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Bildungslücke, Folge 4 – Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999)

Bildungslücke, Folge 4 – Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999)

Bildungslücke, Folge 4 – Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999). 256 S.

Zugegeben, so alt und verstaubt ist dieser Roman nicht. Aber er ist in Vergessenheit geraten, hat nicht die Anerkennung bekommen, die er verdient hätte. Vielleicht liegt das daran, dass er im wenig bekannten Verlag Via Verbis erschienen ist, vielleicht daran, dass die Einbandgestaltung lieblos und langweilig ist. Aber – und dieses kleine Wort »aber« ist an dieser Stelle laut zu lesen – aber Martin Jankowskis »Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung« ist ein lesenswerter Roman, der gleichzeitig zum historischen Dokument taugt. Der Protagonist Benjamin »Ben« Grasmann wächst in der ostdeutschen Provinz auf und macht sich 1987 auf den Weg in die Metropole Leipzig, im Gepäck nur seine Gitarre und den Traum, endlich aus »dem Käfig« auszubrechen. Der Käfig, das ist die DDR mit ihren »Telefonleitungsknackgeräuschemachern«, mit dem Vater, der sein Mantra täglich wiederholt: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« In Leipzig ist alles anders. In Leipzig besetzt Ben ein Haus am Rabet, malt die Wohnungstür bunt an und lebt fortan damit, dass das Wasser in den Leitungen im Winter gefriert. In Leipzig wird aus Benjamin einer, der im politischen Untergrund aktiv ist, der zum Staatsfeind erklärt wird, der aus Besenstielen und alten Bettlaken Transparente bastelt. Hautnah erlebt er die Predigten in der Nikolaikirche mit, spielt dort mit seiner Gitarre, treibt die Proteste gegen das DDR-Regime voran. Seine persönlichen Beziehungen werden mehr und mehr vom politischen Widerstand bestimmt. Vor der Haustür am Rabet steht jetzt täglich ein grüner Lada der Volkspolizei. Die Fakten, wie es dann weitergeht, sind bekannt. Nikolaikirche, Mauerfall, Keine Gewalt. Und dann: Neuwahlen, die ersten freien Wahlen seit fünf Jahrzehnten. Im Epilog schreibt der Erzähler über dieses historische Ereignis: »An diesem Tag fanden die Wahlen statt, und als sie vorbei waren, hörte das Land, aus dem wir kamen, auf zu existieren.« Martin Jankowski schafft es mit seinem Roman, die sich verstärkenden Dynamiken, die Aufbruchstimmung und die Ängste in den Jahren vor 1990 in Leipzig nachvollziehbar zu machen. Und das, obwohl er oft floskelhafte Metaphern und Bilder verwendet – da färbt sich der Himmel lachsfarben, da wandern »matte Lichtaugen durch das schwarze Labyrinth der Straßen« – sei’s drum. Die Story macht diese sprachlichen Entgleisungen wett. Dabei bleibt er nicht einseitig der Euphorie der Wende verhaftet, der Protagonist Benjamin merkt früh, dass die Wiedervereinigung auch ein Ende bedeutet: das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Der Roman erscheint im Jahr 1999, 18 Jahre später bekommen neu zugezogene Leipziger eine gelbe Kartonbox vom Bürgeramt, darin enthalten sind Infobroschüren und ein Gutscheinheft: für eine Besichtigung der Sterni-Brauerei, ein Heimspiel von RB Leipzig, eine Leipziger Lerche. In Zukunft sollte neben einer CD mit Bach-Musik auch der Roman von Martin Jankowski in dieser Box liegen, einfach, um diese wichtigen Jahre in Leipzig verstehen zu können. Urs Humpenöder


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