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Rezensionen

20.000 Arten von Bienen

20.000 Arten von Bienen

E 2023, R: Estibaliz Urresola Solaguren, D: Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain, 125 min

Die Eltern versuchen es vor den Kindern zu verbergen, aber auch die ahnen bereits, dass es eine Veränderung geben wird. Als ihre Mutter Ane mit ihnen in ihre baskische Heimat reist, ist der Vater nicht dabei. Cocó fühlt sich von Anfang an fehl am Platz. Das liegt auch daran, dass alle sie Aitor nennen – ihr Geburtsname als Junge –, der sich für die Achtjährige fremd anfühlt. Die Mutter hat wenig Verständnis dafür. Nur ihrer einfühlsamen Großtante, der Bienenzüchterin, kann sie ihr Geheimnis anvertrauen. Behutsam und feinfühlig schildert die im Baskenland geborene Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren diesen Sommer durch die Augen eines Kindes. Der Zwist mit der eigenen Mutter, die damit ringt, aus dem Schatten ihres Bildhauer-Vaters herauszutreten, und sich künstlerisch verwirklichen will, überlagern die Tage. Niemand hat wirklich ein Auge für die Identitätssuche von Cocó. Als es zum Familiendrama kommt, ist es vielleicht zu spät. Inmitten der Emotionen und der turbulenten Vorbereitungen für das große Tauffest entwickelt Regisseurin Solaguren ein fragiles Konstrukt einer Familie und hinterfragt geschickt Geschlechterrollen. Die kleine Hauptdarstellerin Sofía Otero erhielt für ihr herausragendes Schauspieldebüt den Silbernen Bären der diesjährigen Berlinale, wo der Film auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Lars Tunçay

Das Rätsel

Das Rätsel

F/B 2019, R: Régis Roinsard, D: Lambert Wilson, Olga Kurylenko, Riccardo Scamarcio, 105 min

In Büchern schmökern ist schön, der dahinter stehende Literaturbetrieb eher nicht so – das zeigt Régis Roinsards Thriller »Das Rätsel«. Dessen französischer Originaltitel »Les Traducteurs« (»Die Übersetzer«) übrigens passender ist. Nun, der letzte Teil der »Dädalus«-Trilogie kommt bald raus. Um den Hype zum Welt-Erfolg zu optimieren und zu schützen, sollen neun Übersetzer der erfolgreichsten Ländermärkte dem Meisterwerk zeitgleich in einer Art unterirdischem Bunker die jeweilige Sprache einhauchen und dabei auf Kontakt zur Außenwelt verzichten. Angetrieben und getriezt werden sie vom sadistisch-schmierigen Verleger Éric Angstrom persönlich. Lambert Wilson spielt diesmal quasi seinen »Merowinger« aus »Matrix« im Verlagswesen. Als plötzlich ein Erpresser droht, den prognostizierten Mega-Bestseller vorab im Web zu leaken, steht fest: Der Täter muss einer der Übersetzer sein. Es folgen Verdächtigungen, Tote – und einige Details, die alles im neuen Licht erscheinen lassen. Natürlich erinnert das Setting auch an den jüngsten Whodunit-Knaller »Knives Out« – hier fehlt es jedoch an Weltstars en masse und auch an der dramaturgischen Detailverliebtheit. Dennoch punktet »Das Rätsel« zumindest in der zweiten Hälfte mit jeder Menge Plot-Twists sowie überraschenden Flashbacks. Das lohnt den Kinobesuch – es sei denn, man hat ein wirklich gutes Buch zu Hause. Markus Gärtner

Nostalgia

Nostalgia

I 2023, R: Mario Martone, D: Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno, 118 min

Heimat – der Ort, wo man herkommt, oder der, wo man Wurzeln geschlagen hat? Für Felice ist die Rückkehr nach Neapel verbunden mit einer Vielzahl an Erinnerungen. Wie ein warmer Regen der Nostalgie gehen sie auf ihn nieder, als er nach vierzig Jahren zum ersten Mal durch die Straßen seiner Kindheit im Viertel Rione Sanità streift. Er sucht seine Mutter auf, der er bisher nur hin und wieder in einem Brief von seinem Leben in Kairo erzählt hat. Warum er fortging, hat sie nie begriffen. Auch Mario Martones Film, der auf dem gleichnamigen Roman von Ermanno Rea basiert, macht lange ein Geheimnis daraus. In langen Einstellungen zur Musik von Tangerine Dream erkundet Felice die Stadt und seine Erinnerungen an die Zeit, als er sie mit seinem Freund Oreste unsicher machte. Der örtliche Priester Don Luigi gibt den Kindern eine Perspektive, die sie vorher nicht hatten. Er holt die Heranwachsenden von den Straßen der Armut und entreißt sie den Fängen des »Malommo«, des bösen Mannes, der das Viertel regiert. Regisseur Martone lässt sich viel Zeit, diese Straßen zu erkunden. In den naturalistisch-kunstvollen Bildern von Paolo Carnera (»Suburra«) lernen wir jeden Winkel der Stadt kennen und bekommen ein Gefühl für das Leben der Menschen dort. Felice, ausdrucksstark verkörpert von Pierfrancesco Favino (»Il Traditore«), wird vom wortkargen Rückkehrer zu einer wohlgeformten Figur mit Vergangenheit und dem Drang nach Versöhnung. Oder ist es doch nur Nostalgie, die ihn antreibt? Lars Tunçay

