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Rezensionen

Konklave

Konklave

USA/GB 2024, R: Edward Berger, D: Ralph Fiennes, Stanley Tucci, John Lithgow, 120 min

Als der Papst relativ unvermittelt verstirbt, kommt auf Dekan Lawrence eine schwierige Aufgabe zu. Ein Konklave soll abgehalten werden, bei dem über 100 Kardinäle aus aller Welt möglichst rasch einen Nachfolger für das Amt des Heiligen Vaters wählen sollen. Lawrence muss das Konklave in seiner Funktion als Dekan leiten. Er selbst ist wie einige seiner Kollegen liberal eingestellt, doch der aussichtsreichste Kandidat dieser Fraktion möchte eigentlich gar nicht kandidieren. Bei den Konservativen hat ein italienischer Kardinal die größten Chancen, aber seine Wahl würde die Reformen des alten Papstes wieder um Jahrzehnte zurückdrehen. Hinter den Kulissen beginnt ein harter Wettkampf um die Stimmen, bei dem auch unlautere Mittel zum Einsatz kommen. Nach seinem oscarprämierten Drama »Im Westen nichts Neues« hat Edward Berger mit »Konklave« den gleichnamigen Bestseller von Robert Harris aus dem Jahr 2016 für die Leinwand adaptiert. Man merkt seinem Film bereits in den ersten Einstellungen an, dass er mit größter Sorgfalt gestaltet und viel Wert auf Authentizität gesetzt wurde. Der in sämtlichen zentralen Rollen mit wunderbaren Darstellern – Ralph Fiennes, Stanley Tucci, Isabella Rossellini u. a. – besetzte Film versteht es, auch Zuschauerinnen und Zuschauer ohne allzu großes Interesse an der Institution Kirche in seinen Bann zu schlagen, da er von Berger überaus spannend in Szene gesetzt wurde. Wer die Romanvorlage nicht kennt, wird zudem durch unvorhergesehene Wendungen überrascht. Frank Brenner

Anora

Anora

USA 2024, R: Sean Baker, D: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yuriy Borisov, 139 min

Sean Baker hat ein Herz für die Underdogs, die von einem Bad im Rampenlicht träumen, ihr Dasein jedoch meist im Schatten der schillernden Metropolen fristen. Dabei sind seine Figuren damit gar nicht mal unzufrieden. Die selbstbewusste Prostituierte Sin-Dee in »Tangerine« etwa, oder Pornostar Mickey in »Red Rocket«. Auch »Anora«, die lieber Ani genannt werden will, arbeitet in der Vergnügungsindustrie. In einem Nachtclub verführt sie die männlichen Besucher zum Lapdance. Als der russische Oligarchensohn Ivan im Club auftaucht, gibt sie ihm ihre Nummer für ein privates Treffen. Er ist charmant, naiv und zahlt gut. Also werden die Treffen regelmäßig und Ani lernt ein unbeschwertes Leben im Überfluss kennen – und lieben. Doch kann sie Ivans und ihren eigenen Gefühlen wirklich trauen? – Mit entwaffnendem Witz und Virtuosität zieht Sean Baker das Publikum in die Story, um dann die Fahrtrichtung zu wechseln. An diesem Punkt gibt man sich dem irrwitzigen Plot und den überraschenden Wendungen hemmungslos hin. Zu verdanken ist das einer wunderbaren Schauspielführung und dem herrlichen Figurenkabinett, angeführt von der wundervollen Protagonistin, mit vollem Einsatz verkörpert von Mickey Madison (»Once upon a Time in Hollywood«). »Anora« ist ein irrwitziger Ritt über knapp zweieinhalb höchst unterhaltsame Stunden. Ein hochverdienter Gewinner der Goldenen Palme von Cannes. LARS TUNÇAY

Motel Destino

Motel Destino

BRA/F/D/GB/AUS 2024, R: Karim Aïnouz, D: Iago Xavier, Nataly Rocha, Fábio Assunção, 115 min

