anzeige
anzeige

Rezensionen

Vena

Vena

D 2024, R: Chiara Fleischhacker, D: Emma Nova, Paul Wollin, Friederike Becht, 115 min

Eigentlich will Jenny nur ein ganz normales Leben führen. Die junge Mutter, die mit ihrem Freund Bolle in einer Plattenbau-Wohnung lebt, ist wieder schwanger. In welchem Monat, weiß sie nicht, jeder Arztbesuch ist durch ihre Drogensucht mit Vorwürfen und Scham behaftet. Und so versuchen Bolle und sie, allein klarzukommen. Ihr erstes Kind lebt nicht bei Jenny, und als ein Brief ankommt, dass sie bald ihre Haftstrafe in der JVA antreten muss, hat sie auch nicht viel Hoffnung für einen Neustart mit dem Baby. Erst als sie Hebamme Marla kennenlernt, weiß Jenny, dass es an ihr selbst liegt, die Prioritäten für ihr weiteres Leben zu setzen. In dokumentarisch anmutendem Stil begleitet der Film die Entwicklung seiner Figuren, mit der Kamera immer ganz nah bei ihnen, und schafft es auf beeindruckende Weise, sich von jeglichen Klischees und Erwartungshaltungen fernzuhalten. Nicht zuletzt ist das dem großartigen Ensemble zu verdanken – allen voran Hauptdarstellerin Emma Nova, die Jenny zwischen Glitzer, lila Lidschatten und großen Flauschdecken nicht in die Kindlichkeit abrutschen lässt, sondern sie als Erwachsene ernst nimmt. Auch die Geburtsszene ist erfrischend nah an der Realität. Chiara Fleischhacker ist nicht nur Drehbuchautorin, »Vena« ist auch ihr Regiedebüt. Schon vor Kinostart ist sie dafür mehrfach ausgezeichnet worden – unter anderem mit dem First Steps Award. Hanne Biermann

Über uns von uns

Über uns von uns

D 2024, Dok, R: Rand Beiruty, 92 min

Das Heranwachsen junger Mädchen dokumentierte Bettina Blümner vor rund zwanzig Jahren mit »Prinzessinnenbad«, begleitete sie in den entscheidenden Jahren mit der Kamera beim Lieben und Leben und fing ihre Träume und Wünsche ein, um sie am Ende mit der Realität abzugleichen. Die aus Jordanien stammende Filmemacherin Rand Beiruty geht nun einen ähnlichen Weg. Allerdings begleitete sie mit der Kamera über drei Jahre hinweg sieben selbstbewusste junge Frauen mit Fluchterfahrung. Sie wachsen in Eberswalde zwischen zwei Kulturen auf und suchen ihren Platz in einer deutschen Gesellschaft, die ihnen wenig Raum bietet. Hier treffen die Träume und Wünsche auf die harte Realität in der ostdeutschen Provinz. Polizistin mit Migrationshintergrund? Keine Chance. Ärztin ohne Hochschulabschluss? Lieber in die Altenpflege, da fehlen Arbeitskräfte. Rand Beiruty begreift ihre Protagonistinnen als Mitwirkende. In kreativen Runden mit der Regisseurin und Sozialarbeiterinnen schreiben und spielen die Mädchen ihren Alltag durch. Dabei geht es um Rassismuserfahrungen und den Umgang mit Traditionen in der Familie. Mit genauem Blick und viel Verständnis zeigt der gut beobachtete Dokumentarfilm »Über uns von uns«, welches Potenzial in ihnen und in dem kulturellen Austausch steckt, wenn sich denn die Möglichkeit hierzu eröffnet. LARS TUNÇAY

Emilia Pérez

Emilia Pérez

F/MEX/USA 2024, R: Jacques Audiard, D: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, 130 min

Emotional wuchtig ist das Kino des Franzosen Jacques Audiard. Filme wie »Ein Prophet« oder »Der Geschmack von Rost und Knochen« wurden in Cannes gefeiert und mit europäischen Filmpreisen überhäuft. Mit »Emilia Pérez« wagt er nun gleich in mehrfacher Hinsicht Neues: Er siedelte seinen Film in Mexiko an, drehte ihn komplett in Spanisch – und als Musical. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Anwältin Rita. Frustriert hat die sich der Realität ihrer Heimat untergeordnet, in der die Einflussreichen freigesprochen werden und die Mittellosen leiden. Die Kriminalität beherrscht alles. Da tritt der gefürchtete Kartellboss Juan Del Monte – besser bekannt als Manita – auf sie zu. Er möchte sich aus seinem Geschäft zurückziehen und für immer verschwinden – und ein Leben als Frau leben, so, wie es schon immer seine Bestimmung war. Begegnet man Manita zum ersten Mal im Halbdunkel, mit den chromglänzenden Zähnen und den Tattoos im Gesicht, hält man das vielleicht für einen schlechten Scherz. Wenn er jedoch mit brüchiger Stimme von seinem Traum zu singen beginnt, kriecht eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Der Einsatz der Songs in der weiten, sich über zwei Stunden erstreckenden Geschichte ist organisch und dient, wie so oft im Musical, dem inneren Monolog. Die Musik hat dabei vielleicht nicht das Ohrwurmpotenzial eines Lin-Manuel Miranda. »Emilia Pérez« glänzt dafür mit einer grandiosen Inszenierung, einer mitreißenden Geschichte und fantastischen Darstellerinnen und Darstellern. LARS TUNÇAY