Die Rumba-Therapie

Die Rumba-Therapie

F 2021, R: Franck Dubosc, D: Franck Dubosc, Louna Espinosa, Jean-Pierre Darroussin, 93 min

Der 50-jährige Tony, den Hauptdarsteller, Regisseur und Autor Frank Dubosc hier verkörpert, ist alles andere als ein Hotshot. Der knurrige Busfahrer verbringt seine Abende am liebsten allein auf dem Sofa, trinkt Bier und träumt von Amerika. Bis ihm sein Lebensstil einen Herzinfarkt einbringt. Als er die Augen öffnet, muss er feststellen, dass im Krankenhaus niemand auf ihn wartet. Also macht er sich daran, seine alte Liebe aufzusuchen – und ihre erwachsene Tochter Maria, die als Tanzlehrerin arbeitet. So setzt sich der unsportliche Tony in den Kopf, tanzend ihr Herz zu gewinnen. Nur: Erfahren, dass er ihr Vater ist, darf sie natürlich nicht. Einen ganzen Blumenstrauß an Klischees bringt »Die Rumba-Therapie« mit in den Kinosaal, nur um sie dann Stück für Stück zu zerlegen. Die Welt vor der Tür ist eben ganz anders, als Tony sie sich zurechtgelegt hat, und auch unser Bild von dem grantigen Eremiten wird im Laufe der 100 kurzweiligen Minuten kräftig durchgewirbelt. Dass es Dubosc hier vor allem darum geht, zu unterhalten, ist von Anfang an deutlich. Im Vorbeitanzen werden aber auch soziale Probleme angespielt und auf den menschlichen Faktor heruntergebrochen. Frank Dubosc (»Liebe bringt alles ins Rollen«) liefert mit »Die Rumba-Therapie« eine grundsolide zweite Regiearbeit, der Marie-Philomène Nga als schnoddrige Nachbarin und Knautschgesicht Jean-Pierre Darroussin in den Nebenrollen Feuer verleihen. Lars Tunçay

Memory Of Water

Memory Of Water

FIN/D/EST/NOR 2022, R: Saara Saarela, D: Saga Sarkola, Mimosa Willamo, Lauri Tilkanen, 101 min

Wir befinden uns in der Zukunft. Die Welt ist trist. Nach einem radioaktiven Vorfall sind große Teile Skandinaviens unbewohnbar geworden, das Wasser ungenießbar. In der Folge sind die Tiere ausgestorben und die Menschen müssen sich das wenige Wasser aufteilen, das noch existiert. Man ist misstrauisch und lebt unter der harten Regentschaft eines gesichtslosen Militärs. Das Publikum kennt Ähnliches aus dem letzten »Mad Max«-Film. Doch während George Miller für seine dystopischen Visionen Millionen ausgeben kann, dürfte das Budget der finnischen Regisseurin Saara Saarela deutlich kleiner ausgefallen sein. Das tut »Memory of Water« jedoch keinen Abbruch. Die Sets, durch die sich seine Heldin Noria bewegt, sind mit großer Sorgfalt und viel Einfallsreichtum gestaltet. Dazu kommen ein beeindruckender Auftritt von Hauptdarstellerin Saga Sarkola und der Soundtrack vom frisch gekürten Oscar-Gewinner Volker Bertelmann (»Im Westen nichts Neues«), der die düstere Atmosphäre des Films kongenial unterstreicht. »Memory of Water« ist europäisches Science-Fiction-Kino auf allerhöchstem Niveau. Aber nicht nur etwas für Genrefans. Denn bei allen futuristischen Elementen bleibt der Film stets dicht an seinen Figuren. Und stellt Fragen, die in Zeiten des Klimawandels drängender denn je sind: Wie gehen wir mit unseren Ressourcen um? Und wie gehen wir miteinander um, wenn sie knapp werden? Josef Braun

