Leben gerufen, eine angesichts des Themas seltsame und dennoch treffliche Formulierung, geht es dabei doch um Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen niemanden haben, der oder die sie verabschieden könnte. Das Gedicht als letztes Geleit also. Das Gedicht als die letzte, festgehaltene Spur eines verflossenen Lebens. Eine poetische Auflehnung gegen das Vergessen, ein Gestus gegen die Einsamkeit – nicht nur im Tod, auch im Leben. Einmal im Jahr findet in Zürich ein Gemeinschaftsbegräbnis aller einsam Verstorbenen statt, dank dieses Projekts in Begleitung von Dichterinnen und Dichtern. Zuvor bekommt jede »Dichterin vom Dienst« die Daten der Verstorbenen zugeteilt, meist den Namen und den letzten Wohnsitz – dann beginnt die Recherche. Manchmal treffen sie dabei auf jemanden aus der Nachbarschaft, bekommen Hinweise oder gar Fotos zu sehen, manchmal stehen sie vor einem leeren Haus. 37 so entstandene Gedichte, meist begleitet von einem Recherchebericht, hat der Limmat-Verlag nun in Buchform veröffentlicht. Ergänzt um ein Vorwort von Melanie Katz und Terry Eagleton sowie vier Dichterinnen-Essays versammelt der Band Texte von elf Dichterinnen und Dichtern. Texte, die berühren, nachdenklich machen, aber auch ein leises Lächeln auf die Lippen zaubern. Ein kleines Geschenk ist dieses Buch, eine poetische Huldigung des Lebens. Martina Lisa

Geovani Martins

Geovani Martins

Via Ápia. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Berlin: Suhrkamp 2023. 333 S., 25 €

Geovani Martins.

Die Via Appia ist jener Weg, der seit Tausenden von Jahren nach Rom führt. Die Via Ápia aber liegt in Rio de Janeiro in der Favela Rocinha, wo auch Geovani Martins herkommt. Wer hier lebt, befindet sich eher in einer Sackgasse als auf dem Weg nach Europa – so wie die fünf Männer Anfang 20, um die Martins’ Romanhandlung kreist. Sie leben von Mahlzeit zu Mahlzeit, Job zu Job, Joint zu Joint. Es lohnt sich, vor der Lektüre einen virtuellen Spaziergang durch die Straßen Rocinhas zu machen, um zu verstehen: Es ist eine Stadt in der Stadt, nur eben illegal errichtet und organisiert von Drogenbossen. Hier wurde ein Stück zeitgenössische brasilianische Geschichte geschrieben, als die Polizei im Jahr 2011 versuchte, die Favela gewaltsam aufzulösen – in Vorbereitung auf die Fußball-WM. Dieses Ereignis steht im Mittelpunkt des Romans: Einer der jungen Männer – Murilo – ist Soldat. Er hat Angst davor, die eigene Nachbarschaft stürmen zu müssen. Ein anderer – Wesley – hatte auf ein Motorrad gespart, um Taxifahrer zu werden. Doch jetzt bräuchte er ein teureres, mit richtigen Papieren. Das Leben in Illegalität war der Normalzustand – und wenn es so abrupt endet, steht man plötzlich noch verlorener da. Und doch: Die jungen Männer fühlen sich verbunden mit dem Stück Land in den Hügeln, das schon von Tupi, Puri, Botocudo und Maxakalí bevölkert wurde: »Ich kann so lange wegbleiben, wie ich will, ich gehöre immer noch hierher.« Pauline Reinhardt

Afonso Reis Cabral

Afonso Reis Cabral

Aber wir lieben dich. Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. München: Hanser 2021. 304 S., 24 €

Afonso Reis Cabral.

Gisberta ist schon fast am Ende, als der Junge Rafa sie in einer Bauruine entdeckt. Die brasilianische trans Frau war als Zwanzigjährige nach Porto gekommen, wurde drogenabhängig, arbeitete in Shows und als Prostituierte. Mit HIV infiziert, wartet sie nun, mit 45, an diesem unwirtlichen Ort zwischen Pfützen, Müll und alten Spritzen auf den Tod. Rafa lebt im Heim, seine Mutter ging anschaffen, der Vater war gewalttätig; eine normale Biografie in der Jugendhilfeeinrichtung. Die älteren unter den Zöglingen schikanieren die jüngeren, das pädagogische Personal agiert im besten Fall hilflos, und Zusammenhalt ist ein rares Gut. Rafa und Gisberta freunden sich an – wenn man es so nennen kann. Denn Rafas Gefühle der älteren Frau gegenüber sind komplex: Er will ihr helfen und wertet sich zugleich über ihr Leid auf. Aggressiv reagiert er auf jede eigenständige Handlung von ihr. Lieber würde er Gisberta vernichten, als zu erleben, dass ihr selbst etwas gelingt. Wütend und eifersüchtig verfolgt er, wie sein Freund Samuel unabhängig von ihm eine Beziehung zu ihr aufbaut. »Aber wir lieben dich« von Afonso Reis Cabral erzählt von Lebensbedingungen, in denen es immer jemanden gibt, der noch tiefer in der Scheiße steckt und auf den man spucken kann. Gewalt gebiert Gewalt – eine abgedroschene Erkenntnis, doch der junge portugiesische Autor schildert sie noch einmal neu, in einer rohen, unmittelbaren Sprache. Zusätzlich beklommen macht die Lektüre, weil es Gisberta Salce Júnior wirklich gab. Reis Cabral spürt in seinem Roman ihrem Schicksal am äußersten Rand der Gesellschaft nach, ohne viel zu erklären. Das Nachdenken darüber überlässt er dankenswerterweise dem Leser. Andrea Kathrin Kraus

Lorenza Foschini

Lorenza Foschini

Und der Wind weht durch unsere Seelen. Marcel Proust und Reynaldo Hahn. Eine Geschichte von Liebe und Freundschaft. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. München: Nagel und Kimche 2021. 237 S., 22 €

Lorenza Foschini.