The Outrun

The Outrun

GB/D/E 2024, R: Nora Fingscheidt, D: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, 118 min

Mit »Systemsprenger« legte Regisseurin Nora Fingscheidt vor fünf Jahren einen bemerkenswerten zweiten Spielfilm vor, der vielfach Preise gewann und auch international Beachtung fand. Danach entstand »The Unforgivable«, ein Rachedrama für Netflix mit Sandra Bullock und ihr erster englischsprachiger Film. Nun hat sie Saoirse Ronan für die Verfilmung von Amy Liptrots autobiographischem Roman »The Outrun« ins Boot geholt. Die Irin spielt Rona, die ursprünglich von den schottischen Orkney Inseln stammt und das Londoner Nachtleben in vollen Zügen genießt. Als ihr Alkoholkonsum für ihren Freund Daynin zunehmend zum Beziehungskiller und für Rona zu einem ausgewachsenen Suchtproblem wird, sucht sie sich Hilfe. Zunächst bei einer Suchtberatung, dann bei ihren Eltern auf der heimatlichen Insel. Die Distanz zu ihrem alten Leben schmerzt und ihre Vorbelastung macht schnell die Runde. Also sucht Rona die Abgeschiedenheit, um alleine wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Hauptdarstellerin Saoirse Ronan (»Abbitte«) ist die Vorlage und ihre Protagonistin ein Anliegen. Das merkt man an ihrem Einsatz für den Film vor und hinter der Kamera. Mit ihrem Freund Jack Lowden (»Dunkirk«) gründete sie sogar eine eigene Produktionsfirma, um den Stoff zu realisieren. Gemeinsam mit den »Systemsprenger«-Produzenten Jakob und Jonas Weydemann drehten sie zwei Monate auf den Inseln, wo sie auf viele liebenswerte Charaktere trafen, die ihren Weg in den Film fanden. Das macht den Charme des berührend erzählten Suchtdramas aus. LARS TUNÇAY

Der Spatz im Kamin

Der Spatz im Kamin

CH 2024, R: Ramon Zürcher, D: Maren Eggert, Britta Hammelstein, Luise Heyer, 117 min

Mit nur zwei Spielfilmen positionierten sich die Schweizer Zwillinge Roman und Silvan Zürcher als zwei der interessantesten Filmemacher Europas. Ihre Familienaufstellung »Das merkwürdige Kätzchen« sorgte vor elf Jahren bei der Berlinale für Aufsehen. Der Nachfolger »Das Mädchen und die Spinne« gewann dort 2021 den Preis der internationalen Filmkritik. Mit »Der Spatz im Kamin«, den Ramon erstmals allein inszenierte und Silvan produzierte, schließt sich nun die Trilogie der Tiere. Wobei die drei Filme eigentlich inhaltlich nicht zusammenhängen. Was ihnen gemein ist, ist das genaue Beobachten familiärer Dynamiken und menschlicher Verhaltensweisen. Unbeteiligt geht die Kamera dabei stets auf Distanz und ist den Emotionen dank der durchweg bemerkenswerten Schauspielerinnen und Schauspieler doch ganz nah. Auch bei dem Familientreffen von Karen und Jule. Die Schwestern verbindet eine traumatische Kindheit unter der dominanten Mutter. Während Jule frisch verliebt und gerade Mutter geworden ist, hat Karen nicht nur das Haus ihrer Kindheit geerbt, sondern auch viel von der eigenen Mutter, die ihre Familie tyrannisierte. Ihr passiv-aggressives Verhalten und die unausgesprochenen Geheimnisse, die unter der Oberfläche brodeln sorgen für ein verbales Blutvergießen mit messerscharfen Dialogen. LARS TUNÇAY

Eine Erklärung für Alles

Eine Erklärung für Alles

HUN/SK 2023, R: Gábor Reisz, D: Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák, András Rusznák, 151 min