How To Blow Up A Pipeline

How To Blow Up A Pipeline

USA 2023, R: Daniel Goldhaber, D: Daniel Goldhaber, Ariela Barer, Jordan Sjol, 104 min

Theo und Xochitl sind im verschmutzten Long Beach, Kalifornien, im Schatten einer Ölraffinerie aufgewachsen. Als junge Frau spürt Theo die Folgen der anhaltenden Vergiftung körperlich: Die Diagnose lautet Krebs im Endstadium. Als Xochitls Mutter im Zuge einer Hitzewelle stirbt, wird beiden klar, dass Umweltschutz und Aufklärungsarbeit an ihre Grenzen stoßen. Sie wollen weiter gehen. Mit einer Gruppe militanter Umweltaktivistinnen und -aktivisten versammeln sie sich im Westen Texas’, um einen Sabotageakt durchzuführen: die Sprengung einer Öl-Pipeline. Wo verläuft die Grenze zwischen zivilem Widerstand und Terrorismus? Die Protagonistinnen und Protagonisten reflektieren ihr Selbstbild in der Nacht vor der Aktion. Während sich einige Gruppenmitglieder als Game-Changer und Revolutionäre sehen, spricht Theo eine unangenehme Wahrheit aus: »Sie werden uns Terroristen nennen. Weil wir Terrorismus betreiben.« Die Handlung ist extrem und hat potenziell verheerende Folgen. Und doch sehen sich die Mitglieder in ihrer Lage zum Handeln gezwungen. Die Hintergrundgeschichten der Figuren verwebt Daniel Goldhaber in seinem Öko-Thriller, der auf dem gleichnamigen Buch von Andreas Malm basiert, geschickt mit der Ausführung des Plans. Paranoide Filmmusik und wackelige Kameraführung begleiten den Sabotageakt, der an manchen Stellen fast wie eine Anleitung wirkt. Die Folgen der Aktion bleiben allerdings ein blinder Fleck in diesem hochaktuellen Film. SARAH NÄGELE

Fucking Bornholm

Fucking Bornholm

PL 2022, R: Anny Kazejak, D: Agnieszka Grochowska, Maciej Stuhr, Grzegorz Damiecki, 99 min

Maja und Hubert kennen sich schon ewig, Dawid und seine deutlich jüngere Freundin Nina einander erst seit wenigen Tagen. Die beiden Paare machen gemeinsam Urlaub auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Mit an Bord: ihre drei Söhne. Maja ist schon zu Beginn der Reise frustriert über das ewig gleiche Urlaubsziel, die Gleichgültigkeit ihres Gatten, der sich lieber um die mitgebrachten Mountainbikes als um seine Frau kümmert, und unzählige andere Kleinigkeiten. Als es dann auch noch bei einer gemeinsamen Übernachtung der Kinder im Zelt zu einem Vorfall kommt, geraten die Ferien endgültig aus dem Ruder. Dabei ist der wahre Auslöser des Konflikts irgendwann egal und es geht eigentlich um den unerfüllten Wunsch der Erwachsenen, aus dem gesellschaftlichen Korsett auszubrechen. Unter dem sonnigen Himmel Dänemarks gelingt der polnischen Regisseurin Anny Kazejak eine beißende Beziehungskomödie. Die idyllischen Urlaubsbilder von Strand und Meer stehen dabei im Kontrast zur zunehmend eskalierenden emotionalen Wetterlage. Die schauspielerischen Leistungen überzeugen, die Dialoge sitzen – kein Wunder, basiert »Fucking Bornholm« doch auf einem fünfteiligen Hörspielpodcast von Kazejak und Filip Kasperaszek. Seine Premiere feierte ihr Film im Wettbewerb beim International-Film-Festival in Karlovy Vary im vergangenen Sommer. Ein großer böser Spaß, der an die Filme von Ruben Östlund (»Triangle of Sadness«) erinnert, deren Male-Gaze aber eine weibliche Perspektive entgegensetzt. Lars Tunçay

Bis ans Ende der Nacht

Bis ans Ende der Nacht

D 2023, R: Christoph Hochhäusler, D: Timocin Ziegler, Thea Ehre, Michael Sideris, 120 min