Heraldo ist 21 und erledigt mit seinem Bruder Jorge in einem brasilianischen Küstenort für die Kartellchefin Bambina die Drecksarbeit. Ihr jüngster Auftrag: Sie sollen einen Franzosen töten, der seine Schulden nicht bezahlt. Am Abend vor dem Job lernt Heraldo in einer Bar eine Frau kennen, sie nehmen sich ein Zimmer und haben Sex. Beim verspäteten Aufwachen ist allerdings nicht nur Heraldos Eroberung, sondern auch sein Geld verschwunden und am verabredeten Tatort kann er nur noch feststellen, dass Jorges Leiche abtransportiert wird und die Zielperson den Anschlag überlebt hat. Auf der Flucht vor Bambinas Häschern fällt ihm als Versteck nur das Motel Destino ein, in dem er die Nacht verbracht hat. Dort hat der schmierige Elias das Sagen, dessen Frau Dayana dafür sorgt, dass Heraldo gegen Arbeit eine Unterkunft erhält – und sich ein fatales Beziehungsdreieck entspinnt. Karim Aïnouz’ Thrillerdrama besticht vor allem durch die flirrenden Bilder von Hélène Louvart, der Stammkamerafrau des »Futuro Beach«-Regisseurs: In jeder ihrer neonfarbenen Einstellungen spürt man förmlich die Schwüle des lasziven Settings sowie die Gewalt, die fast jeder Figur innewohnt. Leider kann der Plot da nicht mithalten, zu langsam kommt alles in Fahrt und zu wenig geschieht letzten Endes. Spannend wird es meist nur dann, wenn Fábio Assunção zu sehen ist, der als unberechenbarer Elias jede Szene an sich reißt. Peter Hoch

Frau aus Freiheit

Frau aus Freiheit

SWE/PL 2023, R: Michal Englert, Malgorzata Szumowska, D: Malgorzata Hajewska, Joanna Kulig, Mateusz Wieclawek, 132 min

Die ersten Jahre im Erwachsenenleben des Polen Andrzej verlaufen, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft als normal angesehen werden. Erste Liebe, Hochzeit, Geburt des ersten Kindes, biederer Bürojob. Doch auch in diesen Jahren gibt es erste Dissonanzen. Andrzej wird vom Militärdienst ausgeschlossen, weil seine Fußnägel lackiert sind. Er ist depressiv und hat Suizid-Gedanken. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, trägt er Frauenkleider. Michal Englert und Malgorzata Szumowska (»Im Namen des …«) beleuchten diese frühen Jahre im Leben ihres Protagonisten nur schlaglichtartig, quasi im Schnelldurchlauf. Denn hier handelt es sich noch nicht um Anielas normales Leben, hier verstellte sich die Transfrau noch, um im post-kommunistischen Polen nicht unter die Räder zu kommen. Die Handlung von »Frau aus Freiheit« wird ruhiger und intensiver, wenn Protagonistin Aniela zu ihrem wahren Selbst findet – und wenn die Umwelt beginnt, ihr Verstellung und plumpes Spiel vorzuwerfen. Transsexualität wird auch heute noch selbst in Deutschland kontrovers diskutiert, zu wenige Menschen dürften persönliche Kontakte haben, um mit ihren engstirnigen Ansichten zu brechen. In Polen ist die Lage noch viel dramatischer, hier müssen Betroffene absurderweise sogar vor Gericht ihre eigenen Eltern verklagen, um eine Geschlechtsanpassung vornehmen zu dürfen. Mit großer emotionaler Wucht hat das Regie-Duo hier einen mutigen Film zum Thema realisiert. Frank Brenner

Riefenstahl

Riefenstahl

D 2024, Dok, R: Andres Veiel, 116 min

Eine Frau und ein Mann tauschen sich über die Summen aus, die sie erhalten, wenn sie mit den Medien sprechen. Während sie von 10.000 spricht, nennt er einen dreistelligen Betrag. Es sind Leni Riefenstahl (1902–2003) und Albert Speer (1905–81), die hier in den siebziger Jahren telefonieren. Das aufgezeichnete Gespräch stammt aus dem 700 Kisten umfassenden Nachlass der Regisseurin und Fotografin, den die Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2018 erhielt. Sandra Maischberger und Andres Veiel (»Black Box BRD«, »Beuys«) durften als Erste darauf zugreifen. Maischberger, die als Produzentin agiert, beschäftigt sich schon länger mit Riefenstahl, interviewte sie 2002 in deren Haus am Starnberger See. Dieses Haus spielt im Film eine Hauptrolle. Glaswände öffnen es gen Garten und Natur. So durchlässig die Wände, so dunkel sind die Konstruktionen, mit denen Riefenstahl an ihrer eigenen Biografie arbeitet, um sie zu kontrollieren und zu dirigieren, wie sie es auch bei ihren Filmen und Fotoaufnahmen tat. Der sehr ruhige Film von Veiel arbeitet mit dem Nachlass, zeigt unveröffentlichtes Filmmaterial – etwa aus dem Dokumentarfilm »Die Macht der Bilder« von 1993 –, wie Riefenstahl entrüstet die Aufnahmen abbricht, wenn sie in Verbindung mit Hitler und dem Nationalsozialismus gebracht wird. »Riefenstahl« ist ein wichtiger Film, der am Beginn der Aufarbeitung ihres Nachlasses steht. Britt Schlehahn