Am Montag verliebt sich Abel. Dabei müsste der Gymnasiast eigentlich für die Abiturprüfung lernen. Aber der Stoff will nicht hinein in seinen Kopf. Nicht, dass sich Abel großartig anstrengen würde. Er ist jung und hängt lieber mit seinen Freunden in seiner Heimatstadt Budapest ab. Vor allem mit Janka. Denn in sie ist er heimlich verliebt. Gegenseitig stützen sie sich in den Vorbereitungen für die mündliche Prüfung. Doch während Janka mit wehenden Fahnen besteht, bekommt Abel keinen Ton heraus. Um sein Versagen vor seinem Vater zu kaschieren, gibt er vor, sein Geschichtslehrer habe ihn ohnehin auf dem Kieker und er sei nur durchgefallen, weil er während der Prüfung einen Anstecker in den Farben der ungarischen Flagge trug. Die unbedacht ausgesprochene Lüge entwickelt sich alsbald zum nationalen Skandal, als eine junge Journalistin auf die Geschichte aufmerksam wird. Pointiert und clever konstruiert Gábor Reisz seine satirische Komödie. Er zeigt die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven und zeichnet damit ein vielfältiges Bild der (Selbst)Wahrnehmung. In einem Ungarn unter der Regierung Viktor Orbáns erhitzen sich die Gemüter in Windeseile. Das Land ist geteilt in Lager und die bestimmen die Meinungen. Jeder wähnt sich im Recht und bald geht es nicht mehr um die eigentliche Sache. Der Autor und Regisseur zeigt eine Gesellschaft im Brennglas, in der das Politische ins Private hinein reicht. Damit bringt er die Polarisierung, die derzeit auch unsere Gesellschaft bestimmt, auf den Punkt. LARS TUNÇAY

Baldiga – Entsichertes Herz

Baldiga – Entsichertes Herz

D 2024, Dok, R: Markus Stein, 92 min

Berlin ist heute ein Schmelztiegel der Künstler aus aller Welt, die hier zu sich selbst finden und sich verwirklichen wollen. Das war auch schon Ende der 1970er Jahre der Fall, als der Essener Arbeitersohn Jürgen Baldiga (1959-1993) dort sein Eldorado fand. Erst in Berlin konnte er der Spießigkeit seines Elternhauses entgehen und zu seiner Homosexualität stehen. Er wollte auf jeden Fall auffallen, und damit war er seinerzeit in Berlin nicht der Einzige. Nachdem er zunächst als Stricher sein Geld verdiente, kam er rasch mit der Künstlerszene in Kontakt und wurde zur Muse des Malers Salomé. Danach entdeckte Baldiga sein eigenes Talent als Fotograf stimmungsvoller Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen er sein persönliches Umfeld, die Subkultur der zweigeteilten Stadt, festhielt. Nach »Unter Männern – Schwul in der DDR« haben sich Markus Stein und der Leipziger Autor Ringo Rösener mit »Baldiga – Entsichertes Herz« erneut der queeren deutschen Vergangenheit gewidmet. Dank umfangreicher Tagebuchaufzeichnungen Baldigas und dessen ungewöhnlicher Arbeiten lassen die beiden dessen Œuvre und Charakter eindrucksvoll wieder zum Leben erwachen. Ergänzt durch aktuelle Interviews von Weggefährtinnen und historischen Super-8- und Videoaufnahmen zeichnen sie dabei nicht nur ein spannendes, viel zu kurzes Künstlerleben nach, sondern rekonstruieren auch das queere Lebensgefühl jener Zeit. Frank Brenner

All We Imagine as Light

All We Imagine as Light

Mumbai. Mehr als 28 Millionen Einwohner leben im Einzugsgebiet der indischen Metropole. Ein beispielloser Ameisenhaufen, in dem Autorin und Regisseurin Payal Kapadia ihren sanften Film ansiedelte. Die Kamera streift durch die Straßen, zeigt die Menschen, die hier ihr Glück versuchen und im Off ihr Schicksal schildern. Bis die Linse auf dem Gesicht von Prabha verweilt. Sie arbeitet als Krankenschwester, pendelt täglich heim zu der kleinen Wohnung, die sie mit ihrer Arbeitskollegin Anu bewohnt. Als ein Paket von ihrem im Ausland lebenden Ehemann ankommt, wirft das Prabhas Leben aus der Bahn. Anu versucht derweil einen Ort zu finden, an dem sie mit Shiaz allein sein kann. Das Problem: Er ist Moslem und sie Hindu. In ruhigen, poetischen Bildern erzählt Kapadia ihre Geschichte konsequent aus weiblicher Perspektive. Sie schildert, wie schwer es im Kastensystem der indischen Gesellschaft ist, sich zu verlieben und glücklich zu werden. Die flirrenden, poetischen Bilder von Kameramann Ranabir Das geben dem Film etwas traumgleiches. Die ruhige Grundstimmung steht im Kontrast zur quirligen Metropole und dem überbordenden Bollywood-Kitsch. Als erste indische Regisseurin erhielt Payal Kapadia eine Einladung in den Wettbewerb beim Filmfestival in Cannes. Dort wurde das berührende Werk mit dem zweitwichtigsten Preis geehrt, dem Großen Preis der Jury. LARS TUNÇAY

