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Bildungslücke, Folge 3 – Hasso Grabner: »Die Zelle« (1968)

Bildungslücke, Folge 3 – Hasso Grabner: »Die Zelle« (1968)

Bildungslücke, Folge 3 – Hasso Grabner: »Die Zelle« (1968). 376 S.

Im Bibliotheksexemplar steckt ein vergilbter Fristzettel aus der Zeit, in der es noch keine Selbstverbuchungsautomaten gab und die Uni noch Marx im Namen führte: »Rückgabe spätestens am: 14. Mai 1976«. Zuletzt abgestempelt vor 41 Jahren – seitdem scheint das Buch nicht allzu oft aus dem Magazin ans Tageslicht geholt worden zu sein, sonst wäre der Zettel sicher irgendwann mal herausgefallen, wäre in den achtziger Jahren in einer Shell-Parka-Tasche, in den Neunzigern in einem Eastpak-Rucksack oder den Nullern in einem Jutebeutel zurückgeblieben. Warum hat sich in all den Jahrzehnten kaum jemand für Hasso Grabners Roman »Die Zelle« interessiert? Nach der Lektüre, der historische Fristzettel diente als Lesezeichen, weiß man die Antwort: Weil der Roman weder als literarisches Werk noch als historisches Zeitdokument etwas taugt. Dabei gäbe der Stoff einiges her: Im Zentrum der Handlung steht eine kommunistische Zelle, die aus einer Leipziger Fräsmaschinenfabrik heraus Widerstand gegen Hitler organisiert. Exportiert die Firma sämtliche Maschinen bis 1941 zum Stolz der Arbeiter noch nach Russland, wandern die Geräte nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion per Zwangsbeschluss an einen führertreuen Abnehmer. Die rote Zelle fasst daraufhin den Plan, die Qualitätsmaschinenfabrik durch systematischen, aber unauffälligen Pfusch in eine Murksbude zu verwandeln. Parallel dazu wird rückblickend erzählt, wie die roten Herzen den Protagonisten in den zehn Jahren zuvor zwar immer schwerer wurden, aber tapfer weiterschlugen. Eine Handlung, an der historische, psychologische, ja sogar maschinenbautechnische Aspekte interessieren könnten – wäre der Roman nicht so großflächig mit kommunistischem Kitsch eingenebelt, dass alles andere im Ungefähren bleibt. Seitenlang werden die immer gleichen Meinungsverschiedenheiten ausbuchstabiert: Unbedingte Parteitreue versus die Todfeinde der Revolution – Reformismus und Intellektualismus. Recht behält am Ende immer der Dreher Willy Schnabel, unfehlbar wie die Partei selbst, die mal »wie eine Mutter«, mal wie »die große Liebe« beschrieben wird. Das mangelnde Gespür des Autors für Dramaturgie und Charakterzeichnung verweist den Roman endgültig auf die finstersten Plätze im Bibliotheksmagazin: Die Handlungsstränge sind effektlos zerrupft und werden absichtslos fallengelassen, die Figuren haben als lehrbuchhaft plappernde Pappaufsteller weder Schärfe noch Tiefe. Und eine Frau ist dann eine gute Frau, wenn sie die Bluse ohne Murren wieder zuknöpft, weil der Mann die Wärme des Bettes lieber Nacht für Nacht gegen die Kälte des Straßenkampfes eintauscht. »In der Welt der Geschichten steuert alles auf einen letzten Punkt zu, so lang eine jede von ihnen auch sein mag«, philosophiert der auktoriale Erzähler des Romans vor sich hin. Im Bibliotheksexemplar liegt nun ein zweiter Zettel: »Bitte das Buch am Automaten verbuchen! 2.5.2017« steht neben dem Barcode. Mal sehen, ob es noch mal jemand aufschlägt und ihn findet. Clara Ehrenwerth


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