Shambhala

Shambhala

NEP/F/N 2024, R: Min Bahadur Bham, D: Thinley Lhamo, Sonam Topden, Tenzing Dalha, 150 min

In einem abgelegenen Dorf hoch im Himalaya: Der Tradition folgend heiratet eine Frau drei Männer und zieht zu ihrem Haupt-Ehemann in dessen Dorf. Auch Pema ist dieser Tradition verpflichtet. Trotzdem ist sie allein, als sie feststellt, dass sie schwanger ist. Ihr Mann Tashi ist auf einer Handelsreise und seit Monaten nicht zurückgekehrt. Auch ihre beiden anderen Männer sind ihr kaum eine Hilfe – der eine ist noch ein Kind, der andere kümmert sich um Gesundheit und Wohlergehen des Rinpoche, Vorsteher eines nahe gelegenen buddhistischen Klosters. Neid und Missgunst beherrschen das Dorfleben, die Leute zerreißen sich das Maul, verdächtigen Pema des Ehebruchs und sprechen ihre Zweifel daran, dass Tashi wirklich der Vater des ungeborenen Kindes ist, offen aus. Pema ist eine resolute Frau, die das Schicksal in ihre eigenen Hände nimmt. Also macht sie sich auf die Suche nach Tashi. Ihre Reise führt durch das atemberaubende Panorama der 6.000 Meter hoch gelegenen nepalesischen Bergregion und wird für Pema auch eine Reise zu sich selbst. In langen Einstellungen drehte Min Bahadur Bham diese mitreißende Geschichte mit Laiendarstellerinnen und -darstellern an Originalschauplätzen. Dafür wurde »Shambhala« in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen – als erster Spielfilm aus Nepal. LARS TUNÇAY

Spirit in the Blood

Spirit in the Blood

D/CDN 2024, R: Carly May Borgstrom, D: Summer H. Howell, Sarah-Maxine Racicot, Michael Wittenborn, 98 min

Unendliche Wälder im Sommer, eine Gruppe Jugendlicher, ein Todesfall und eine sehr gläubige und eingeschworene Gemeinde – so durchaus bekannt startet »Spirit in the Blood«. Es handelt sich hierbei um das Regiedebüt der Kanadierin Carly May Borgstrom, die ihre ganz eigene Version von »Stand by me« liefert, eine deutlich mysteriösere. Vor allem spürt man, dass hier die weibliche Perspektive in den Vordergrund rückt. Die 15-jährige Emmerson zieht zu Beginn mit ihrer schwangeren Mutter und ihrem Vater zurück in dessen Heimatstädtchen, irgendwo in den kanadischen Wäldern. Dort findet sie zunächst keine Freundinnen, trifft aber recht bald auf eine andere Außenseiterin, Delilah. Nachdem die beiden vom Tod eines Mädchens erfahren und sich Emmerson im Wald ebenfalls verfolgt fühlt, nehmen die Ereignisse ihren Lauf. So gut die Grundidee auch klingt, so alt ist sie auch. Es folgen weitere Ideen und Handlungen, viele davon unfokussiert oder nicht konsequent zu Ende erzählt. Die Atmosphäre lässt ein wenig auf sich warten. Die Inszenierung bringt aber dann doch eine Szene hervor, die es mit Rob Reiners Klassiker aufnehmen kann. Und das eigentliche Finale trifft wieder einen sehr guten Punkt. So bleibt ein solides, aber nicht gänzlich überzeugendes Debüt, das vor allem beim Drehbuch noch Luft nach oben hätte. Aber Lust auf mehr macht. FLORIAN THIMM