Konklave

Konklave

USA/GB 2024, R: Edward Berger, D: Ralph Fiennes, Stanley Tucci, John Lithgow, 120 min

Als der Papst relativ unvermittelt verstirbt, kommt auf Dekan Lawrence eine schwierige Aufgabe zu. Ein Konklave soll abgehalten werden, bei dem über 100 Kardinäle aus aller Welt möglichst rasch einen Nachfolger für das Amt des Heiligen Vaters wählen sollen. Lawrence muss das Konklave in seiner Funktion als Dekan leiten. Er selbst ist wie einige seiner Kollegen liberal eingestellt, doch der aussichtsreichste Kandidat dieser Fraktion möchte eigentlich gar nicht kandidieren. Bei den Konservativen hat ein italienischer Kardinal die größten Chancen, aber seine Wahl würde die Reformen des alten Papstes wieder um Jahrzehnte zurückdrehen. Hinter den Kulissen beginnt ein harter Wettkampf um die Stimmen, bei dem auch unlautere Mittel zum Einsatz kommen. Nach seinem oscarprämierten Drama »Im Westen nichts Neues« hat Edward Berger mit »Konklave« den gleichnamigen Bestseller von Robert Harris aus dem Jahr 2016 für die Leinwand adaptiert. Man merkt seinem Film bereits in den ersten Einstellungen an, dass er mit größter Sorgfalt gestaltet und viel Wert auf Authentizität gesetzt wurde. Der in sämtlichen zentralen Rollen mit wunderbaren Darstellern – Ralph Fiennes, Stanley Tucci, Isabella Rossellini u. a. – besetzte Film versteht es, auch Zuschauerinnen und Zuschauer ohne allzu großes Interesse an der Institution Kirche in seinen Bann zu schlagen, da er von Berger überaus spannend in Szene gesetzt wurde. Wer die Romanvorlage nicht kennt, wird zudem durch unvorhergesehene Wendungen überrascht. Frank Brenner

Anora

Anora

USA 2024, R: Sean Baker, D: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yuriy Borisov, 139 min

Sean Baker hat ein Herz für die Underdogs, die von einem Bad im Rampenlicht träumen, ihr Dasein jedoch meist im Schatten der schillernden Metropolen fristen. Dabei sind seine Figuren damit gar nicht mal unzufrieden. Die selbstbewusste Prostituierte Sin-Dee in »Tangerine« etwa, oder Pornostar Mickey in »Red Rocket«. Auch »Anora«, die lieber Ani genannt werden will, arbeitet in der Vergnügungsindustrie. In einem Nachtclub verführt sie die männlichen Besucher zum Lapdance. Als der russische Oligarchensohn Ivan im Club auftaucht, gibt sie ihm ihre Nummer für ein privates Treffen. Er ist charmant, naiv und zahlt gut. Also werden die Treffen regelmäßig und Ani lernt ein unbeschwertes Leben im Überfluss kennen – und lieben. Doch kann sie Ivans und ihren eigenen Gefühlen wirklich trauen? – Mit entwaffnendem Witz und Virtuosität zieht Sean Baker das Publikum in die Story, um dann die Fahrtrichtung zu wechseln. An diesem Punkt gibt man sich dem irrwitzigen Plot und den überraschenden Wendungen hemmungslos hin. Zu verdanken ist das einer wunderbaren Schauspielführung und dem herrlichen Figurenkabinett, angeführt von der wundervollen Protagonistin, mit vollem Einsatz verkörpert von Mickey Madison (»Once upon a Time in Hollywood«). »Anora« ist ein irrwitziger Ritt über knapp zweieinhalb höchst unterhaltsame Stunden. Ein hochverdienter Gewinner der Goldenen Palme von Cannes. LARS TUNÇAY

Motel Destino

Motel Destino

BRA/F/D/GB/AUS 2024, R: Karim Aïnouz, D: Iago Xavier, Nataly Rocha, Fábio Assunção, 115 min