Leni Malinowski saß wegen Drogenhandels im Gefängnis und ist nun mit Fußfessel frühzeitig entlassen worden. Sie soll dem Undercover-Polizisten Robert Demant dabei helfen, den Drogendealer Victor Arth dingfest zu machen, für den sie vor ihrer Inhaftierung gearbeitet hatte. Das Delikate an der Sache liegt in Leni selbst – denn die hieß damals noch Lenard und war ein Mann, der mit Robert eine Beziehung hatte. Dass Leni mittlerweile eine Transfrau ist, bereitet Robert einige Probleme, die zusehends die Undercover-Aktion zu gefährden drohen. Christoph Hochhäusler (»Die Lügen der Sieger«) hat für seinen fünften Kino-Langfilm eine sehr originelle und ungewöhnliche Ausgangskonstellation gewählt. Die Tatsache, dass seine Hauptfigur transsexuell ist, spielt fast schon eine untergeordnete Rolle, weil es dem Filmemacher in erster Linie um eine spannungsreiche Kriminalgeschichte geht. Dass aber die Transition Lenards zu Leni ihrem ehemaligen Liebhaber Probleme bereitet, verleiht der Thematik im Rahmen der Geschichte dann doch eine gewisse Dramatik. Die Österreicherin Thea Ehre, die hier ihre erste Kinohauptrolle spielt und auch im wirklichen Leben eine Transfrau ist, erobert mit ihrer ehrlichen und direkten Art schon in den ersten Szenen des Films die Herzen des Publikums. Völlig zu Recht wurde sie dafür auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären prämiert. Frank Brenner

The Whale

The Whale

USA 2022, R: Darren Aronofsky, D: Brendan Fraser, Sadie Sink, Ty Simpkins, 117 min

Er wirkt unbeholfen, als wüsste er selbst nicht so genau, wie es so weit kommen konnte. Aber Charlie hat sich dabei zugesehen, wie er versuchte, seine Trauer mit Essen zu stillen. Jetzt steckt er fest, in einem Appartement, das er nur noch mit einer Gehhilfe durchqueren kann. Dort sitzt er und wartet auf seinen Tod. Die Einzige, die ihn noch am Leben hält, ist seine Freundin Liz, die regelmäßig nach ihm schaut. Und eigentlich hat Charlie auch eine Tochter im Teenageralter, Ellie, nach der er die Hand ausstreckt. Dann ist da noch der Missionar Thomas, der unbeholfen in die Szenerie stolpert und sich in den Kopf gesetzt hat, Charlie zu helfen. Diese Anordnung von Personen zeugt davon, dass »The Whale« seinen Ursprung im Theater hat. Samuel D. Hunter adaptierte hier sein gefeiertes Bühnenstück unter der Regie von Darren Aronofsky (»Black Swan«). Im Mittelpunkt steht die überragende schauspielerische Präsenz von Brendan Fraser, über dessen Comeback schon viel geredet wurde. Seinen Oscar hat er ebenso verdient wie Adrien Morot, Judy Chin und Annemarie Bradley-Sherron, die für das Make-up verantwortlich zeichneten. Drehbuch und Inszenierung kommen da nicht ganz auf Augenhöhe, weil Hunter und Aronofsky ein um das andere Mal emotional zu dick auftragen. Das ändert aber nichts daran, dass Charlie sein Herz am rechten Fleck trägt und »The Whale« ein sehenswertes Plädoyer für Menschlichkeit ist. Lars Tunçay

Sparta

Sparta

AU/D/F 2022, R: Ulrich Seidl, D: Georg Friedrich, Florentina Elena Pop, Hans-Michael Rehberg, 99 min

Eigentlich wollte Ulrich Seidl die Geschichte der Brüder Richie und Ewald in einem Film erzählen. Aus »Böse Spiele« sind nun zwei Geschichten geworden, die ihren Ausgangspunkt im Heim haben, wo der demente Nazi-Vater vor sich hindämmert. Während wir allerdings in »Rimini« dem gescheiterten Schlagersänger Richie Bravo dabei zusahen, wie er in Italien von seiner Vergangenheit eingeholt wird, weicht der tragikomische Ton bei »Sparta« vollends der Seidlschen Tristesse. Wie Richie hat auch Ewald die Heimat verlassen und sucht in Rumänien sein Glück. Augenscheinlich hat er es in Aurica gefunden, doch während sie von der Heirat träumt, tobt Ewald lieber auf dem Bett mit ihren Cousins. Seine sexuelle Insuffizienz offenbart endgültig, dass Ewald seine wahren Gefühle unterdrückt. Er verlässt Aurica und reist in die rumänische Provinz. Dort findet er ein leerstehendes Schulhaus und bietet Judotraining für Kinder an. Während die Kids froh sind, aus dem oftmals von Gewalt und Alkohol geprägten Elternhäusern auszubrechen, nutzt Ewald die Intimität, um seiner Neigung nachzugehen, ohne ihr jedoch vollends nachzugeben. Der moralische Grat, auf dem Seidl hier wandelt, ist dünn. In der Folge gab es Vorwürfe im Spiegel, Kinder seien beim Dreh unangemessen behandelt worden, die der Regisseur und sein Team abwiesen. Auch abseits dessen ist »Sparta« ein ambivalenter Film, der Seidl-typisch dorthin geht, wo es weh tut, zumal Georg Friedrich den zwiespältigen Charakter schmerzhaft eindringlich verkörpert. Lars Tunçay