Die Rückkehr des Filmvorführers

Die Rückkehr des Filmvorführers

F/D 2024, R: Orkhan Aghazadeh, D: Samid Idrisov, Ayaz Khaligov, 87 min

Im Jahr 1988 schuf Giuseppe Tornatore mit »Cinema Paradiso« seinen ganz persönlichen Liebesbrief an das Kino. Die Freundschaft eines alten Filmvorführers mit einem kleinen Jungen, unterlegt vom Soundtrack Ennio Morricones, wurde zum rührseligen Fest über die Magie der großen Leinwand. »Die Rückkehr des Filmvorführers« wirkt über weite Strecken, als hätte jemand Tornatores Geschichte in die reale Welt übertragen. Schauplatz ist ein kleines aserbaidschanisches Dorf. Protagonist der Filmvorführer Sami, der nach einem schweren Schicksalsschlag beschließt, wieder Kinofilme zu zeigen. Allerdings muss er dafür erst mal seinen alten Projektor in Gang bringen. Eine Herausforderung an einem Ort, wo allein die Beschaffung einer Glühbirne Monate dauern kann. Doch Sami bleibt beharrlich. In eindrucksvollen Bildern begleitet die Kamera ihn auf seinem Weg. Nebenbei ergeben sich wunderbar eingefangene Szenen. Drei alte Kinovorführer, die Filme nacherzählen. Sami und sein Enkel, die auf der Suche nach Empfang durch den Schnee irren. Eine Gruppe Frauen, die aus alten Fetzen eine Leinwand zusammennähen. »Die Rückkehr des Filmvorführers« schillert zwischen Dokumentation, Erzählkino, Trauerverarbeitung und märchenhaften Elementen. Er zeigt traumhafte Landschaften. Doch am Ende bleibt die Botschaft dieselbe, wie einst bei Tornatore. Auch nach über hundert Jahren strahlt das Kino weiter. Und manchmal, so wie hier, ganz besonders hell. JOSEF BRAUN

The Room Next Door

The Room Next Door

E/USA 2024, R: Pedro Almodóvar, D: Julianne Moore, Tilda Swinton, Tom Johnson, 110 min

Jahre ist es her, dass sich die Freundinnen Ingrid und Martha zuletzt trafen. Der nahende Tod bringt sie wieder zusammen. Martha ist an Gebärmutterhalskrebs erkrankt und liegt im Sterben. So sitzt Ingrid an ihrem Bett und hilft ihr durch Schmerz und Verzweiflung. Die beiden Frauen reden über das angespannte Verhältnis zwischen Martha und ihrer Tochter, über ihre Beziehung zu dem Universitätsprofessor Damian, die die beiden Frauen verband. Da überrascht Martha ihre Freundin mit einer unerwarteten Bitte: Sie, die in Kriegsgebieten mehrfach dem Tod ins Auge blickte, möchte ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Dafür sich aus dem Darknet eine Pille organisiert. Sie mietet ein luxuriöses Anwesen inmitten der Natur und bittet Ingrid, sie zu begleiten. Obwohl sie selbst gerade ein Buch über ihre Angst vor dem Tod veröffentlicht hat, willigt Ingrid ein, ihrer besten Freundin beizustehen. Für seinen ersten englischsprachigen Spielfilm hat sich Altmeister Pedro Almodóvar einen Roman von Sigrid Nunez ausgesucht. Die Adaption ist deutlich, in langen Dialogen tauschen sich die Protagonistinnen über den Tod und das Leben aus. Dass dieses Zweipersonenstück trotzdem einen Sog entfaltet, liegt an den beiden Hauptdarstellerinnen: Julianne Moore und Tilda Swinton verkörpern die Freundschaft, die Hoffnungen und Zweifel überzeugend. Almodóvars wie immer stilsichere Ausstattung und die Musik von Alberto Iglesias fügen die unverwechselbare Handschrift des Meisters hinzu. LARS TUNÇAY

Cranko

Cranko

D 2024, R: Joachim Lang, D: Sam Riley, Max Schimmelpfennig, Hanns Zischler, 128 min

Erst im Juli war Joachim A. Langs »Führer und Verführer« in den Kinos zu sehen. Nach dem Dokudrama über NS-Propagandaminister Joseph Goebbels legt der Regisseur nun ein ebenso ungewöhnliches Projekt über eine gänzlich andere, diesmal kulturhistorische und deutlich erfreulichere Persönlichkeit vor: John Cranko leitete in den 1960er Jahren das Stuttgarter Ballett und ließ es zu einer der bedeutendsten Kompanien der Welt avancieren, bevor er 1973 zu früh verstarb. Langs Film ist dabei ebenso Biografie wie ein Werk, das die Essenz dessen, was Tanztheater ausmacht, filmisch erlebbar machen will. Das äußert sich in Szenen, in denen Ausschnitte aus Crankos Leben von seinen Choreografien durchbrochen werden, und mündet in einem Finale, in dem die noch lebenden damaligen Tänzerinnen und Tänzer gemeinsam mit ihren Filmpendants – den aktuellen Mitgliedern des Stuttgarter Balletts – Rosen vor dem Grab Crankos ablegen. Dessen Freundlichkeit, Leidenschaft und Perfektionismus, aber auch seine Suche nach Liebe macht Langs kunstbeflissene Inszenierung tatsächlich in ihren besten Momenten erfahrbar. Ein grundsätzliches Interesse an Ballett sollte das Publikum allerdings mitbringen, sonst werden einige Passagen zur zähen Angelegenheit. Cranko wird übrigens oscarreif von Sam Riley verkörpert, dem 2007 mit Anton Corbijns »Control« über Ian Curtis und dessen Band Joy Division der Karrieredurchbruch gelang und der am 6.10. zu Gast ist in den Passage-Kinos. Peter Hoch