Heraldo ist 21 und erledigt mit seinem Bruder Jorge in einem brasilianischen Küstenort für die Kartellchefin Bambina die Drecksarbeit. Ihr jüngster Auftrag: Sie sollen einen Franzosen töten, der seine Schulden nicht bezahlt. Am Abend vor dem Job lernt Heraldo in einer Bar eine Frau kennen, sie nehmen sich ein Zimmer und haben Sex. Beim verspäteten Aufwachen ist allerdings nicht nur Heraldos Eroberung, sondern auch sein Geld verschwunden und am verabredeten Tatort kann er nur noch feststellen, dass Jorges Leiche abtransportiert wird und die Zielperson den Anschlag überlebt hat. Auf der Flucht vor Bambinas Häschern fällt ihm als Versteck nur das Motel Destino ein, in dem er die Nacht verbracht hat. Dort hat der schmierige Elias das Sagen, dessen Frau Dayana dafür sorgt, dass Heraldo gegen Arbeit eine Unterkunft erhält – und sich ein fatales Beziehungsdreieck entspinnt. Karim Aïnouz’ Thrillerdrama besticht vor allem durch die flirrenden Bilder von Hélène Louvart, der Stammkamerafrau des »Futuro Beach«-Regisseurs: In jeder ihrer neonfarbenen Einstellungen spürt man förmlich die Schwüle des lasziven Settings sowie die Gewalt, die fast jeder Figur innewohnt. Leider kann der Plot da nicht mithalten, zu langsam kommt alles in Fahrt und zu wenig geschieht letzten Endes. Spannend wird es meist nur dann, wenn Fábio Assunção zu sehen ist, der als unberechenbarer Elias jede Szene an sich reißt. Peter Hoch

Frau aus Freiheit

Frau aus Freiheit

SWE/PL 2023, R: Michal Englert, Malgorzata Szumowska, D: Malgorzata Hajewska, Joanna Kulig, Mateusz Wieclawek, 132 min

Die ersten Jahre im Erwachsenenleben des Polen Andrzej verlaufen, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft als normal angesehen werden. Erste Liebe, Hochzeit, Geburt des ersten Kindes, biederer Bürojob. Doch auch in diesen Jahren gibt es erste Dissonanzen. Andrzej wird vom Militärdienst ausgeschlossen, weil seine Fußnägel lackiert sind. Er ist depressiv und hat Suizid-Gedanken. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, trägt er Frauenkleider. Michal Englert und Malgorzata Szumowska (»Im Namen des …«) beleuchten diese frühen Jahre im Leben ihres Protagonisten nur schlaglichtartig, quasi im Schnelldurchlauf. Denn hier handelt es sich noch nicht um Anielas normales Leben, hier verstellte sich die Transfrau noch, um im post-kommunistischen Polen nicht unter die Räder zu kommen. Die Handlung von »Frau aus Freiheit« wird ruhiger und intensiver, wenn Protagonistin Aniela zu ihrem wahren Selbst findet – und wenn die Umwelt beginnt, ihr Verstellung und plumpes Spiel vorzuwerfen. Transsexualität wird auch heute noch selbst in Deutschland kontrovers diskutiert, zu wenige Menschen dürften persönliche Kontakte haben, um mit ihren engstirnigen Ansichten zu brechen. In Polen ist die Lage noch viel dramatischer, hier müssen Betroffene absurderweise sogar vor Gericht ihre eigenen Eltern verklagen, um eine Geschlechtsanpassung vornehmen zu dürfen. Mit großer emotionaler Wucht hat das Regie-Duo hier einen mutigen Film zum Thema realisiert. Frank Brenner

Riefenstahl

Riefenstahl

D 2024, Dok, R: Andres Veiel, 116 min

Eine Frau und ein Mann tauschen sich über die Summen aus, die sie erhalten, wenn sie mit den Medien sprechen. Während sie von 10.000 spricht, nennt er einen dreistelligen Betrag. Es sind Leni Riefenstahl (1902–2003) und Albert Speer (1905–81), die hier in den siebziger Jahren telefonieren. Das aufgezeichnete Gespräch stammt aus dem 700 Kisten umfassenden Nachlass der Regisseurin und Fotografin, den die Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2018 erhielt. Sandra Maischberger und Andres Veiel (»Black Box BRD«, »Beuys«) durften als Erste darauf zugreifen. Maischberger, die als Produzentin agiert, beschäftigt sich schon länger mit Riefenstahl, interviewte sie 2002 in deren Haus am Starnberger See. Dieses Haus spielt im Film eine Hauptrolle. Glaswände öffnen es gen Garten und Natur. So durchlässig die Wände, so dunkel sind die Konstruktionen, mit denen Riefenstahl an ihrer eigenen Biografie arbeitet, um sie zu kontrollieren und zu dirigieren, wie sie es auch bei ihren Filmen und Fotoaufnahmen tat. Der sehr ruhige Film von Veiel arbeitet mit dem Nachlass, zeigt unveröffentlichtes Filmmaterial – etwa aus dem Dokumentarfilm »Die Macht der Bilder« von 1993 –, wie Riefenstahl entrüstet die Aufnahmen abbricht, wenn sie in Verbindung mit Hitler und dem Nationalsozialismus gebracht wird. »Riefenstahl« ist ein wichtiger Film, der am Beginn der Aufarbeitung ihres Nachlasses steht. Britt Schlehahn