Die Linie

Die Linie

F/CH/B 2022, R: Ursula Meier, D: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, 103 min

Die Filme von Ursula Meier (»Winterdieb«) setzen sich immer wieder mit dysfunktionalen Familien auseinander. Auch das Verhältnis zwischen Margaret und ihrer alleinerziehenden Mutter Christina ist gestört. Das wird gleich zu Beginn in einer vierminütigen Eröffnungssequenz überdeutlich. In der erleben wir in Zeitlupe, wie die rasende Tochter die familiäre Wohnung zerlegt und schließlich ihre Mutter niederschlägt, bevor sie gewaltsam aus dem Haus geworfen wird. Die Mutter, eine selbstverliebte Pianistin, ist fortan auf einem Ohr taub, die Tochter ohne Wohnsitz. Sie wird dazu verurteilt, dem Elternhaus auf 100 Meter fernzubleiben. Immer wieder nähert sie sich jedoch, bis die jüngere Schwester Marion schließlich eine Linie um das Haus zieht, an der Margaret Tage und Nächte verbringt. Die kleine Marion hat am meisten unter den Spannungen zu leiden, während die mittlere Schwester Louise mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt ist. Das Leiden der Mutter und ihre passive Aggressivität zersetzen das familiäre Gefüge. Das ist anstrengend gut gespielt von Valeria Bruni Tedeschi. Auch ohne zeitliche Rückgriffe begreift man die Dynamiken, die zu diesem Punkt geführt haben. Margarets Wunsch nach Nähe und der Impuls zur Flucht sorgen für die realistische Reibung in diesem Familienporträt. Regisseurin Ursula Meier sucht nach einem Mittelweg, aber ist der bei allem gegenseitig zugefügte Schmerz überhaupt möglich? Lars Tunçay

Die Gewerkschafterin

Die Gewerkschafterin

F/D 2022, R: Jean-Paul Salomé, D: Isabelle Huppert, Gregory Gadebois, Yvan Attal, 122 min

Maureen Kearney ist Personalrätin im französischen Industriekonzern Areva und tritt dort vehement für die Rechte der Beschäftigten ein. Immer wieder bekommt sie dabei Macht und Machenschaften einer überwiegend von Männern dominierten Geschäftswelt zu spüren. Ein Whistleblower steckt der Gewerkschafterin eines Tages, dass ihre auf Atomanlagen spezialisierte Firma insgeheim einen Deal mit China verhandelt, durch den viele ihre Arbeit verlieren würden. Als Maureen dagegen vorgeht, spitzt sich die Situation dramatisch zu: Sie wird, das zeigt die erste Filmszene, in ihrem Haus überfallen und brutal geschändet. Oder hat sie all das etwa nur inszeniert, um Aufmerksamkeit zu erregen, wie die Polizei ihr bald unterstellt? Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten aus dem Jahr 2012 und die Protagonistin Maureen Kearney gibt es tatsächlich. Gespielt wird sie von der brillanten Isabelle Huppert, an deren Leistung es wie gewohnt nichts zu beanstanden gibt. Anders verhält sich das beim Drehbuch von Regisseur Jean-Paul Salomé. Denn die tonangebenden Handlungsstränge um den Überfall und die damit einhergehenden Fragestellungen werden erst lang nach der Eingangsszene wieder aufgegriffen, weil das Publikum vorher einem behäbigen Wirtschaftsthriller beiwohnen muss. Dessen Fäden laufen weitestgehend ins Leere – hier wäre ein anderer Fokus nötig, und, wie so oft, weniger mehr gewesen. Peter Hoch