Dahomey

Dahomey

F/SEN/BEN 2024, Dok, R: Mati Diop, 68 min

Eine Statue erzählt von ihrer Reise von Paris nach Cotonou. Was klingt wie der Plot für einen experimentellen Film, ist in Wahrheit der Auftakt zu Mati Diops grandiosem Dokumentarfilm »Dahomey«, der in diesem Jahr den Goldenen Bären gewann. Nur knapp über eine Stunde braucht die französische Regisseurin, um weite Teile der Restitutionsdebatte in filmische Bilder zu übersetzen. Darin geht es um die Frage, wie mit in der Kolonialzeit geraubter Kunst aus Afrika umzugehen sei. Konkret beleuchtet »Dahomey« den Fall von sechsundzwanzig Artefakten, die Frankreich im Jahr 2021 an das heutige Benin zurückgab – darunter ein Thron, eine kostbare Grabbeigabe und mehrere Statuen. Die Kamera begleitet diese Gegenstände auf ihrer Reise. Sie ist dabei, wenn die Artefakte professionell verpackt und anschließend nachts in ein Flugzeug verladen werden. Dazwischen wird die Leinwand immer wieder schwarz. Die Statuen sprechen in der vergangenen Sprache des Königreichs Dahomey, Vorläufer des heutigen Benin. Mithilfe erzählerischer Kniffe gelingt es Diop, den Fokus zu verschieben. Weg von Europa, hin zur Herkunftskultur der Artefakte. Konsequent taucht denn auch der französische Präsident nur einmal als Foto unter einer Schlagzeile auf. Lieber begleitet Diop studentische Diskussionen in Benin oder sieht sich zwischen Museumsbesucherinnen und -besuchern um, die ehrfürchtig das Werk ihrer Vorfahren bestaunen. Ganz nebenbei macht sie so deutlich, was die Rückgabe gestohlener Kunst im Selbstverständnis eines Landes bewirken kann. JOSEF BRAUN

Hagen ‒ Im Tal der Nibelungen

Hagen ‒ Im Tal der Nibelungen

D 2024, R: Cyrill Boss, Philipp Stennert, D: Gijs Naber, Jannis Niewöhner, Dominic Marcus Singer, 135 min

Wenn Fantasy aus Deutschland auf die große Leinwand kommt, dann ist das entweder für Kinder und Jugendliche oder komplettes Nischenprogramm. Daher ist die Spannung groß, was Cyrill Boss und Philipp Stennert aus dem Genre herausholen. Bei »Hagen – Im Tal der Nibelungen« handelt es sich endlich mal wieder um klassische Schwert- und Zauberer-Fantasy für Erwachsene aus deutscher Produktion. Dabei verfilmten sie keinen klassischen Stoff, sondern Wolfgang Hohlbeins Adaption des Nibelungenlieds. Wie der Name vermuten lässt, folgt der Film Hagen von Tronje, dem Waffenmeister der Burgunder. Hagen wird hier nicht als rein finstere Gestalt dargestellt, sondern als durchaus ambivalente Hauptfigur. Sein Gegenpart Siegfried – normalerweise strahlender Held – ist hier ein überheblicher und selbstverliebter junger Recke, hervorragend mit Jannis Niewöhner besetzt. Allgemein haben wir es mit einer überraschend gelungenen Umsetzung zu tun. Überzeugende Sets und Kostüme und eine große Anzahl an Statisten und Statistinnen sorgt für solide Schlachten, auch wenn diese weit entfernt sind von der Spitze des Genres. Verstecken muss sich der Film damit trotzdem nicht. Durch das Aufstellen der Figuren in der ersten Filmhälfte und die daraus resultierende zweite Hälfte hat der Film ein unrundes Pacing, was sich hoffentlich in der fürs Streaming geplanten erweiterten Fassung bessern wird. Alles in allem aber ein sehenswerter deutscher Fantasyfilm, der Lust auf mehr macht. FLORIAN THIMM

Megalopolis

Megalopolis

USA 2024, R: Francis Ford Coppola, D: Adam Driver, Giancarlo Esposito, Nathalie Emmanuel, 138 min