Shambhala

Shambhala

NEP/F/N 2024, R: Min Bahadur Bham, D: Thinley Lhamo, Sonam Topden, Tenzing Dalha, 150 min

In einem abgelegenen Dorf hoch im Himalaya: Der Tradition folgend heiratet eine Frau drei Männer und zieht zu ihrem Haupt-Ehemann in dessen Dorf. Auch Pema ist dieser Tradition verpflichtet. Trotzdem ist sie allein, als sie feststellt, dass sie schwanger ist. Ihr Mann Tashi ist auf einer Handelsreise und seit Monaten nicht zurückgekehrt. Auch ihre beiden anderen Männer sind ihr kaum eine Hilfe – der eine ist noch ein Kind, der andere kümmert sich um Gesundheit und Wohlergehen des Rinpoche, Vorsteher eines nahe gelegenen buddhistischen Klosters. Neid und Missgunst beherrschen das Dorfleben, die Leute zerreißen sich das Maul, verdächtigen Pema des Ehebruchs und sprechen ihre Zweifel daran, dass Tashi wirklich der Vater des ungeborenen Kindes ist, offen aus. Pema ist eine resolute Frau, die das Schicksal in ihre eigenen Hände nimmt. Also macht sie sich auf die Suche nach Tashi. Ihre Reise führt durch das atemberaubende Panorama der 6.000 Meter hoch gelegenen nepalesischen Bergregion und wird für Pema auch eine Reise zu sich selbst. In langen Einstellungen drehte Min Bahadur Bham diese mitreißende Geschichte mit Laiendarstellerinnen und -darstellern an Originalschauplätzen. Dafür wurde »Shambhala« in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen – als erster Spielfilm aus Nepal. LARS TUNÇAY

Spirit in the Blood

Spirit in the Blood

D/CDN 2024, R: Carly May Borgstrom, D: Summer H. Howell, Sarah-Maxine Racicot, Michael Wittenborn, 98 min

Unendliche Wälder im Sommer, eine Gruppe Jugendlicher, ein Todesfall und eine sehr gläubige und eingeschworene Gemeinde – so durchaus bekannt startet »Spirit in the Blood«. Es handelt sich hierbei um das Regiedebüt der Kanadierin Carly May Borgstrom, die ihre ganz eigene Version von »Stand by me« liefert, eine deutlich mysteriösere. Vor allem spürt man, dass hier die weibliche Perspektive in den Vordergrund rückt. Die 15-jährige Emmerson zieht zu Beginn mit ihrer schwangeren Mutter und ihrem Vater zurück in dessen Heimatstädtchen, irgendwo in den kanadischen Wäldern. Dort findet sie zunächst keine Freundinnen, trifft aber recht bald auf eine andere Außenseiterin, Delilah. Nachdem die beiden vom Tod eines Mädchens erfahren und sich Emmerson im Wald ebenfalls verfolgt fühlt, nehmen die Ereignisse ihren Lauf. So gut die Grundidee auch klingt, so alt ist sie auch. Es folgen weitere Ideen und Handlungen, viele davon unfokussiert oder nicht konsequent zu Ende erzählt. Die Atmosphäre lässt ein wenig auf sich warten. Die Inszenierung bringt aber dann doch eine Szene hervor, die es mit Rob Reiners Klassiker aufnehmen kann. Und das eigentliche Finale trifft wieder einen sehr guten Punkt. So bleibt ein solides, aber nicht gänzlich überzeugendes Debüt, das vor allem beim Drehbuch noch Luft nach oben hätte. Aber Lust auf mehr macht. FLORIAN THIMM