Der Rhein fließt ins Mittelmeer

Der Rhein fließt ins Mittelmeer

ISR 2022, Dok, R: Offer Avnon, 95 min

Zehn Jahre lebt der Filmemacher Offer Avnon in Deutschland, bevor er in seine Heimat Haifa zurückkehrt. In diesem Jahrzehnt kann der Sohn eines polnischen Überlebenden der Shoah die Erlebnisse seines Vaters keinen einzigen Tag vergessen. Und so macht er sich auf die Suche nach versteckten Erinnerungen, sucht den Dialog, stellt Fragen, hört zu und beobachtet. In seinem Dokumentarfilm »Der Rhein fließt ins Mittelmeer« spricht Avnon mit Überlebenden und Angehörigen, mit Schuldbewussten, Gleichgültigen, mit feindlich und versöhnlich Gestimmten in Deutschland, Polen und Israel. In den fragmentarisch aneinander gereihten Dialogen ergründet der Film Verdrängungsmechanismen, Verständigungsversuche und bleibende Traumata. Welchen Dialog können Angehörige von Opfern und Tätern miteinander führen? Worum geht es bei der kollektiven Schuld? Wie weit soll sie gehen? Jede Antwort wirft weitere Fragen auf. Dazwischen sind Orte zu sehen, die die Geschichten dieser Zeit in ihre DNA eingeschrieben haben, ohne explizite Erinnerungsstätten wie Konzentrationslager oder Ghettos zu sein. Man sieht Aufnahmen von Bahnhofshallen, Gleisen, einem jüdischem Friedhof in Warschau in Form eines Waldes, verlassenen Orte – und immer wieder den stoisch vor sich hin fließenden Rhein. »Der Rhein fließt ins Mittelmeer« ist ein wichtiges Zeugnis einer verblassenden Zeit, doch die Suche nach den versteckten Erinnerungen abschließen, das kann er nicht. SARAH NÄGELE

Das Lehrerzimmer

Das Lehrerzimmer

D 2023, R: İlker Çatak, D: Leonie Benesch, Anne-Kathrin Gummich, Michael Klammer, 98 min

Für Carla Nowak ist der Beruf der Lehrerin eine Berufung. Morgens gestaltet sie liebevoll den Unterricht ihrer siebten Klasse. Abends ist sie oft die Letzte im Lehrerzimmer und korrigiert noch Arbeiten. Aber die Stimmung an ihrer Schule ist vergiftet. Jemand klaut und verdächtigt werden die Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse. Um ihre »Zero Tolerance«-Taktik durchzusetzen, lässt Schulleiterin Bettina Böhm die Schülersprecher der Klasse verhören und die Portemonnaies der Kinder filzen, was Carla hilflos mitansehen muss. Schlimmer ist allerdings, dass sich innerhalb der Klasse Gerüchte verbreiten wie ein Lauffeuer. Als es zu einem Zwischenfall kommt, der ein anderes Licht auf den Fall wirft, beschließt Carla, die Schulleitung einzuschalten. Dieser Schritt setzt eine Ereigniskette in Gang, die die Klassenlehrerin schon bald nicht mehr unter Kontrolle hat. Sehr genau beobachtet Regisseur İlker Çatak (»Es gilt das gesprochene Wort«) die Strukturen an einer durchschnittlichen deutschen Schule. Der Schmelztiegel der Befindlichkeiten ist ebenfalls ein Spiegel unserer Gesellschaft. Auch wenn die Situation hier und da ein wenig zugespitzt wirkt, findet sich doch jede und jeder mit Kindern im schulfähigen Alter in Çataks ernüchternder Analyse wieder. Clever und pointiert hinterfragt das Drehbuch, das Çatak gemeinsam mit Johannes Duncker verfasste, auf kritische Weise unsere aktuelle Debattenkultur und entfacht eine grundlegende Diskussion um Wahrheit und Gerechtigkeit. Lars Tunçay

Beau Is Afraid

Beau Is Afraid

USA 2023, R: Ari Aster, D: Joaquin Phoenix, Nathan Lane, Amy Ryan, 178 min

Die Sitzungen beim Psychiater scheinen Beau nicht viel zu bringen. Liegen seine dauernde Nervosität und seine eskalierende Paranoia wirklich nur in einem Schuldgefühl seiner dominanten Mutter gegenüber begründet? Die ersten fünf Minuten von »Beau is afraid« sind gleichzeitig die letzten, die in einer halbwegs wiedererkennbaren Realität stattfinden. Danach stürzt sich der Film mit Wollust in eine surrealistische Parallelwelt, die zu gleichen Teilen lustig und verstörend ist; ein impulsiver Psychotrip wie in die Gehirnwindungen eines Nervenpatienten. Für Regisseur Ari Aster, der zuvor mit den Horrorfilmen »Hereditary« und »Midsommar« auf sich aufmerksam machte, ist es ein Kopfsprung ins Reich der Neurosen – und der eigenen Eitelkeiten. Nach etwa der Hälfte des überlangen Streifens beginnen die visuellen Tricks und der Dauerbeschuss mit absurden Szenen die Geduld zu strapazieren. Was als schwarzhumorige Groteske beginnt, verkommt nach und nach zu einer anstrengenden Nabelschau, bei der eine psychosexuelle Mutterfixierung unangenehm in den Vordergrund rückt. »Beau is afraid« wächst irgendwo zwischen Selbstentblößung und Selbsttherapie ins Monumentale, ins Monströse, und vermutlich auch ins allzu Private. Mit Alfred Hitchcock beginnt man zu ahnen: Regisseure können sich offenbar den Gang zum Psychiater sparen. Sie legen sich einfach vor ihrem Kinopublikum auf die Couch. Lars Tunçay