Wahn und Obsession ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk von Francis Ford Coppola. Demnach sollte »Megalopolis«, dem Coppola nahezu seine gesamte zweite Lebenshälfte opferte, wohl in jeder Hinsicht sein Opus magnum werden – und ist es in gewisser Hinsicht auch geworden. Cesar Catilina, den Adam Driver als enigmatischen Einzelgänger verkörpert, ist ein Getriebener. Seine Vision, die Metropole New Rome im Licht der Zukunft erstrahlen zu lassen, ist sein einziger Antrieb, das Megalon, eine von ihm entwickelte, revolutionäre Baufaser, sein Werkzeug. Doch der Widerstand ist groß. Bürgermeister Cicero hat sich den Visionär als Erzfeind erkoren und der Geist seiner verstorbenen Frau lässt Cesar nicht los. Unterdessen heiratet der betagte, aber immer noch einflussreiche Patriarch Hamilton Crassus III die machtgierige Wow Platinum, die ebenso wie Cesars Cousin Clodio Pulcher einen Plot zur Machtübernahme schmiedet. So weit also ein Intrigantenstadel, wie er aus den Überlieferungen des alten Rom stammen könnte. Coppolas Version ist all das und viel zu viel mehr. Seine Vision versinkt in endlosen Monologen und computergenerierten Effekten. Es ist, als hätte Coppola angesichts des letzten Vorhangs alles in einen Topf geworfen und zentimeterdick auf die Leinwand gekleistert. Was dabei herausgekommen ist, ist alles andere als gut, hat aber zumindest eine gewisse Faszination, auch wenn es die des Scheiterns einer Regielegende ist. Lars TUNÇAY

Memory

Memory

USA 2023, R: Michel Franco, D: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber, 100 min

Sylvia fühlt sich unwohl. Das ist ihr ins Gesicht geschrieben. Das Verhältnis der alleinerziehenden Mutter zu ihrer Teenagertochter ist schwierig. Sylvias Ängste stehen ihr im Weg. Ihren Alltag in einer Pflegeeinrichtung vollzieht sie mit stumpfer Routine. Als sie zu einem Highschool-Jahrgangstreffen eingeladen wird, sitzt sie teilnahmslos am Tisch. Bis sich Saul zu ihr setzt und ihr nicht mehr von der Seite weicht. Er folgt ihr nach Hause, übernachtet vor ihrer Tür. Saul ist allerdings kein aufdringlicher Stalker. Er leidet an Demenz. Zwischen den beiden entsteht eine fragile Beziehung, die Regisseur Michel Franco in seinem Drehbuch mit vielen Fallstricken versieht. Je mehr wir über die beiden Figuren und ihre Vergangenheit erfahren, desto komplexer wird die Geschichte. Traumabewältigung, Krankheit, Drogensucht – der mexikanische Regisseur von so außergewöhnlichen Filmen wie »Sundown« und »New Order« macht es seinen Figuren ebenso wenig leicht wie dem Publikum. Dass der Film nicht in überdramatischen Kitsch abgleitet, ist seinen Darstellenden zu verdanken: Jessica Chastain verkörpert Sylvias vielschichtigen Charakter absolut überzeugend. Peter Sarsgaard verleiht Saul Güte, aber auch Ambivalenz in Sylvias Augen. Beide glänzen durch Zurückhaltung, geben ihren Figuren und dem Gegenüber Raum. Ein eindringliches, aufrichtiges Drama mit herausragenden Schauspielleistungen. Lars TUNÇAY

In Liebe, Eure Hilde

In Liebe, Eure Hilde

D 2024, R: Andreas Dresen, D: Liv Lisa Fries, Johannes Hegemann, Lisa Wagner, 124 min

Hilde Coppi ist hochschwanger, als sie während des Zweiten Weltkriegs verhaftet wird. Ihr und ihrem Mann Hans wirft die nationalsozialistische Regierung »Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen« vor. Funksprüche deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion hatte das Paar abgefangen und deren Angehörige informiert, dass ihre Lieben noch am Leben sind. In der Haft bringt Hilde ihren Sohn zur Welt, aber sie ahnt bereits, dass sie ihn nicht wird aufwachsen sehen. Andreas Dresen (zuletzt: »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush«) hat in seinem neuen Film »In Liebe, Eure Hilde«, der im Wettbewerbsprogramm der diesjährigen Berlinale uraufgeführt wurde, die Geschichte der später »Die Rote Kapelle« genannten Widerstandsgruppe aufgegriffen und diese nun überwiegend aus der Perspektive Hilde Coppis geschildert. In Dresens spartanischer Inszenierung gibt es weder eine musikalische Untermalung noch Einblendungen. Es wird immer wieder in der Chronologie hin- und hergesprungen, um nach der Verhaftung auszubreiten, wie sich die Coppis kennenlernten und wie sie sich gegen das NS-Regime aufgelehnt haben. Diese Rückblenden gönnen dem Publikum die nötigen Pausen vom bedrückenden und immer aussichtsloser werdenden Gefängnisalltag – man kann verschnaufen und sich emotional wieder sammeln. Dresen ist ein berührendes Widerstandsdrama mit exzellenten Darstellerleistungen gelungen. Frank Brenner