Die Rückkehr des Filmvorführers

Die Rückkehr des Filmvorführers

F/D 2024, R: Orkhan Aghazadeh, D: Samid Idrisov, Ayaz Khaligov, 87 min

Im Jahr 1988 schuf Giuseppe Tornatore mit »Cinema Paradiso« seinen ganz persönlichen Liebesbrief an das Kino. Die Freundschaft eines alten Filmvorführers mit einem kleinen Jungen, unterlegt vom Soundtrack Ennio Morricones, wurde zum rührseligen Fest über die Magie der großen Leinwand. »Die Rückkehr des Filmvorführers« wirkt über weite Strecken, als hätte jemand Tornatores Geschichte in die reale Welt übertragen. Schauplatz ist ein kleines aserbaidschanisches Dorf. Protagonist der Filmvorführer Sami, der nach einem schweren Schicksalsschlag beschließt, wieder Kinofilme zu zeigen. Allerdings muss er dafür erst mal seinen alten Projektor in Gang bringen. Eine Herausforderung an einem Ort, wo allein die Beschaffung einer Glühbirne Monate dauern kann. Doch Sami bleibt beharrlich. In eindrucksvollen Bildern begleitet die Kamera ihn auf seinem Weg. Nebenbei ergeben sich wunderbar eingefangene Szenen. Drei alte Kinovorführer, die Filme nacherzählen. Sami und sein Enkel, die auf der Suche nach Empfang durch den Schnee irren. Eine Gruppe Frauen, die aus alten Fetzen eine Leinwand zusammennähen. »Die Rückkehr des Filmvorführers« schillert zwischen Dokumentation, Erzählkino, Trauerverarbeitung und märchenhaften Elementen. Er zeigt traumhafte Landschaften. Doch am Ende bleibt die Botschaft dieselbe, wie einst bei Tornatore. Auch nach über hundert Jahren strahlt das Kino weiter. Und manchmal, so wie hier, ganz besonders hell. JOSEF BRAUN

The Room Next Door

The Room Next Door

E/USA 2024, R: Pedro Almodóvar, D: Julianne Moore, Tilda Swinton, Tom Johnson, 110 min

Jahre ist es her, dass sich die Freundinnen Ingrid und Martha zuletzt trafen. Der nahende Tod bringt sie wieder zusammen. Martha ist an Gebärmutterhalskrebs erkrankt und liegt im Sterben. So sitzt Ingrid an ihrem Bett und hilft ihr durch Schmerz und Verzweiflung. Die beiden Frauen reden über das angespannte Verhältnis zwischen Martha und ihrer Tochter, über ihre Beziehung zu dem Universitätsprofessor Damian, die die beiden Frauen verband. Da überrascht Martha ihre Freundin mit einer unerwarteten Bitte: Sie, die in Kriegsgebieten mehrfach dem Tod ins Auge blickte, möchte ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Dafür sich aus dem Darknet eine Pille organisiert. Sie mietet ein luxuriöses Anwesen inmitten der Natur und bittet Ingrid, sie zu begleiten. Obwohl sie selbst gerade ein Buch über ihre Angst vor dem Tod veröffentlicht hat, willigt Ingrid ein, ihrer besten Freundin beizustehen. Für seinen ersten englischsprachigen Spielfilm hat sich Altmeister Pedro Almodóvar einen Roman von Sigrid Nunez ausgesucht. Die Adaption ist deutlich, in langen Dialogen tauschen sich die Protagonistinnen über den Tod und das Leben aus. Dass dieses Zweipersonenstück trotzdem einen Sog entfaltet, liegt an den beiden Hauptdarstellerinnen: Julianne Moore und Tilda Swinton verkörpern die Freundschaft, die Hoffnungen und Zweifel überzeugend. Almodóvars wie immer stilsichere Ausstattung und die Musik von Alberto Iglesias fügen die unverwechselbare Handschrift des Meisters hinzu. LARS TUNÇAY

Cranko

Cranko

D 2024, R: Joachim Lang, D: Sam Riley, Max Schimmelpfennig, Hanns Zischler, 128 min

Erst im Juli war Joachim A. Langs »Führer und Verführer« in den Kinos zu sehen. Nach dem Dokudrama über NS-Propagandaminister Joseph Goebbels legt der Regisseur nun ein ebenso ungewöhnliches Projekt über eine gänzlich andere, diesmal kulturhistorische und deutlich erfreulichere Persönlichkeit vor: John Cranko leitete in den 1960er Jahren das Stuttgarter Ballett und ließ es zu einer der bedeutendsten Kompanien der Welt avancieren, bevor er 1973 zu früh verstarb. Langs Film ist dabei ebenso Biografie wie ein Werk, das die Essenz dessen, was Tanztheater ausmacht, filmisch erlebbar machen will. Das äußert sich in Szenen, in denen Ausschnitte aus Crankos Leben von seinen Choreografien durchbrochen werden, und mündet in einem Finale, in dem die noch lebenden damaligen Tänzerinnen und Tänzer gemeinsam mit ihren Filmpendants – den aktuellen Mitgliedern des Stuttgarter Balletts – Rosen vor dem Grab Crankos ablegen. Dessen Freundlichkeit, Leidenschaft und Perfektionismus, aber auch seine Suche nach Liebe macht Langs kunstbeflissene Inszenierung tatsächlich in ihren besten Momenten erfahrbar. Ein grundsätzliches Interesse an Ballett sollte das Publikum allerdings mitbringen, sonst werden einige Passagen zur zähen Angelegenheit. Cranko wird übrigens oscarreif von Sam Riley verkörpert, dem 2007 mit Anton Corbijns »Control« über Ian Curtis und dessen Band Joy Division der Karrieredurchbruch gelang und der am 6.10. zu Gast ist in den Passage-Kinos. Peter Hoch