All The Beauty And The Bloodshed

All The Beauty And The Bloodshed

USA 2022, Dok, R: Laura Poitras, 117 min

Eine Aktivistengruppe wirft sich im Sackler-Flügel des Metropolitan Museum of Art in New York auf den Boden und übersät diesen mit leeren Pillendosen für Schmerzmittel. Mitten unter ihnen: die Fotografin Nan Goldin. Selbst einige Zeit opiatabhängig, nutzt die angesehene Künstlerin seit Jahren ihren Einfluss, um den Namen der Mäzen-Familie Sackler weltweit aus den Museen zu verbannen. Denn die Inhaberfamilie eines Pharmaziehunternehmens sei mitschuldig am Tod hunderttausender Menschen, die von ihren Schmerzmitteln abhängig wurden. Laura Poitras hat das Leben Goldins über Jahre hinweg mit der Kamera begleitet, Besprechungen und Aktionen ihrer Gruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) eingefangen und die Fotografin, die Ende der Siebziger durch ihre Alltagsfotos aus dem New Yorker Underground bekannt wurde, zu ihrem Werdegang befragt. Sie legt dabei offen, dass der Ursprung zu Goldins rebellischem Verhalten bereits in deren Kindheit liegt, als ihre ältere, missverstandene Schwester in den Selbstmord getrieben wurde. Seitdem hat sich die Künstlerin immer wieder gegen Ungerechtigkeiten und Stigmatisierungen eingesetzt, beispielsweise durch psychische Störungen, Drogenkonsum, Homosexualität oder Prostitution. Die Filmemacherin kommt ihrer Protagonistin dabei ungewöhnlich nahe und kann deren zutiefst humanitäre Weltsicht eindringlich vermitteln. Frank Brenner

Die Kairo-Verschwörung

Die Kairo-Verschwörung

SW/F/FIN/DK 2022, R: Tarik Saleh, D: Tawfeek Barhom, Fares Fares, Mohammad Bakri, 126 min

Adam wächst als Sohn eines einfachen Fischers in der ägyptischen Provinz heran. Doch es zieht ihn weg von dem strengen, gottesfürchtigen Zuhause. Als er ein Stipendium für die al-Azhar-Universität in Kairo erhält, sieht er seine Gelegenheit gekommen. Fasziniert und überfordert durchstreift er den Campus und versucht, die komplexen Strukturen im Machtzentrum des sunnitischen Islam zu durchschauen. Sein Kommilitone Zizo zeigt ihm die Welt außerhalb der altehrwürdigen Mauern. Doch als Adam mit ansieht, wie Zizo brutal ermordet wird, gerät der junge Student zwischen die Fronten eines Machtkampfs. Der Groß-Imam ist tot, ein neues religiöses Oberhaupt soll gewählt werden und jede Partei versucht die Wahl zu beeinflussen. Die Strukturen aus Regierung und religiösen Führern in Ägypten sind komplex und wirken im ersten Moment überfordernd. Durch die Augen des Protagonisten wird aber auch das Publikum mit fortschreitender Lauflänge des Films hineingezogen. Hauptdarsteller Tawfeek Barhom bietet dabei eine willkommene Projektionsfläche für uns. Seine Perspektive erinnert an die des jungen Novizen in Umberto Ecos »Der Name der Rose«, eingangs unbedarft und unschuldig, aber am Ende erwachsen. Die dichte Inszenierung des schwedischen Regisseurs Tarik Saleh (»Die Nile-Hilton-Affäre«) macht den Gewinner des Drehbuchpreises in Cannes zu einem spannenden und außergewöhnlichen Politthriller. Lars Tunçay

Infinity Pool

Infinity Pool

CDN/F/HUN 2022, R: Brandon Cronenberg, D: Alexander Skarsgård, Mia Goth, Adam Boncz, 117 min

