Im letzten Sommer
F/NOR 2023, R: Catherine Breillat, D: Léa Drucker, Samuel Kircher, Olivier Rabourdin, 104 min
Anne, eine elegant und souverän auftretende Anwältin für Familienrecht, lebt gemeinsam mit ihrem älteren Mann Pierre und zwei adoptierten Töchtern in einem schicken Haus im Pariser Umland. Laue Champagnersoirées auf der Terrasse, Reitunterricht für die Mädchen, mit dem Cabriolet durch die Landschaft düsen: Mitten in den bourgeoisen Lebensstil platzt Pierres leiblicher Sohn Théo, der mit 17 Jahren zum Vater zieht. Nach einem holprigen Start findet Anne einen Draht zu ihrem Stiefsohn – und fängt prompt eine Affäre mit ihm an. Ausgerechnet sie, die in ihrer Arbeit vergewaltigte und missbrauchte Teenager vor Gericht verteidigt, lässt sich hinreißen, mit dem minderjährigen Théo zu schlafen. Wohlstandsverwahrlosung? Weitaus komplexer. »Manchmal wird aus dem Opfer eine Angeklagte«, erklärt Anne noch zu Beginn des Films einer Mandantin. Spätestens als Théo vor seinem Vater zusammenbricht und alles gesteht, zeigt sich, wie gut sie dieses grausame Spiel selbst beherrscht. Anne tut alles, um ihr angenehmes Leben zu verteidigen. Catherine Breillat hat mit »Im letzten Sommer« ein Porträt verfilmt, das schonungslos die Verletzlichkeit, die Lust und die moralischen Abgründe seiner Protagonistin zeigt – und wie diese Dinge letztlich miteinander in Verbindung stehen. Léa Drucker ist herausragend in der Rolle der ambivalenten Anne, die ihr Wissen um die Manipulierbarkeit ihrer Mitmenschen eiskalt missbraucht. SARAH NÄGELE