Architecton

Architecton

D/F 2023, Dok, R: Victor Kossakovsky, 98 min

Der vielfach ausgezeichnete Regisseur Victor Kossakovsky (»¡Vivan las Antipodas!«) beweist mit seinem neuen Dokumentarfilm »Architecton«, dass die industrielle Bauweise – wie der gesamte postindustrialisierte Lebenswandel – unerfüllt bleibt, weil etwas Wesentliches verloren geht: die Langsamkeit. Dies jedoch mit dem Vorschlaghammer zu demonstrieren, bricht »Architecton« beinahe das Genick. Die Episoden mit Architekt Michele De Lucchi, in denen gezeigt wird, wie der Padrone in seinem Garten unter fachkundigen Kommandos einen Steinkreis anlegen lässt, nachdem er lebenslang Hochhäuser in den Himmel hat schießen lassen, haben einiges an Schauwert und versteckter Komik. Die langen Slow-Motion-Episoden, in denen gezeigt wird, wie Zement abgesprengt und verarbeitet wird, wirken zunächst noch visuell überwältigend, erweisen sich aber mit zunehmender Länge des Films als Geduldsprobe. Zwar spielt »Architecton« überwiegend in Zementwerken, aber die Kritik an einer industriellen, schnellen Bauweise wirkt eher verkalkt. Regisseur Victor Kossakovsky ist nicht der Erste, der uns daran erinnern will, zurück zur Natur zu finden. Im Kino zu erleben, dass man in einer unnatürlichen Welt lebt, ist ironisch. Die Schwarz-Weiß-Episoden bieten indes einiges an ästhetischem Erlebnis, weil sie einen Gefühlszustand verdeutlichen und keine Botschaft darüber hinaus vermitteln wollen, die man schon zu oft gehört hat. Daniel Emmerling

Was ist schon normal?

Was ist schon normal?

F 2024, R: Artus, D: Artus, Clovis Cornillac, Alice Belaïdi, 99 min

Paulo und sein Vater überfallen eine Bank. Ihr Fluchtplan ist nicht gerade durchdacht, also tauchen sie kurzerhand in einer Reisegruppe Behinderter unter und verbringen die folgenden Wochen in ihrer Mitte. Zugegeben, die reißbrettartige Ausgangssituation verspricht nichts Gutes und könnte zu jeder zweiten französischen Klamotte passen. Der temporeiche Auftakt legt aber nur die Basis für eine warmherzige, etwas zotige Komödie, mit der Regisseur, Autor und Hauptdarsteller Artus in seiner Heimat Frankreich einen Riesenhit landete. Die individuellen Marotten und Eigenheiten der Mitreisenden sorgen dabei für einen großen Teil der Lacher, wobei die Klischees, mit denen Behinderte üblicherweise dargestellt werden, hier liebenswert und mit großer Freude zerlegt werden. Zumindest wirkt es so, als hätten die Laienschauspielerinnen und -schauspieler den meisten Spaß gehabt am Dreh. Der Komiker Artus – in seiner Heimat ein Stand-up-Star – spielt zurückhaltend, sein Leinwandpartner Clovis Cornillac (»Asterix bei den Olympischen Spielen«) legt als verantwortungsloser Vater eine durchaus überzeugende Charakterentwicklung hin und Alice Belaïdi wirkt als Betreuerin herrlich natürlich. Sicher, sonderlich viel Tiefgang sollte man nicht erwarten. Aber »Was ist schon normal?« ist eine rundum gelungene Sommerkomödie, bei der man befreit ablachen kann. Lars Tunçay

Treasure. Familie ist ein fremdes Land

Treasure. Familie ist ein fremdes Land

D/F 2024, R: Julia von Heinz, D: Lena Dunham, Stephen Fry, Zbigniew Zamachowski, 101 min

Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter entschließt sich Ruth 1991, mit ihrem polnisch-stämmigen Vater Edek in dessen Geburtsland zu reisen und auch dem ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz einen Besuch abzustatten, in dem Ruths Großeltern ums Leben kamen. Die gemeinsame Reise soll helfen, die Distanz zwischen Vater und Tochter zu überwinden. Doch im tristen und heruntergekommen Ostblockstaat kurz nach der Wende treten die unterschiedlichen Temperamente und Einstellungen der beiden immer wieder deutlich hervor. Julia von Heinz (»Und morgen die ganze Welt«) ist in ihrem ersten englischsprachigen Film dem Thema Faschismus treu geblieben und beleuchtet diesen nun aus einem historischen Blickwinkel. Doch anders als die meisten ähnlich gelagerten Filme ist »Treasure« über weite Strecken sehr humorvoll angelegt. Das liegt an Lily Bretts autobiografischer Romanvorlage »Too many Men«, in der sich diese ebenfalls mit viel Witz dem damaligen Trip mit ihrem Vater angenommen hat. Auch die Besetzung der beiden zentralen Figuren mit Lena Dunham (»Girls«) und Stephen Fry (»Everything Now«) trägt dazu bei, dass man bei den Kabbeleien zwischen Vater und Tochter aus dem Schmunzeln nicht herauskommt. Trotzdem wird es an den richtigen Stellen ernst, und auch in diesen Momenten erweist sich die Besetzung als goldrichtig. Frank Brenner

The Substance

The Substance

F/GB/USA 2024, R: Coralie Fargeat, D: Demi Moore, Margaret Qualley, Dennis Quaid, 140 min

Für Elisabeth Sparkle ist ihre Schönheit Kapital. Doch nicht nur ihr Stern auf dem Walk of Fame ist längst von Taubendreck verdeckt. Auch das Licht ihrer Aerobic-Show im TV droht auszugehen. Senderchef Harvey will sie durch eine jüngere Version ersetzen und verschafft ihr einen unrühmlichen Abgang. In ihrem Stolz gekränkt, beschließt Elisabeth, eine neue Droge vom Schwarzmarkt auszuprobieren. Sie spritzt sich eine zellreplizierende Substanz, die vorübergehend eine jüngere, bessere Version ihrer selbst erschafft. Das Ergebnis ist verblüffend und Sue der neue Fernsehstar. Doch der Geist, den Elisabeth rief, will nicht ohne Weiteres wieder in die Flasche. Die clevere Satire auf den allgegenwärtigen Schönheitswahn erhielt den Preis fürs beste Drehbuch beim Filmfestival in Cannes und reiht sich damit gleich hinter den Gewinner der Goldenen Palme vor drei Jahren ein, Julia Ducournaus Body-Horror-Meisterstück »Titane«. Auch Coralie Fargeats »The Substance« ist drastisches Genrekino aus weiblicher Perspektive, ein Mittelfinger gegenüber der misogynen Welt des Showbiz. Ein grellbunter Horrortrip ins Reich der Angst vor dem Verblassen. Gekrönt wird das vielschichtige Drehbuch von der entfesselten Darstellung Demi Moores, die hier gleichermaßen körperlich wie emotional bereit ist, bis an die Grenzen zu gehen – und darüber hinaus. Lars Tunçay

Schirkoa: In Lies We Trust

Schirkoa: In Lies We Trust

IND/F/D 2024, R: Ishan Shukla, 103 min

Vor acht Jahren schuf Ishan Shukla einen 14-minütigen Kurzfilm, der als erster indischer Animationsfilm für den Oscar nominiert wurde und zahlreiche Preise auf Festivals rund um die Welt gewann. Darin ging es um einen melancholischen Mitarbeiter der Regierung, der zwischen Diensterfüllung und einer mysteriösen Rebellin hin- und hergerissen ist. Reizvoll war schon damals die Welt, die Shukla entwarf: eine diktatorische Dystopie, in der die Menschen angehalten sind, eine Papiertüte über dem Gesicht zu tragen, um sich vor einer seltsamen Anomalie zu schützen, die ihnen Hörner und Flügel wachsen lässt. Aus dem Kurzfilm wurde nun in jahrelanger Arbeit mit der Animationssoftware Maya ein Spielfilm, der die Stärke des Erstlings herauskehrt und die durchdachte Welt weiterdenkt. Der Hauptcharakter 197A durchschaut die dunklen Machenschaften der Strippenzieher, macht eine Metamorphose durch und befreit sich von den Fesseln. Dabei reflektiert die Geschichte religiöse Konzepte und dreht im letzten Akt ganz schön durch. » Schirkoa: In Lies We Trust « ist voller Ideen, von denen nicht alle aufgehen, die aber reizvoll genug sind, bis zum Ende dabei zu bleiben, auch wenn die Figuren mehr Tiefe verdient hätten. Die fehlenden Emotionen in der Mimik macht die Produktion mit namhaften Stimmen von Golshifteh Farahani, Asia Argento oder Gaspar Noé wett. Lars Tunçay