Dass Brandon Cronenberg Sohn der Horror-Legende David Cronenberg ist, war bereits bei seinem Erstling »Possessor« spürbar. War das Debüt noch subtil und doppelbödig mit gelegentlichen Schockmomenten, ist sein neuer Film nun ein Angriff auf alle Sinne und die Mägen des Publikums. Dabei beginnt alles noch recht situiert und gediegen: Der Autor James Foster hat vor Jahren einen mittelprächtigen Roman geschrieben und wartet seitdem auf eine Eingebung für den Nachfolger. Solange lässt er sich von seiner reichen Frau Em aushalten. Zur Inspiration reist er mit ihr in ein Urlaubsresort auf der (fiktiven) Insel La Tolqa. Das vermeintliche Ferienparadies ist ein abgeriegelter Hochsicherheitstrakt der langweiligen Glückseligkeit, das Verlassen der Mauern strikt verboten. Als sie das Paar Gabi und Alban kennenlernen, hält es James und Em jedoch nicht lange auf den Liegestühlen. Auf dem Rückweg von der Spritztour überfährt der angetrunkene James in der Dunkelheit einen Bauern und landet in einer Zelle. Der Polizist Thresh offenbart ihm, dass es auf der Insel Tradition ist, ein Leben für ein Leben zu bezahlen. James könne sich allerdings freikaufen und ein eigens dafür geschaffener Klon übernimmt seine Strafe. Mit dem moralischen Grenzübertritt beginnt eine Spirale, die tief in die Abgründe der menschlichen Natur führt und dank Cronenberg-DNA in einem Strudel aus Blut, Schweiß und Sperma endet. Hauptdarsteller Alexander Skarsgård lotet dabei (mal wieder) furchtlos alle schauspielerischen Limits aus. Lars Tunçay

Suzume

Suzume

J 2022, R: Makoto Shinkai, 122 min

In Japan wird gerade über die Thronfolge entschieden. Der 82-jährige Großmeister der Animation, Hayao Miyazaki, nimmt seinen Hut und wird mit »How do you live?« im Juli seinen letzten Film veröffentlichen. Vor allem Makoto Shinkai (»Your Name«) hat sich in den letzten Jahren darangemacht, das Erbe anzutreten. Mit seinem neuen Werk legt er nun eine tiefe Verneigung vor Miyazaki-San hin. So ist es sicherlich nicht nur der geografischen Lage im tiefsten Südosten der japanischen Insel geschuldet, dass die Reise von Suzume in einer kleinen Stadt in der Präfektur Miyazaki beginnt. Hier trifft das 17-jährige Mädchen auf den mysteriösen Sota, der sie in ein irrwitziges Abenteuer hineinzieht, das sie quer durchs Land führen wird. Auch das verheerende Erdbeben von 2011 spielt eine nicht unwesentliche Rolle bei der Inspiration zur Geschichte. »Suzume« feierte seine Premiere im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale. Vor 20 Jahren gewann dort »Chihiros Reise« den Goldenen Bären und im Anschluss den Oscar. Eine große Ehre also, dessen ist sich Makoto Shinkai bewusst. Die Zitate aus Klassikern wie »Kikis kleiner Lieferservice« oder »Das wandelnde Schloss« sind unübersehbar. Trotzdem ist »Suzume« alles andere als ein Abklatsch. Shinkai lässt seine eigene Fantasie von der Leine und nimmt sich die Stärken der Ghibli-Produktionen zum Vorbild. Das geht auf: »Suzume« wurde in seiner Heimat zum Hit und wird auch hierzulande die Japan-Fans begeistern. Lars Tunçay

Roter Himmel

Roter Himmel

D 2023, R: Christian Petzold, D: Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, 102 min

Der Wald, der Sommer, ein alter Mercedes. Zwei Menschen treiben dahin, raus aus der Zivilisation, hinein in die Abgeschiedenheit. Sie sind schon ein ziemlich seltsames Paar: Leon und Felix haben völlig ungleiche Anforderungen an das Leben. Während Felix den Sommer genießen und vor allem am Strand abhängen will, um sich Inspiration für seine Fotoarbeit zu suchen, steht Leon unter Druck. Der junge Autor hat gerade sein Manuskript fertiggestellt. In ein paar Tagen kommt der Lektor vom Verlag, um mit ihm darüber zu reden. Doch als die beiden an dem kleinen Haus auf der Lichtung ankommen, sind sie nicht allein: Nadja teilt die Hütte mit ihnen und vergnügt sich in den Nächten mit Devid, dem »Bademeister«. Noch bevor Leon und Nadja sich das erste Mal begegnen, hat er eine Vorstellung von ihr und lässt sich nur unter Protest von seinen Vorurteilen abbringen. Ein schwieriger Charakter, der sich fast kindisch dagegen wehrt, glücklich zu sein. Für ihn ist es der Sommer an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der erste Roman ging ihm überraschend leicht von der Hand, doch diese Leichtigkeit ist ihm abhandengekommen. Leon ist festgefahren in seinem Weltbild. Kein anderer deutscher Regisseur vermag es, die Widersprüche der menschlichen Natur so pointiert zu beobachten wie Christian Petzold (»Barbara«). Einnehmend leicht und mühelos breitet er die Figuren vor uns aus. Am Horizont lodern die Flammen in der Hitze des brandenburgischen Sommers und drohen die Welt zu verschlingen. Lars Tunçay