Das Leben des Schriftstellers, schrieb Marcel Proust, sei in seinem Werk. Und doch gibt es, wenn große Werke vorliegen, ein Interesse an jenem ›anderen‹ Leben eines Schriftstellers, das Proust zufolge nur eine zu beschreibende Illusion darstellt. Nur eine Illusion? Dieses Leben kann auch eine Liebe sein – etwa die Liebe Marcel Prousts zum Komponisten Reynaldo Hahn. Über die Lektüre von Prousts Romanteil »Eine Liebe von Swann« und durch den Ankauf eines Briefes von Reynaldo Hahn an Marcel Proust kam die Autorin der vorliegenden Publikation zu ihrem Thema. Die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Reynaldo Hahn und Marcel Proust gelingt ihr mit so viel Sachkenntnis (bis hin zur Einbeziehung unveröffentlichter Quellen) wie Einfühlungsvermögen. Durch die knappen Kapitel des Buches gestaltet sich die Lektüre kurzweilig, und die schöne Ausstattung des Bandes erhöht die Lesefreude. Die Stadien dieser Liebe, aber auch die anderen Personen, die von ihr Kenntnis hatten zu einer Zeit, als homosexuelle Beziehungen keinesfalls allgemein akzeptiert waren, werden dem Leser vor Augen gestellt, fast möchte man sagen: ans Herz gelegt. Im Mai 1894 kommt es zur ersten Begegnung zwischen Reynaldo Hahn, dem trotz seiner jungen Jahre schon berühmten Komponisten, Pianisten und Sänger, und dem noch völlig unbekannten, drei Jahre älteren Marcel Proust, den als Schriftsteller zu bezeichnen seine wenigen literarischen Versuche noch lange nicht hinreichen. Es entsteht eine leidenschaftliche Liebesbeziehung – für beide die erste. Doch schon zwei Jahre später, im Herbst 1896, kommt sie, hauptsächlich bedingt durch Prousts Eifersucht und seine inquisitorische Überwachung des Geliebten, an ihr Ende. Was bleibt, ist eine bis zum Tode Prousts dauernde Freundschaft. Angelika Corbineau-Hoffmann

Eimar O’Duffy

Eimar O’Duffy

Esel im Klee. Für die Kinder der Erde. Aus dem Englischen von Gabriele Haefs. Mit Anmerkungen. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2020. 349 S., 22 €

Eimar O’Duffy.

In der pikaresken Fortsetzung von »King Goshawk und die Vögel« (vgl. kreuzer 04/21) ist Cuanduine, der Held aus der irischen Mythologie, wieder im Einsatz für die einfachen Menschen und für die Herrschaft der Vernunft: Frustriert durch die Kriege und angesichts des traurigen Zustands der Welt zieht sich Cuanduine nach seinen Reisen zurück »in die Berge, wo keine Menschen mehr hausten«; er gründet eine Familie und genießt das einfache Leben – bis ihn die Kriegsgöttin Badb ruft und er wieder in den Kampf ziehen muss, unter anderem, um die Ehre Irlands zu verteidigen. Es kommt zum Krieg (was eine irische Amsel damit zu tun hat, soll an dieser Stelle nicht verraten werden) und in einer Luftschlacht über dem Atlantik besiegt Cuanduine ganz allein König Goshawks Luftwaffe. Unterdessen geht der kapitalistische Wahnsinn auf der Welt munter weiter und Cuanduine hat endlich genug von den Menschen. Er beschließt frustriert, mit seiner Frau – die Kinder sind erwachsen und gehen ihren eigenen Weg – die Welt zu verlassen. Doch weil auf der verarmten Erde nichts mehr zu holen ist, beginnt mit der Kolonialisierung auch die Ausbeutung des Monds und seiner Bewohner. Anfangs wächst der Wohlstand, bis auch diese Welt erneut im Krieg versinkt. O’Duffy schreibt seine Satire vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs mit großer sprachlicher Vielfalt – verschiedene Textsorten wie Zeitungsberichte, Gedichte, Vorträge, sprachliche Variationen wie Slang oder wirtschaftswissenschaftliche Fachsprache, intertextuelle Anspielungen und ein Erzähler, der den Leser direkt anspricht und sein eigenes Unverständnis eingesteht – und das alles mit einem Augenzwinkern, um die Absurdität der Situation zu offenbaren. Die hilfreichen Anmerkungen von Gabriele Haefs erklären so manche Feinheiten, die sonst nicht immer klar geworden wären. Was den Menschen eindeutig fehlt, ist der gesunde Menschenverstand, doch trotz der düsteren Stimmung ist das Ende versöhnlich (...). Joachim Schwend