Dahomey

Dahomey

F/SEN/BEN 2024, Dok, R: Mati Diop, 68 min

Eine Statue erzählt von ihrer Reise von Paris nach Cotonou. Was klingt wie der Plot für einen experimentellen Film, ist in Wahrheit der Auftakt zu Mati Diops grandiosem Dokumentarfilm »Dahomey«, der in diesem Jahr den Goldenen Bären gewann. Nur knapp über eine Stunde braucht die französische Regisseurin, um weite Teile der Restitutionsdebatte in filmische Bilder zu übersetzen. Darin geht es um die Frage, wie mit in der Kolonialzeit geraubter Kunst aus Afrika umzugehen sei. Konkret beleuchtet »Dahomey« den Fall von sechsundzwanzig Artefakten, die Frankreich im Jahr 2021 an das heutige Benin zurückgab – darunter ein Thron, eine kostbare Grabbeigabe und mehrere Statuen. Die Kamera begleitet diese Gegenstände auf ihrer Reise. Sie ist dabei, wenn die Artefakte professionell verpackt und anschließend nachts in ein Flugzeug verladen werden. Dazwischen wird die Leinwand immer wieder schwarz. Die Statuen sprechen in der vergangenen Sprache des Königreichs Dahomey, Vorläufer des heutigen Benin. Mithilfe erzählerischer Kniffe gelingt es Diop, den Fokus zu verschieben. Weg von Europa, hin zur Herkunftskultur der Artefakte. Konsequent taucht denn auch der französische Präsident nur einmal als Foto unter einer Schlagzeile auf. Lieber begleitet Diop studentische Diskussionen in Benin oder sieht sich zwischen Museumsbesucherinnen und -besuchern um, die ehrfürchtig das Werk ihrer Vorfahren bestaunen. Ganz nebenbei macht sie so deutlich, was die Rückgabe gestohlener Kunst im Selbstverständnis eines Landes bewirken kann. JOSEF BRAUN

Hagen ‒ Im Tal der Nibelungen

Hagen ‒ Im Tal der Nibelungen

D 2024, R: Cyrill Boss, Philipp Stennert, D: Gijs Naber, Jannis Niewöhner, Dominic Marcus Singer, 135 min

Wenn Fantasy aus Deutschland auf die große Leinwand kommt, dann ist das entweder für Kinder und Jugendliche oder komplettes Nischenprogramm. Daher ist die Spannung groß, was Cyrill Boss und Philipp Stennert aus dem Genre herausholen. Bei »Hagen – Im Tal der Nibelungen« handelt es sich endlich mal wieder um klassische Schwert- und Zauberer-Fantasy für Erwachsene aus deutscher Produktion. Dabei verfilmten sie keinen klassischen Stoff, sondern Wolfgang Hohlbeins Adaption des Nibelungenlieds. Wie der Name vermuten lässt, folgt der Film Hagen von Tronje, dem Waffenmeister der Burgunder. Hagen wird hier nicht als rein finstere Gestalt dargestellt, sondern als durchaus ambivalente Hauptfigur. Sein Gegenpart Siegfried – normalerweise strahlender Held – ist hier ein überheblicher und selbstverliebter junger Recke, hervorragend mit Jannis Niewöhner besetzt. Allgemein haben wir es mit einer überraschend gelungenen Umsetzung zu tun. Überzeugende Sets und Kostüme und eine große Anzahl an Statisten und Statistinnen sorgt für solide Schlachten, auch wenn diese weit entfernt sind von der Spitze des Genres. Verstecken muss sich der Film damit trotzdem nicht. Durch das Aufstellen der Figuren in der ersten Filmhälfte und die daraus resultierende zweite Hälfte hat der Film ein unrundes Pacing, was sich hoffentlich in der fürs Streaming geplanten erweiterten Fassung bessern wird. Alles in allem aber ein sehenswerter deutscher Fantasyfilm, der Lust auf mehr macht. FLORIAN THIMM